Hellsehen

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Rudolf Steiner

Hellsehen (frz. Clairvoyance) bezeichnet ganz allgemein die Fähigkeit zur nicht-sinnlichen Wahrnehmung, d.h. zur Geistesschau im weitesten Sinn. Menschen, die diese Fähigkeit besitzen, werden Hellseher – oder kurz Seher – genannt. Das Hellsehen in dem von Rudolf Steiner gemeinten Sinn richtet sich auf die Wahrnehmung der höheren übersinnlichen Welten. Das moderne Hellsehen beruht auf der geschulten Fähigkeit zur Imagination, bei der er es sich, anders als beim alten traumartigen Hellsehen, um eine vollbewusste rein seelisch-geistige Wahrnehmung handelt. Dazu zählt insbesondere auch das Lesen in der Akasha-Chronik, dem geistigen Weltgedächtnis, bei dem man allerdings nicht unmittelbar die äußeren sinnlichen Ereignisse schaut, sondern die geistigen Urbilder, aus denen sie hervorgegangen sind.

Die Imagination unterscheidet sich von der Vision, bei der imaginativ wahrgenommene geistige Erscheinungen in der astralen Welt unbewusst in das sinnliche Tagesbewusstsein hinübergetragen und unmittelbar versinnlicht werden. Durch das gesteigerte sinnlichkeitsfreie imaginative Bewusstsein, das heller ist als das normale Alltagsbewusstsein, ist auch eine Verwechslung mit bloßen Phantasiegebilden, willkürlichen Vorstellungen oder gar Halluzinationen ausgeschlossen. Die hellseherische Fähigkeit ist um so höher und reiner entwickelt, je höhere Weltbereiche dadurch rein übersinnlich wahrgenommen werden können. Die Imagination unterscheidet sich zudem von der außersinnlichen Wahrnehmung, wie sie auch in der Parapsychologie untersucht wird. Diese kann sich, wie das etwa bei Swedenborg der Fall war, auf gleichzeitig, aber weit entfernt stattfindende, aber auch auf vergangene oder künftige physische Ereignisse beziehen, wobei man in letzterem Fall von Präkognition spricht.

Die Evolution des menschlichen Bewusstseins

Ein tieferes Verständnis für das heute vielen Menschen mit gewissem Recht anrüchig erscheinende Phänomen des Hellsehens wird man nur gewinnen, wenn man ins Auge fasst, dass das menschliche Bewusstsein nicht immer so war, wie wir es heute kennen. So wie sich der menschliche Leib erst im Lauf einer Jahrmillionen währenden Evolution zu seiner heutigen Form entwickelt hat, so hat sich auch das menschliche Bewusstsein im Zug der Menschheitsentwicklung entscheidend verändert. Während die Paläontologie versucht, die Entwicklung des modernen menschlichen Leibes aus mehr oder weniger spärlichen fossilen Funden zu rekonstruieren, sind wir bezüglich des Bewusstseins insofern in einer besseren Lage, weil ältere Formen des Bewusstseins heute noch bis zu einem gewissen Grad unserem unmittelbaren Erleben zugänglich sind, wenn auch nur in erheblich modifizierter Form. Neben dem modernen Wachbewusstsein, das sich durch die moderne Subjekt-Objekt-Spaltung in ein Gegenstandsbewusstsein und in das Ich-Bewusstsein auseinanderlegt, kennen wir auch noch das Traumbewusstsein und das traumlose Schlafbewusstsein. Letzteres ist allerdings so dumpf, dass wir es nur indirekt durch die Abwesenheit jeglichen bewussten Erlebens erfahren. Hier haben wir es mit dem scheinbaren Paradoxon eine „unbewussten Bewusstseins“ bzw. mit einem Unterbewusstsein zu tun. Dass dieses aber dennoch einen wesentlichen Einfluss auf unser Leben hat, lehrt uns nicht zuletzt die Tiefenpsychologie. Eine noch schwerer zugängliche Bewusstseinsform ist das Trancebewusstsein, wie es gelegentlich bei medial veranlagten Personen in Erscheinung treten kann. Das alte Hellsehen, über das die Menschheit lange verfügte, wurzelt in diesen alten Bewusstseinsformen. Sie verbindet, dass ihnen das klare Ich-Bewusstsein mangelt.

Die künftige Weiterentwicklung seine Leibes kann der Mensch nur wenig beeinflussen. Ganz anders steht es heute um das Bewusstsein. Dieses kann der Mensch, wenn er das will, aus seinem vollem Ich-Bewusstsein heraus durch eine entsprechende Geistesschulung aktiv weiterentwickeln. Darauf gründet sich die oben schon angedeutete Fähigkeit der Imagination, die ein besonnenes, mit der klaren Einsicht des vollen Ich-Bewusstseins verbundenes neues Hellsehen ermöglicht.

„Nun ist schon öfters darauf hingewiesen worden und wird noch weiter ausgeführt werden, daß die Entwickelung des menschlichen Bewußtseins so geschehen ist, daß traumhafte, hellseherische - das Wort soll hier nicht so mißbraucht werden, wie es auf vielen Gebieten heute der Fall ist — Zustände in alten Zeiten die Bewußtseinszustände des eigentlichen normalen Menschen waren, so daß der Mensch nicht so die Welt in Begriffen und Ideen, in streng umgrenzten sinnlichen Wahrnehmungen gesehen hat, wie er sie heute sieht. Man bekommt am besten ein Bild davon, wie der Mensch in Urzeiten die Welt um sich herum in sein Bewußtsein aufgenommen hat, wenn man an die letzten Reste des alten Urbewußtseins denkt: an das Traumbewußtsein. Jedem sind die auf- und ab wogenden, heute zum größten Teil für das menschliche Bewußtsein sinnlosen Traumbilder bekannt, die oft nur Reminiszenzen der äußeren Welt sind, obwohl auch höhere Bewußtseinsarten hineinragen können, die aber der heutige Mensch schwer zu deuten versteht. Das Traumbewußtsein — können wir sagen — verläuft bildhaft, in schnell wechselnden Bildern, aber zu gleicher Zeit symbolisch. Wer würde nicht erfahren haben, wie der Eindruck, das ganze Ereignis eines Feuers sich, sinnbildlich im Traume offenbart? Lenken Sie einmal den Blick auf dieses andersartige Bewußtsein, auf diesen andersartigen Bewußtseinshorizont, wie er im Traume vorhanden ist; so wie er da vorhanden ist, ist er nur der letzte Rest eines uralten Menschheitsbewußtseins. Aber dieses uralte Bewußtsein war so, daß der Mensch in der Tat in einer Art von Bildern lebte. Diese Bilder bezogen sich nicht auf Unbestimmtes oder auf nichts, sondern auf eine reale Außenwelt. Es gab in den Bewußtseinszuständen der alten Menschheit zwischen Wachen und Schlafen Zwischenzustände, und in diesen Zwischenzuständen lebte der Mensch gegenüber der geistigen Welt. Diese geistige Welt kam herein in sein Bewußtsein. Heute ist das Tor der geistigen Welt gegenüber dem normalen Menschenbewußtsein verschlossen. In alten Zeiten war dies nicht so. Da hatte der Mensch die Zwischenzustände zwischen Wachen und Schlafen; dann sah er in Bildern, die zwar den Traumbildern ähnlich waren, aber eindeutig geistiges Wesen und geistiges Weben darstellten, wie es hinter der physisch-sinnlichen Welt ist. So daß der Mensch in alten Zeiten wirklich - wenn auch zu Zarathustras Zeiten schon ziemlich undeutlich und unbestimmt - dennoch aber eine unmittelbare Beobachtung und Erfahrung der geistigen Welt hatte und sagen konnte: Ebenso wie ich die äußere physische Welt und das sinnliche Leben sehe, ebenso weiß ich, daß es Erfahrungen und Beobachtungen eines anderen Bewußtseinszustandes gibt, daß eine andere Welt, eine geistige, dem Sinnlichen zugrunde liegt.

Der Sinn der Menschheitsentwickelung besteht darin, daß von Epoche zu Epoche immer geringer und geringer die Fähigkeit des Menschen wurde, hineinzuschauen in die geistige Welt, weil sich die Fähigkeiten so entwickeln, daß immer die eine auf Kosten der anderen erkauft werden muß. Unser heutiges exaktes Denken, unser Vorstellungsvermögen, unsere Logik, alles, was wir als die wichtigsten Triebräder unserer Kultur bezeichnen, war damals nicht vorhanden. Das mußte sich der Mensch erst in jener Epoche, die auch schon die unsrige ist, auf Kosten des alten hellseherischen Bewußtseinszustandes erkaufen. Das hat der Mensch heute auszubilden. Und in der zukünftigen Menschheitsentwickelung wird dann zu dem rein physischen Bewußtsein mit der Intellektualität und der Logik wieder hinzukommen der alte Hellseherzustand. Ein Abstieg und ein Aufstieg ist also in bezug auf das menschliche Bewußtsein zu unterscheiden. Ein tiefer Sinn liegt in der Entwickelung, wenn wir sagen: Der Mensch lebte erst mit seinem ganzen Seelenleben noch in einer geistigen Welt drinnen, stieg dann herunter in die physische Welt und mußte dazu das alte hellseherische Bewußtsein aufgeben, damit er sich in Anlehnung an die physische Welt — erzogen durch die rein physische Welt - die Intellektualität, die Logik aneignen konnte, um dann in der Zukunft wieder hinaufzusteigen in die geistige Welt.“ (Lit.:GA 60, S. 255ff)

Erkenntnistheoretische Grundlage

Johann Gottlieb Fichte
Friedrich Wilhelm Schelling, Gemälde von Joseph Karl Stieler, 1835
Johann Wolfgang von Goethe,
Idealisierendes Ölgemälde von Joseph Karl Stieler, 1828
Signatur
Signatur
Rudolf Steiner, Urpflanze, Aquarell 1924
Wolfgang Pauli 1945

Ausgangspunkt des modernen selbstbewussten Hellsehens ist für Steiner die Beobachtung des Denkens, d. h. die intellektuelle Anschauung der eigenen Denktätigkeit, durch die sich das Ich seiner selbst, unabhängig von der physischen Organisation, als rein geistige Wesenheit bewusst wird. Steiner knüpft damit unmittelbar an die Philosophie des deutschen Idealismus an, namentlich an Fichte und Schelling. Am 13. Januar 1881, 12 Uhr mitternachts, schrieb er diesbezüglich an seinen Jugendfreund Josef Köck:

„Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis ½ 1 Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: «Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.» Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben - geahnt habe ich es ja schon längst —; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund!“ (Lit.:GA 38, S. 13)

Eine weitere wichtige, anders geartete Grundlage für Steiner bildete Goethes auf die sinnlich-übersinnliche Anschauung der Natur gerichtete «Anschauende Urteilskraft», die diesen bis zum Erleben der Urpflanze geführt hatte. Sie ist das ideelle Urbild, die begriffliche und zugleich anschauliche Urgestalt, aus der man sich alle Pflanzenarten durch Abwandlung hervorgegangen denken kann.

„Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.“ (Lit.: Goethes Werke WA, S. 203 und 204)

Goethe geht von der sinnlichen Anschauung aus und endet bei der intellektuellen Anschauung, die sich mit, aus und durch die sinnliche Wahrnehmung offenbart. Den unmittelbaren Sinneseindrücken widmete er seine volle Aufmerksamkeit; sein Denken entfernte sich niemals weit von der unmittelbaren Anschauung, ebenso wie sein Anschauen niemals gedankenlos war. Er schreibt dazu in seinem Aufsatz Bedeutende Förderung durch ein einziges geistreiches Wort:

„Herr Dr. Heinroth in seiner Anthropologie ... spricht von meinem Wesen und Wirken günstig, ja er bezeichnet meine Verfahrungsart als eine eigentümliche: daß nämlich mein Denkvermögen gegenständlich tätig sei, womit er aussprechen will, daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei, welchem Verfahren genannter Freund seinen Beifall nicht versagen will.“ (Lit.: Goethes Werke, S 77)

Goethe kannte nur eine Quelle der Erkenntnis, die Erfahrungswelt, in der die objektive Ideenwelt mit eingeschlossen ist. Die Urpflanze erschließt sich nicht dem diskursiven, logisch ableitenden Denken, sondern nur der unmittelbaren intuitiven intellektuellen Anschauung. Ein derartiges Vermögen hatte Immanuel Kant dem Menschen abgesprochen. Dem widersprach Goethe energisch:

„Als ich die Kantische Lehre, wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch, in dem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete. Er mochte freilich bemerkt haben, wie anmaßend und naseweis der Mensch verfährt, wenn er behaglich, mit wenigen Erfahrungen ausgerüstet, sogleich unbesonnen abspricht und voreilig etwas festzusetzen, eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den Gegenständen aufzuheben trachtet. Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine reflektierende diskursive Urteilskraft, untersagt ihm eine bestimmende ganz und gar. Sodann aber, nachdem er uns genugsam in die Enge getrieben, ja zur Verzweiflung gebracht, entschließt er sich zu den liberalsten Äußerungen und überläßt uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen wollen, die er einigermaßen zugesteht. In diesem Sinne war mir folgende Stelle höchst bedeutend:

«Wir können uns einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besondern geht, das ist, von dem Ganzen zu den Teilen: Hierbei ist gar nicht nötig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte.»

Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen: so dürft' es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen.“ (Lit.: Goethes Werke, S 91)

Der österreichische Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli (1900–1958) hat dieses archetypische Denken in einem Brief vom 7. Januar 1948 an den Physiker Markus Fierz sehr treffend so beschrieben:

„Mein Ausgangspunkt ist, welches die Brücke sei zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Begriffen. Zugestandenermaßen kann die Logik eine solche Brücke nicht geben oder konstruieren. Wenn man die vorbewußte Stufe der Begriffe analysiert, findet man immer Vorstellungen, die aus "symbolischen" Bildern mit im allgemeinen starkem emotionalen Gehalt bestehen. Die Vorstufe des Denkens ist ein malendes Schauen dieser inneren Bilder, deren Ursprung nicht allein und nicht in erster Linie auf die Sinneswahrnehmungen (des betreffenden Individuums) zurückgeführt werden kann, sondern die durch einen "Instinkt des Vorstellens" produziert und bei verschiedenen Individuen unabhängig, d. h. kollektiv reproduziert werden... Der frühere archaisch-magische Standpunkt ist nur ein klein wenig unter der Oberfläche; ein geringes abaissement du niveau mental genügt, um ihn völlig "nach oben" kommen zu lassen. Die archaische Einstellung ist aber auch die notwendige Voraussetzung und die Quelle der wissenschaftlichen Einstellung. Zu einer vollständigen Erkenntnis gehört auch diejenige der Bilder, aus denen die rationalen Begriffe gewachsen sind.

Nun kommt eine Auffassung, wo ich vielleicht mehr ein Platonist bin als die Psychologen der Jungschen Richtung. Was ist nun die Antwort auf die Frage nach der Brücke zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Begriffen, die sich uns nun reduziert auf die Frage nach der Brücke zwischen den äußeren Wahrnehmungen und jenen inneren bildhaften Vorstellungen. Es scheint mir - wie immer man es auch dreht, ob man vom "Teilhaben der Dinge an den Ideen" oder von "an sich realen Dingen" spricht - es muß hier eine unserer Willkür entzogene kosmische Ordnung der Natur postuliert werden, der sowohl die äußeren materiellen Objekte als auch die inneren Bilder unterworfen sind. (Was von beiden historisch das frühere ist, dürfte sich als eine müßige Scherzfrage erweisen - so etwa wie "Was war früher: das Huhn oder das Ei?") Das Ordnende und Regulierende muß jenseits der Unterscheidung von physisch und psychisch gestellt werden - so wie Platos "Ideen" etwas von "Begriffen" und auch etwas von "Naturkräften" haben (sie erzeugen von sich aus Wirkungen). Ich bin sehr dafür, dieses "Ordnende und Regulierende" "Archetypen" zu nennen; es wäre aber dann unzulässig, diese als psychische Inhalte zu definieren. Vielmehr sind die erwähnten inneren Bilder ("Dominanten des kollektiven Unbewußten" nach Jung) die psychische Manifestation der Archetypen, die aber auch alles naturgesetzliche im Verhalten der Körperwelt hervorbringen, erzeugen, bedingen müßten. Die Naturgesetze der Körperwelt wären dann die physikalische Manifestation der Archetypen.

Zu dieser Auffassung paßt sowohl Ihr Vorschlag, die Physik und Psychologie als komplementäre Betrachtungsweisen (bzw. Untersuchungsrichtungen) aufzufassen, als auch die eigentümliche Psychologie der Alchemie (die als archaische Stufe vor der eigentlichen Wissenschaft sehr aufschlußreich ist) so wie noch einiges Andere. Es sollte dann jedes Naturgesetz eine Entsprechung innen haben und umgekehrt, wenn man auch heute das nicht immer unmittelbar sehen kann.“ (Lit.: Meyenn, S. 496)

Genau diese «Brücke zwischen den Sinneswahrnehmungen und den Begriffen», von der Pauli spricht, hat Steiner in seinen philosophischen Grundlagenwerken geschlagen. Voraussetzung dafür ist ein reines Denken, das nicht mehr an den Leib gebunden ist.

„Indem man so das Denken emanzipiert von seinem Leiblichen, erlebt, fühlt man sich selbst so, wie wenn einem das eigene Denken entrissen würde, wie wenn es im Raume und in der Zeit sich ausweitete und ausbreitete. Das Denken, von dem wir sonst sagen: Es verläuft in uns - , identifiziert sich mit der umgebenden geistigen Welt, strömt in dieselbe hinein und erlangt gegenüber uns selbst eine Selbständigkeit, die wir vergleichen können mit der annähernden Selbständigkeit, die im physischen Leibe zum Beispiel das Auge hat, das als eine Art selbständiges Organ in seiner Höhle drinnensitzt. So ist das nun selbständige Denken zwar mit dem erhöhten Selbst verbunden, aber so selbständig, daß es wie das geistige Wahrnehmungsorgan für das Denken und Fühlen der anderen geistigen Wesenheiten wirkt, so wie das Auge für das Wahrnehmen der sinnlichen Farbe und des sinnlichen Lichtes wirkt. Man kommt allmählich dazu, zu sehen, daß sich das Denken, das sonst in der Intelligenz beschlossen ist, wie ein geistiges Wahrnehmungsorgan verselbständigt gegenüber unserer eigenen Wesenheit.

Ich kann das, was ich eben dargestellt habe, auch in anderen Worten sagen. Dasjenige, was man wirklich subjektiv erlebt, das, was die Intelligenz umschließt, das äußere Denken, sind schattenhafte Wesenheiten, eben Gedankenwesenheiten, bloß Gedanken, die abbilden äußere Wesenheiten. Indem das Denken hellsichtig wird, sich absondert von Gehirn und Nervensystem, beginnt es, innere Regsamkeit, Eigenleben zu entwickeln und strömt als eigenes Erleben in die übrige geistige Welt hinaus. Die Fühlhörner des Denkens - ich muß es etwas grob ausdrücken - , des hellsichtig gewordenen Denkens, strecken wir hinaus in die geistige Welt, und sie nehmen im Untertauchen wahr das fühlende Wollen, das wollende Fühlen der anderen Wesen, die um uns sind auf dem geistigen Felde.“ (Lit.:GA 154, S. 119)

„Aus meinen getanen Äußerungen geht hervor, daß das selbständig gewordene Denken gleichsam das geistige Auge wird für die Wahrnehmung der geistigen Außenwelt. Allerdings zeigt sich vor der hellsichtigen Forschung, die dieses geistige Auge zu dem, was hellsichtiges Denken ist, gebraucht, daß dieses geistige Auge ein aktives, ein tätiges ist, daß die geistigen Fühlhörner sich überall hin ausstrecken, während das physische Auge ein passives ist, das die Eindrücke passiv an sich herankommen läßt. Hat daher der Geistesforscher in seine Gedanken die Offenbarungen der geistigen Welt aufgenommen, dann leben sie in den Gedanken darinnen. Und versucht er dann dasjenige, was er sich bemüht hat, in seine lebenden Gedanken hineinzubringen, seinen Mitmenschen mitzuteilen, so ist es den Mitmenschen möglich, ihn zu verstehen, ihn zu begreifen, wenn sie sich diese Wege, ihn zu verstehen, nur nicht durch materialistische Vorurteile verlegen lassen.“ (Lit.:GA 154, S. 121)

Denken und Imagination

Hellsehen beruht auf der Fähigkeit zur Imagination, dem „malenden Schauen innerer Bilder“, durch die sich die Wirklichkeit in archetypischen Sinnbildern offenbart. Das Sehen bezeichnet dabei nur einen besonders hervorstechenden Aspekt des Hellsehens, die Clairvoyance kann sich auch in andere astrale Sinnesqualitäten kleiden, so dass man auch vom Hellhören, Hellfühlen usw., ja insbesondere sogar vom Hellschmecken sprechen kann. Das Hellsehen ist dabei scharf zu unterscheiden von der Halluzination, bei der eine sinnliche Wahrnehmung erregt bzw. vorgetäuscht wird, ohne dass dazu ein entsprechender äußerer Reiz vorhanden ist. Auch Visionen, die aus zurückgebliebenen Resten des alten Hellsehens entspringen, unterscheiden sich deutlich von den zeitgemäßen Formen der geistigen Wahrnehmung. Ähnlich wie bei Traumbildern ist das Erleben hier noch sehr stark an den Leib gebunden. Beim modernen Hellsehen ist diese Bindung an den Leib weitgehend überwunden. Es kann sich daher frei auf die geistige Außenwelt richten.

„Die berechtigten Bedenken, welche das gewöhnliche Bewußtsein gegen die Geistesforschung zunächst erheben muß, sind außer vielem andern noch die folgenden. Man kann sich die Ergebnisse dieser Forschung ansehen (wie sie in der gegenwärtigen Literatur vorliegen) und kann sagen: Ja, was ihr da beschreibt als Inhalt der übersinnlichen Erkenntnis, erweist sich doch bei näherem Zusehen als nichts anderes denn als Kombinationen der gewöhnlichen aus der Sinnenwelt gekommenen Vorstellungen. — Und so ist es in der Tat. (Auch in den Darstellungen der höheren Welten, welche ich selbst in meiner «Theosophie» und in meiner «GeheimWissenschaft» geben durfte, findet man, wie es scheint, nichts als Kombinationen der aus der Sinnenwelt genommenen Vorstellungen. So wenn die Entwickelung der Erde durch Kombinationen von Wärme-, Licht- und so weiter Entitäten dargestellt wird.) — Dagegen aber muß folgendes gesagt werden. Wenn der Geistesforscher seine Erlebnisse zum Ausdruck bringen will, so ist er genötigt, das in einer übersinnlichen Sphäre Erlebte durch die Mittel des sinnlichen Vorstellens darzustellen. Sein Erleben ist dann nicht aufzufassen, wie wenn es gleich wäre seinen Ausdrucksmitteln, sondern so, daß er sich dieser Ausdrucksmittel nur bedient wie der Worte einer ihm notwendigen Sprache. Man muß den Inhalt seines Erlebens nicht in den Ausdrucksmitteln, das heißt, in den versinnlichenden Vorstellungen suchen, sondern in der Art, wie er sich dieser Ausdrucksmittel bedient. Der Unterschied seiner Darstellung von einem phantastischen Kombinieren sinnlicher Vorstellungen liegt in der Tat nur darin, daß phantastisches Kombinieren der subjektiven Willkür entspringt, die Darstellung des Geistesforschers aber auf dem durch Übung erlangten Einleben in die übersinnliche Gesetzmäßigkeit beruht. Hier aber ist auch der Grund zu suchen, warum die Darstellungen des Geistesforschers so leicht mißverstanden werden können. Es kommt nämlich bei ihm wirklich weniger darauf an, was er sagt, sondern wie er spricht. In dem «Wie» liegt der Abglanz seiner übersinnlichen Erlebnisse.“ (Lit.:GA 35, S. 127ff)

Für das moderne vollbewusste Hellsehen ist streng zu beachten, dass das imaginativ „Geschaute“ durchaus unsichtbar, das „Gehörte“ völlig unhörbar ist, da es sich eben nicht um eine sinnliche, sondern um eine durch die eigene geistige Tätigkeit aktiv und bewusst hervorgebrachte, aber inhaltlich vollkommen durch sich selbst bestimmte, rein übersinnliche Wahrnehmung handelt. Da aber beim irdisch verkörperten Menschen die Leibestätigkeit und insbesondere die Sinnessphäre auch heute noch immer leise mitschwingt, ist es dennoch ganz natürlich und sachgemäß, das imaginativ Erlebte in sinnlichen Ausdrücken zu beschreiben:

„Man wird nun finden, daß diejenigen Menschen, welche übersinnliche Beobachtungen machen können, dasjenige, was sie schauen, so beschreiben, daß sie sich der Ausdrücke bedienen, welche den sinnlichen Empfindungen entlehnt sind. So kann man den elementarischen Leib eines Wesens der Sinnenwelt, oder ein rein elementarisches Wesen so beschrieben finden, daß gesagt wird, es offenbare sich als in sich geschlossener, mannigfaltig gefärbter Lichtleib. Es blitze in Farben auf, glimmere oder leuchte und lasse bemerken, daß diese Farben- oder Lichterscheinung seine Lebensäußerung sei. Wovon der Beobachter da eigentlich spricht, ist durchaus unsichtbar, und er ist sich dessen bewußt, daß mit dem, was er wahrnimmt, das Licht- oder Farbenbild nichts anderes zu tun hat, als etwa die Schrift, in welcher eine Tatsache mitgeteilt wird, mit dieser Tatsache selbst. Dennoch hat man nicht etwa bloß ein Übersinnliches in willkürlicher Art durch sinnliche Empfindungsvorstellungen ausgedrückt; sondern man hat während der Beobachtung das Erlebnis wirklich gemacht, das einem Sinneseindruck ähnlich ist. Es kommt dies davon her, daß im übersinnlichen Erleben die Befreiung von dem sinnlichen Leibe keine vollkommene ist. Dieser lebt mit dem elementarischen Leibe doch noch mit und bringt das übersinnliche Erlebnis in eine sinnliche Form. Die Beschreibung, die man so gibt von einer elementarischen Wesenheit, ist dann tatsächlich so gehalten, daß sie sich wie eine visionäre, oder phantastische Zusammenstellung von Sinneseindrücken zeigt. Wenn die Beschreibung so gegeben wird, dann ist sie trotzdem die wahre Wiedergabe des Erlebten. Denn man hat geschaut, was man schildert. Der Fehler, der gemacht werden kann, liegt nicht darin, daß man das Bild als solches schildert. Es liegt ein Fehler erst dann vor, wenn man das Bild für die Wirklichkeit hält, und nicht dasjenige, auf was das Bild, als auf die ihm entsprechende Wirklichkeit, hindeutet.

Ein Mensch, welcher niemals Farben wahrgenommen hat - ein Blindgeborener - wird, wenn er sich die entsprechende Fähigkeit erwirbt, elementarische Wesenheiten nicht so beschreiben, daß er sagt, sie blitzen als Farbenerscheinungen auf. Er wird sich derjenigen Empfindungsvorstellungen zum Ausdrucke bedienen, welche ihm gewohnt sind. Für die Menschen aber, welche sinnlich sehen können, ist eine Schilderung durchaus geeignet, welche sich etwa des Ausdruckes bedient, es blitzte eine Farbengestalt auf. Sie können dadurch sich die Empfindung von dem bilden, was der Beobachter der elementarischen Welt geschaut hat. Und das gilt nicht etwa nur für Mitteilungen, welche ein Hellsichtiger - es sei ein Mensch so genannt, der durch seinen elementarischen Leib beobachten kann - einem Nicht-Hellsichtigen macht, sondern auch für die Verständigung der Hellsichtigen untereinander. In der Sinnenwelt lebt der Mensch eben in seinem sinnlichen Leib, und dieser kleidet ihm die übersinnlichen Beobachtungen in Sinnesformen ein; daher ist innerhalb des menschlichen Erdenlebens der Ausdruck der übersinnlichen Beobachtungen durch die von ihnen erzeugten Sinnesbilder denn doch zunächst eine brauchbare Art der Mitteilung.

Es kommt darauf an, daß derjenige, welcher eine solche Mitteilung empfängt, in seiner Seele ein Erlebnis hat, welches zu der in Betracht kommenden Tatsache in dem richtigen Verhältnisse steht. Die sinnlichen Bilder werden nur mitgeteilt, damit durch sie etwas erlebt wird. So wie sie sich darbieten, können sie nicht in der Sinnenwelt vorkommen. Das ist eben ihre Eigentümlichkeit. Und deswegen rufen sie auch Erlebnisse hervor, die sich auf nichts Sinnliches beziehen.“ (Lit.:GA 16, S. 32ff)

„In meiner «Theosophie» finden Sie, daß man das Seelische in Form einer Art Aura sieht. Sie wird in Farben beschrieben. Grobklotzige Menschen, die nicht weiter eingehen auf die Sachen, sondern selbst Bücher schreiben, die glauben, daß der Seher die Aura schildert, sie beschreibt, indem er die Meinung hat, daß da wirklich so ein Nebeldunst vor ihm ist. Was der Seher vor sich hat, ist ein geistiges Erlebnis. Wenn er sagt, die Aura ist blau, so sagt er, er hat ein seelisch-geistiges Erlebnis, das so ist, als wenn er blau sehen würde. Er schildert überhaupt alles das, was er in der geistigen Welt erlebt und was analog ist dem, was in der sinnlichen Welt an den Farben erlebt werden kann.“ (Lit.:GA 271, S. 185)

Die ersten Wahrnehmungen, die man in der übersinnlichen Seelenwelt macht, bestehen aus reich differenzierten Sympathien und Antipathien, die mit den Wesen verbunden sind, die man hier schaut.

„Beim Eintritt in die übersinnliche Welt ist einer der ersten Wahrnehmungseindrücke der, daß man sich durch sein in diese Welt hinaufgehobenes Selbstbewußtsein in Sympathien und Antipathien mit den Wesenheiten dieser Welt verbunden schaut. (Vgl. S. 54 ff. dieser Schrift.) Man bemerkt bereits an den dadurch gemachten Erlebnissen, daß man auch mit Bezug auf sein Vorstellen die sinnliche Welt verlassen muß, wenn man in die übersinnliche wirklich eintreten will. Man kann, was man im Übersinnlichen schaut, wohl beschreiben durch Vorstellungen, die aus der sinnlichen Welt genommen sind. Man kann zum Beispiel sprechen davon, daß ein Wesen wie durch eine Farbenerscheinung sich offenbare. Allein, wer solche Beschreibungen des übersinnlich Wesenhaften entgegennimmt, sollte nie außer acht lassen, daß der wirkliche Geistesforscher mit der Angabe einer solchen Farbe meint: er erlebe etwas, was von ihm seelisch so erfahren wird, wie die Wahrnehmung der betreffenden Farbe durch das sinnliche Bewußtsein. Wer mit seiner Schilderung zum Ausdruck bringen will: er habe vor dem Bewußtsein etwas, das gleich ist der sinnlichen Farbe, der ist nicht ein Geistesforscher, sondern ein Visionär oder ein Halluzinierender. Aber mit den Erlebnissen der Sympathie und Antipathie hat man die ersten übersinnlichen Wahrnehmungseindrücke der übersinnlichen Welt wirklich vor sich. - Es gibt Menschen, die gerade dadurch enttäuscht sind, daß der Geistesforscher ihnen sagen muß, wenn er sich durch Vorstellungen ausspricht, die vom sinnlichen Erleben hergenommen sind, so meine er nur Veranschaulichungen des von ihm Geschauten. Denn solche Menschen streben eigentlich nicht darnach, eine von der sinnlichen unterschiedene übersinnliche Welt kennenzulernen, sondern sie wollen eine Art Doppelgänger der sinnlichen als übersinnliche Welt anerkennen. Diese übersinnliche soll feiner, «ätherischer » sein als die sinnliche; aber im übrigen soll sie nur ja nicht die Anforderung erheben, auch durch andere Vorstellungen ergriffen werden zu müssen als die sinnliche. Wer aber wirklich der geistigen Welt sich nähern will, der muß sich auch dazu bequemen, neue Vorstellungen zu erwerben. Wer nur ein verdünntes, dunstartiges Abbild der sinnlichen Welt vorstellen will, der kann die übersinnliche nicht erfassen.“ (Lit.:GA 17, S. 97f)

Hellsichtigkeit allein genügt nicht, um das übersinnlich wahrgenommene auch im richtigen Sinn zu deuten. Sehr häufig kommt es vor, dass hellsichtige Menschen, die Ergebnisse ihrer Schauungen in irrtümlicher Weise interpretieren. Die wahre Bedeutung geistiger Wahrnehmungen eröffnet sich erst dem Eingeweihten – egal ob es sich dabei unmittelbar um eigene Wahrnehmungen handelt, oder um solche, die von hellsichtigen Menschen überliefert wurden. In den alten Mysterien gab es tatsächlich eine strenge Trennung zwischen Eingeweihten und Hellsehern, die damit auch ganz aufeinander angewiesen waren. Heute ist diese Trennung kaum mehr durchzuhalten.

„Derjenige nun, der, ohne selbst hellsichtig zu sein, alles einsieht, was die Geheimwissenschaft zu sagen hat, ist ein Eingeweihter. Wer aber selbst eintreten kann in diese Welten, die wir die unsichtbaren nennen, der ist ein Hellseher. In alten Zeiten, die noch gar nicht so lange hinter uns liegen, bestand in den Geheimschulen eine strenge Trennung zwischen Hellsehern und Eingeweihten. Man konnte als Eingeweihter, ohne Hellseher zu sein, hinaufsteigen zu den Erkenntnissen der höheren Welten, wenn man nur in richtiger Weise den Verstand anwendete. Auf der anderen Seite konnte man Hellseher sein, ohne in besonders hohem Grade eingeweiht zu sein. Es wird Ihnen schon klar werden, wie das gemeint ist. Denken Sie sich zwei Menschen, einen sehr gelehrten Herrn, der alles mögliche weiß, was die Physik und die Physiologie über das Licht und die Lichterscheinungen zu sagen haben, jedoch so kurzsichtig ist, daß er kaum zehn Zentimeter weit sehen kann: er sieht nicht viel, ist aber eingeweiht in die Gesetze des Lichtwirkens. So kann jemand eingeweiht sein in die übersinnliche Welt und schlecht darin sehen. Ein anderer kann ausgezeichnet in der äußeren sinnlichen Welt sehen, aber so gut wie nichts wissen von dem, was der gelehrte Herr weiß. So kann es auch Hellseher geben, vor deren geistigen Augen die geistigen Welten offen daliegen. Sie können hineinschauen in die geistige Welt, haben aber keine Wissenschaft, keine Erkenntnis von derselben. Daher hat man eine lange Zeit hindurch den Unterschied gemacht zwischen dem Hellseher und dem Eingeweihten. Um die Fülle des Lebens zu umfangen, brauchte man oft nicht einen, sondern viele Menschen. Die einen wurden, um weiterzukommen, nicht hellsichtig gemacht. Anderen wurden die geistigen Augen und Ohren geschaffen. Das, was in der Geheimwissenschaft vorhanden war, ist durch Mitteilung und Gedankenaustausch zwischen Geheimwissenschaftern und Hellsehern zustande gekommen.

In unserer Zeit kann diese strenge Trennung zwischen Hellsehern und Eingeweihten gar nicht durchgeführt werden. Heute ist es notwendig, daß jedem, der einen bestimmten Grad der Einweihung erreicht hat, wenigstens auch die Möglichkeit gegeben wird, einen bestimmten Grad des Hellsehens zu erlangen. Der Grund dafür ist, daß in unserer Zeit das große restlose Vertrauen von Mensch zu Mensch nicht herzustellen ist. Heute will ein jeder selbst wissen und selbst sehen. Jener tiefe, hingebungsvolle Glaube, wie er früher von Mensch zu Mensch geherrscht hat, machte es möglich, daß es eine besondere Art von Hellsehern gab, von denen man vernahm, was sie in den höheren Welten wahrnahmen. Andere ordneten dann systematisch, was diese wahrgenommen hatten. Heute ist eine Art Harmonie in der Entwickelung der Fähigkeiten zum Eingeweihten und zum Hellseher geschaffen. Daher kann ein Drittes, das Adeptentum, heute sehr stark zurücktreten.“ (Lit.:GA 56, S. 26f)

Um hellseherische Fähigkeiten bewusst zu entwickeln, muss der Astralleib zuvor durch Katharsis von allen Begierden und Lust und Leid gereinigt werden, die wie eine dunkle Wolke den Blick auf die geistige Wirklichkeit verschleiern oder verfälscht. Niederes Hellsehen kann sehr leicht zur Wahrnehmung der eigenen unverwandelten Begierdekräfte führen, die fälschlich für eine äußere seelische oder geistige Realität angesehen werden.

„Hellsehen heißt nichts anderes, als es zu einer Entwickelungsstufe der menschlichen Wesenheit gebracht zu haben, durch welche der Mensch lust- und leidfrei die Welt um sich herum wahrzunehmen vermag.“ (Lit.:GA 52, S. 202f)

Hellsichtigkeit kann nur erwachen, wenn sich die Erlebnisse des Astralleibs im Ätherleib abbilden bzw. spiegeln. So wie die sinnliche Wahrnehmung der physischen Sinne als Spiegelungsapparat bedarf, so müssen beim Hellsehen die übersinnlichen Erlebnisse durch den Ätherleib in das Bewusstsein reflektiert werden. In beiden Fällen sind die in der Astralwelt webenden Sinnesqualitäten das seelische Rohmaterial, aus dem sich die wahrgenommenen Bilder malen. Durch die äußere Sinneswahrnehmung erscheinen die Sinnesqualitäten allerdings nur in stark abgedämpfter Form. Erst dem hellsichtigen Bewusstsein erscheinen sie, abhängig vom geistigen Entwicklungsgrad des Hellsehers, in ihrer vollen ungetrübten Wirklichkeit.

„Hellsichtig sein heißt, sich der Organe seines ätherischen Leibes bedienen können. Wenn man sich nur der Organe seines astralischen Leibes bedienen kann, so kann man zwar innerlich fühlen und empfinden, innerlich erleben die tiefsten Geheimnisse; aber man kann sie nicht schauen. Erst wenn das, was im astralischen Leibe erlebt wird, sich sozusagen seinen Abdruck verschafft im Ätherleibe, kann Hellsichtigkeit eintreten.“ (Lit.:GA 114, S. 67)

Denkende und nichtdenkende visionäre Hellseher

„Was Offenbarungen, wirkliche Tatsachen gibt über die geistige Welt, das kann in der mannigfaltigsten Weise in die Menschenseele einziehen. Gewiß ist es möglich und in zahlreichen Fällen heute wirklich so, daß die Menschen zu einem visionären Sehen kommen, ohne scharfe Denker zu sein - viel mehr Leute kommen zum Hellsehen, die keine scharfen Denker sind, als scharfe Denker -, aber es ist ein großer Unterschied zwischen den Erfahrungen in der geistigen Welt derjenigen, die scharfe Denker sind, und derjenigen, die keine scharfen Denker sind. Es ist ein Unterschied, den ich so ausdrücken kann: Was sich aus den höheren Welten offenbart, das prägt sich am allerbesten ein in diejenigen Formen des Vorstellens, die wir als Gedanken diesen höheren Welten entgegenbringen; das ist das beste Gefäß.

Wenn wir nun keine Denker sind, dann müssen sich die Offenbarungen andere Formen suchen, zum Beispiel die Form des Bildes, die Form des Sinnbildes. Das ist die häufigste Art, wie derjenige, der Nichtdenker ist, die Offenbarungen erhält. Und Sie können dann von solchen, die visionäre Hellseher sind, ohne daß sie zugleich Denker sind, hören, wie von ihnen in Sinnbildern die Offenbarungen erzählt werden. Diese sind ja ganz schön, aber wir müssen uns zu gleicher Zeit bewußt sein, daß das subjektive Erlebnis ein anderes ist, ob Sie als Denker Offenbarungen haben oder als Nichtdenker. Wenn Sie als Nichtdenker Offenbarungen haben, so ist das Sinnbild da; es steht da diese oder jene Figur. Das offenbart sich aus der geistigen Welt heraus. Sagen wir, Sie sehen eine Engelgestalt, dieses oder jenes Symbolum, das dieses oder jenes ausdrückt, meinetwillen ein Kreuz, eine Monstranz, einen Kelch - das ist da im übersinnlichen Felde, das sehen Sie als fertiges Bild. Sie sind sich klar: Das ist keine Wirklichkeit, aber es ist ein Bild.

In etwas anderer Weise werden schon für das subjektive Bewußtsein die Erfahrungen aus der geistigen Welt für den Denker erlebt, nicht ganz so wie bei dem Nichtdenker. Da stehen sie nicht sozusagen auf einmal gegeben da, wie aus der Pistole heraus geschossen; da haben Sie sie anders vor sich. Nehmen Sie, ich will sagen, einen nichtdenkenden visionären Hellseher und einen denkenden. Der nichtdenkende visionäre Hellseher und der denkende visionäre Hellseher würden beide dieselben Erfahrungen empfangen. Wollen wir einen bestimmten Fall setzen: Der nichtdenkende visionäre Hellseher sieht diese oder jene Erscheinung der geistigen Welt, der denkende visionäre Hellseher sieht sie noch nicht, sondern etwas später, und in dem Momente, wo er sie sieht, da war sie bereits erfaßt von seinem Denken. Da kann er sie schon unterscheiden, er kann schon wissen, ob sie Wahrheit oder Unwahrheit ist. Er sieht sie etwas später. Es tritt ihm aber, indem er sie etwas später sieht, die Erscheinung aus der geistigen Welt so entgegen, daß er sie gedankendurchdrungen hat und unterscheiden kann, ob sie Täuschung oder Wirklichkeit ist, so daß er sozusagen früher etwas hat, bevor er es sieht. Er hat es natürlich im selben Momente wie der nichtdenkende visionäre Hellseher, aber er sieht es etwas später. Dann aber, wenn er es sieht, dann ist die Erscheinung schon mit dem Urteil, mit dem Gedanken durchsetzt, und er kann genau wissen, ob sie ein Scheinbild ist, ob da seine eigenen Wünsche objektiviert sind, oder ob sie objektive Realität ist. Das ist der Unterschied im subjektiven Erlebnis. Der nichtdenkende visionäre Hellseher sieht die Erscheinung sogleich, der denkende etwas später. Dafür aber wird sie auch beim ersteren so bleiben, wie er sie sieht, er kann sie so beschreiben. Der Denker aber wird sie ganz einreihen können in das, was dann in der gewöhnlichen physischen Welt ist. Er wird sie in Beziehung bringen können zu dieser. Die physische Welt ist eben auch, wie jene Erscheinung, eine Offenbarung aus der geistigen Welt.“ (Lit.:GA 117, S. 81f)

Was der Mensch gedankenlos durch Visionen im Erdenleben erfahren hat, nützt ihm wenig im Leben nach dem Tod. Wert hat dann nur das, was er auf Erden vom Geistigen in klare Gedanken fassen konnte – gleichgültig, ob er es selbst geschaut hat oder nicht:

„Was nützt eigentlich - wenn wir dieses triviale Wort anwenden wollen, um uns die Sache zu verdeutlichen -, was nützt dem Menschen mehr nach dem Tode: wenn er ohne Gedanken visionär irgend etwas sieht, oder wenn er rein spirituelle Mitteilungen, ohne visionär zu schauen, empfängt?

Da könnte man sehr leicht glauben, das visionäre Sehen sei eine bessere Vorbereitung für den Tod als das bloße Hören der Tatsachen aus der geistigen Welt. Und dennoch! Nach dem Tode nützt dem Menschen recht wenig, was er bloß visionär gesehen hat. Ist dagegen eine Tatsache da, fängt er sofort an, sich dessen bewußt zu werden, was er an Mitteilungen empfangen hat, wenn er diese vernünftigerweise begriffen hat. Gerade das hat den Wert nach dem Tode: was man verstanden hat, gleichgültig, ob es geschaut ist oder nicht. Und nehmen Sie den tiefsten Eingeweihten: durch sein Hellsehen kann er die ganze geistige Welt schauen, aber das erhöht seine Bedeutung nach dem Tode nicht, wenn er nicht in menschlichen Begriffen diese Tatsachen auszudrücken imstande ist. Nach dem Tode helfen ihm nur diejenigen Dinge, die er hier als Begriffe hat. Das sind die Samenkörner für das Leben nach dem Tode. Natürlich, wer visionärer Hellseher ist und Denker, der kann es nutzbringend machen, was er visionär sieht. Aber zwei nichtdenkerische Menschen, von denen der eine hellsichtig ist und der andere nur hört, was dieser sieht, sind nach dem Tode in genau derselben Lage; denn das, was wir mitbringen in das Leben nach dem Tode, das ist dasjenige, was wir uns hier erwerben mit Hilfe des scharfen Denkens. Das geht auf als ein Samen, nicht das, was wir herausholen aus den Welten, wo wir hineingehen. Wir bekommen das, was wir aus den höheren Welten empfangen, nicht als ein freies Geschenk, damit wir es dann bequemer haben, wenn wir den physischen Plan verlassen, sondern dazu, daß wir es hier in die Münze dieser Erde umsetzen. So viel wie wir in die Münze dieser Erde umgesetzt haben, so viel hilft uns nach dem Tode. Das ist das Wesentliche.“ (Lit.:GA 117, S. 83f)

Kopf-, Brust- und Bauchhellsehen

Rudolf Steiner hat prinzipiell drei Arten des Hellsehens unterschieden, nämlich das Kopf-, Brust- und Bauchhellsehen, die mit der Dreigliederung des menschlichen Organismus zusammenhängen, wobei mit dem Kopfhellsehen zugleich meist auch das Brust- oder Herzhellsehen aktiviert wird. Es werden dabei die oberen Lotosblumen bis herunter zum Herzchakra in Tätigkeit gesetzt. Das Kopfhellsehen hat einen mehr gedanklich-vorstellungsmäßigen, aber auch gefühlsartigen Charakter, während das Brusthellsehen mehr zur Willesentwicklung führt. Das Kopfhellsehen liefert zudem vornehmlich Ergebnisse, die vom einzelnen Menschen unabhängig und in diesem Sinne „objektiv“ sind, während das Bauchhellsehen vorwiegend mit dem zusammenhängt, was im einzelnen Menschen selbst vorgeht und sehr leicht von subjektiven persönlichen Egoismen durchdrungen wird. Das sogenannte „intuitive“ Bauchgefühl hängt namentlich mit der dem Lebenssinn zugehörigen Viszerozeption zusammen und unterscheidet sich damit deutlich von dem, was Rudolf Steiner als vollbewusste Intuition bezeichnet.

„Nun handelt es sich darum, daß der sich mit Geisteswissenschaft Beschäftigende wirklich genau einsieht den Wert der geisteswissenschaftlichen Beschäftigung als solcher und das Verhältnis dieser geisteswissenschaftlichen Beschäftigung zu dem persönlichen Streben, welches durch Meditation und Konzentration der Gedanken, Empfindungen und Willensimpulse oder sonst irgendwie, den Menschen hineinbringt in die geistige Welt. Denn darüber müssen wir uns vor allen Dingen klar sein, und das ist eine tiefe, bedeutungsvolle Wahrheit, daß jene Einheitlichkeit, die uns gewissermaßen umringt in der gewöhnlichen Welt, nicht in derselben Art in der geistigen Welt vorhanden ist. Ich habe schon hingewiesen darauf, daß diese Einheitlichkeit in dem ganzen Gefüge des geistig-seelischen Menschen begründet ist. Wie streben doch die meisten Menschen danach, immer wieder und wieder zu fragen: Was ist die Einheit der Welt? - Wie finden sie sich erst befriedigt, wenn sie alles auf ein Prinzip zurückführen können!

In der Tat tritt uns die äußere physische Welt im eminenten Sinne als ein Ganzes, als ein einheitlich Gestaltetes entgegen, und diejenigen Menschen, welche gewissermaßen von dem Einheitsteufel ganz beherrscht sind, kommen zu allen möglichen Gedankenabstraktionen, indem sie suchen das einheitliche Prinzip der Welt...

Vor allen Dingen müssen wir demgegenüber im tiefsten Sinne das nehmen, was in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ausgedrückt ist, daß, sobald wir die Schwelle der geistigen Welt überschreiten, wir wirklich in ein dreifaches Erleben hineingeführt werden. Das habe ich in diesem Buche ganz besonders betont, daß die Seele wie dreigespalten wird; und indem die Seele die Schwelle der geistigen Welt überschreitet, ist nichts mehr eigentlich vorhanden, was es einem möglich macht, an den Einheitsteufel, an diesen bequemen Einheitsteufel zu glauben.

Ja, wir fühlen selbst, daß wir, sobald wir die Schwelle der geistigen Welt überschreiten, mit unserem ganzen Wesen eigentlich in drei Welten eintreten, wirklich in drei Welten eintreten. Und wir müssen dies eigentlich nicht aus dem Auge verlieren, daß man nach dem Überschreiten der Schwelle der geistigen Welt das Erlebnis der drei Welten deutlich hat. Schon mit der ganzen Bildung unseres physischen Leibes gehören wir eigentlich drei Welten an. Ich möchte sagen: Zu diesem wunderbaren Gebilde «Mensch», das uns da entgegentritt in der physischen Welt, ist wirklich das Zusammenwirken von drei Welten, die eine verhältnismäßig starke Unabhängigkeit voneinander haben, notwendig. Und wenn wir die Bildung unseres Hauptes betrachten, die Bildung all dessen betrachten, was zum Haupte gehört, dann müssen wir, selbst wenn wir nur vom physischen Haupte sprechen, uns klar sein darüber, daß die Bildekraft unseres Hauptes und auch die Wesenheiten, die in diesen Bildekräften wirkend und schaffend sind, einer ganz anderen Welt angehören als zum Beispiel die Bildekraft unserer Brust, die Bildekraft alles dessen, was zu unserem Herzen gehört, einschließlich der Arme und Hände. Es ist gewissermaßen, wie wenn die Bildekraft zu diesen materiellen Teilen des Menschen einer ganz anderen Welt angehören würde als die Bildekräfte unseres Hauptes. Und wiederum gehören die Unterleibsorgane und die Beine einer ganz anderen Welt an als die beiden anderen Glieder, die genannt worden sind.

Nun können Sie fragen: Was hat denn das alles für eine Bedeutung? Es hat eine große Bedeutung, weil im Grunde genommen der gegenwärtige Menschheitszyklus so ist, daß man reine, echte, wirklich wahre Ergebnisse der Geisteswissenschaft nur dadurch bekommt, daß unser Geistig-Seelisches herausgehoben wird aus dem Haupte. So daß gewissermaßen dies der hellseherische Aspekt eines Menschen ist, welcher geisteswissenschaftliche Beobachtungen hervorzubringen hat, die heute der Menschheit in richtigem Sinne dienen können (siehe Zeichnung).

Ätherhaupt
Ätherhaupt

Dieser hellsichtige Aspekt ist so zu betrachten, daß das Geistig-Seelische hier vorzugsweise herausgehoben wird, und daß dieses Geistig-Seelische gleichsam angeschlossen wird, wie durch einen spirituell elektrischen Anschluß, an die Kräfte des Kosmos. Also es muß alles, das Ich und der astralische Leib bis zum Ätherleibe, herausgezogen werden. Dieses Herausziehen ist dann selbstverständlich verknüpft mit der Entwickelung der sogenannten Lotusblumen. Aber die Kräfte, welche die Lotusblumen in Bewegung setzen, liegen in diesem herausgehobenen oder herauszuhebenden Teile des Geistig-Seelischen des Menschen.

Dies, was so erlangt wird, daß das Hellsehen gewissermaßen ein Kopfhellsehen ist, das kann geisteswissenschaftliches Resultat in unserer Zeit sein; denn das dient der Menschheit, dieses kopfhellseherische Ergebnis. Von ganz anderer Art ist das hellseherische Ergebnis, das dadurch bewirkt wird, daß mehr das Geistig-Seelische der Organe des Herzens, der Arme und der Hände herausgehoben wird. Dieses Herausheben unterscheidet sich auch innerlich bedeutend von dem, was zustande kommt durch das, was ich nennen möchte das Kopfhellsehen. Das Herausheben aus dem materiellen Herzorgan wird mehr bewirkt durch die Meditation, die sich auf das Willensleben bezieht; es wird bewirkt durch die demütige Hingabe an den Weltenprozeß. Während das Kopfhellsehen mehr durch die Gedanken, vorstellungsmäßig, aber auch durch empfindungsmäßige Vorstellungen bewirkt wird.

Es ist im allgemeinen mit Bezug auf diese beiden Arten des Hellsehens so, daß im Grunde das Herzhellsehen oder das Brusthellsehen, in dem Grade, wie es sich entwickeln soll, mit dem Kopfhellsehen sich schon entwickelt. Es führt das Brusthellsehen mehr zur Willensentwickelung, zum Zusammenhang mit den Aktionen der geistigen Wesenheiten niederer Hierarchien, wie derjenigen, die in den verschiedenen Reichen der Erde verkörpert sind, während das Kopfhellsehen mehr zu dem Anschauen, dem Erkennen, dem Wahrnehmen in den wirklich dem Menschen zunächst wichtigeren höheren Welten führt; wichtigeren, höheren Welten in dem Sinne, daß das Wissen von diesen höheren Mächten zur Befriedigung gewisser Erkenntnisbedürfnisse notwendig ist, die immer mehr und mehr auftreten müssen in der gegenwärtigen Menschheit. Je mehr wir der Zukunft unserer Entwickelung auf der Erde entgegenrücken, desto weniger werden die Menschen, ohne daß ihr Seelenleben ausgedörrt wird, leben können, wenn sie nicht in ihre Erkenntnis aufnehmen können die Ergebnisse dieses Hellsehens.

Und wieder eine dritte Art von Hellsehen ist diejenige, die dadurch entsteht, daß aus dem übrigen Menschen gelockert wird, also herausgehoben wird dasjenige, was man das Geistig-Seelische nennen kann. Da müßte ich (auf der Zeichnung) da unten, gegen das Ende zu, das Herausrücken andeuten.

Lockerung des Ätherleib im Bauchbereich.
Lockerung des Ätherleib im Bauchbereich.

Wenn auch der Ausdruck nicht besonders ästhetisch ist, so darf ich aber doch vielleicht diese Art des Hellsehens das Bauchhellsehen nennen. So daß man wirklich unterscheiden kann: das Kopfhellsehen, das Brusthellsehen und das Bauchhellsehen.

Während das Kopfhellsehen für unseren Menschheitszyklus im eminentesten Sinne dahin führt, von dem Menschen unabhängige Ergebnisse zu gewinnen, führt das Bauchhellsehen dazu, vorzugsweise Ergebnisse zu gewinnen, welche zusammenhängen mit dem, was im Menschen selber vorgeht. Dasjenige, was im Menschen selber vorgeht, muß selbstverständlich auch Gegenstand des Forschens sein, gibt es doch auch auf dem Gebiete des physischen Forschens die Anatomie und die Physiologie, die sich mit alledem zu befassen haben. Es darf nicht die Meinung auftauchen, daß dieses Bauchhellsehen nicht einen gewissen Wert, im höchsten Sinne des Wortes, haben könnte. Selbstverständlich hat es seinen Wert. Aber klar muß man sich darüber sein, daß dieses Bauchhellsehen nur wenig den Menschen unterrichten kann über dasjenige, was unpersönlich in den kosmischen Vorgängen sich abspielt, daß es im wesentlichen den Menschen unterrichtet über das, was in dem Menschen, ich möchte sagen, innerhalb der Haut des Menschen vor sich geht. Über andere Gegensätze zwischen Kopfhellsehen und Bauchhellsehen werde ich noch sprechen, aber in bezug auf das Moralisch-Ethische sind diese beiden Arten im Grunde genommen auch innerlich recht gut zu unterscheiden. Das Brusthellsehen steht dazwischen, zwischen Kopfhellsehen und Bauchhellsehen. In bezug auf das Ethische ist verhältnismäßig am wichtigsten das Kopfhellsehen. Menschen, welche danach streben, in unpersönlicher Weise, in dem Sinne wie es angedeutet ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», zu einer Anschauung der höheren Welten zu kommen, Menschen, welche es sich nicht verdrießen lassen, diesen unbequemen, aber sicheren Weg zu gehen, die werden in bezug auf ihre Hellsichtigkeit auch etwas Unpersönliches in sich entwickeln, vor allen Dingen ein höheres Interesse für die objektive Welterkenntnis, für dasjenige, was in der Welt des kosmischen und in der Welt des geschichtlichen Werdens vor sich geht.

Von dem Menschen selber wird dieses Kopfhellsehen vorzugsweise in dem Sinne sprechen, daß es aufmerksam macht, wie der Mensch sich hineinstellt in den kosmischen, in den geschichtlichen Werdegang des Lebens, aufmerksam macht darauf, was der Mensch im Ganzen des Weltenprozesses ist, und es wird immer dasjenige, was herauskommt bei diesem Kopfhellsehen, einen unpersönlichen, ich möchte sagen, einen allgemein-wissenschaftlichen Charakter haben; es wird Mitteilungen enthalten, die Wichtigkeit haben - ich bitte das Wort wohl zu beachten - für alle Menschen, nicht nur für den einen oder den anderen.

Dasjenige, was Bauchhellsehen ist, das wird vorzugsweise durchdrungen sein von allen möglichen menschlichen Egoismen, wird überhaupt sehr leicht dazu verführen, daß sich der betreffende Hellseher viel mit sich, mit den okkulten Unterlagen seines eigenen Geschickes befaßt, mit den okkulten Unterlagen seines persönlichen Wertes und Charakters. Das ergibt sich wie eine selbstverständliche Neigung aus dem, was man das Bauchhellsehen nennt.

Nun tritt in bezug auf die anschauliche Natur zwischen den beiden Arten des Hellsehens ein starker Unterschied auf. Derjenige, der danach strebt, zunächst in dem Sinne, wie es gegeben ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», mit seinem Seelisch-Geistigen frei zu werden von dem Wahrnehmungsapparat des Kopfes, der also gewissermaßen den geistig-seelischen Teil des Kopfes herauslockert aus dem physischen Werkzeuge und mit diesem geistig-seelischen Kopfteile sich hineinzuversetzen vermag in die geistige Welt, der wird es außerordentlich schwer haben, aus bloß schattenhaft-hellseherischen Erlebnissen herauszukommen. Dieses Heraustreten aus dem Kopfe ist verbunden zunächst mit Erlebnissen, die wirklich nicht einmal die Farbe, die Gesättigtheit von lebhaften Erinnerungen haben, die also gewissermaßen innerlich sehr farblos auftreten, und erst wenn man in den Anstrengungen, die auf diesem Wege liegen, immer weiter und weiter dringt, stellt es sich heraus, daß der schattenhafte Charakter dieser Erlebnisse sich verliert, und daß gewissermaßen mit Farbigem und Tönendem die farblosen und schattenhaften Erlebnisse tingiert werden.

Äthersphäre
Äthersphäre

Denn der Prozeß, der sich da abspielt, ist der, daß wir herausrücken aus unserem Kopfe zunächst und wirklich in einer Welt darinnen sind, die wir sehr schwer haben zu bemerken. Dann, indem wir nach und nach, langsam uns erwerben die Möglichkeit, außerhalb unseres Kopfes zu leben, verstärken sich diese inneren Lebenskräfte, und die Folge davon ist, daß aus dem ganzen Umkreise der Welt die zuströmenden Kräfte zusammengezogen werden. Also denken Sie sich, aus dem ganzen Umkreise der Welt müssen die Kräfte zusammengezogen werden, und wenn wir aus dem Umkreise der Welt die ganzen Kräfte zusammenziehen, dann bekommen wir die Tingierung mit Farbigem und Tönendem. Denken Sie sich einmal, um sich das vorzustellen, Sie haben hier - a - eine Fläche, die sehr stark gefärbt ist, eine Kugelfläche. Und nun denken Sie sich diese Kugelfläche hinausgedehnt über eine große Fläche - b, c -. Da wird die Farbe viel blasser, und wenn wir sie noch weiter ausdehnen, so wird die Farbe immer blasser und blasser; wenn wir sie hereinbringen würden, so würden wir, wenn dies ein blasses Gelb ist, hier ein sehr gestärktes, gesättigtes Gelb bekommen, weil dieselbe Menge der Farbpunkte dann wieder mehr zusammenkonzentriert ist.

Nun steht das Kopfhellsehen dem ganzen Kosmos gegenüber, und über den ganzen Kosmos ist dasjenige ausgedehnt, was der Mensch erst zusammenkonzentrieren muß mit seinen Lebenskräften in das, was er selber ist hellseherisch seiner Wesenheit nach; so daß er wirklich nur im mühseligen Gang der inneren Entwickelung allmählich das Schattenhafte der Erlebnisse tingiert. Und dann, wenn man lange, lange sich Mühe gegeben hat, das allgemeine Erleben zu haben, das einem nur das Gefühl gibt, außerhalb seines Leibes zu sein, und wenn man dieses allgemeine Erleben lange gehabt hat und immer mehr ein Gefühl bekommen hat, ein intensiveres, aber noch nicht farbiges und tönendes, inneres Erleben zu haben, dann kommen allmählich die Gebiete aus dem Kosmos an das Kopfhellsehen heran.

Das ist eine Sache der langsamen, selbstlosen Entwickelung. Insbesondere muß gesagt werden, daß zu dieser Entwickelung unerläßlich ist das Studium der Geisteswissenschaft. Es muß immer wieder und wieder betont werden, daß die Geisteswissenschaft, wenn sie gegeben ist, wirklich verstanden werden kann. Man kann das nicht oft genug betonen, daß man kein Hellseher zu sein braucht, um Geisteswissenschaft zu verstehen. Selbstverständlich muß man Hellseher sein, um zu den Ergebnissen zu kommen; aber wenn sie einmal da sind, braucht man kein Hellseher zu sein.

Dieses Verständnis der Geisteswissenschaft muß vorangehen dem eigentlichen Schauen. Auch hier ist es so, daß man sagen kann: es ist der umgekehrte Weg von dem der richtige, der in der physisch-sinnlichen Welt der richtige ist. In der physisch-sinnlichen Welt haben wir zuerst die richtigen Anschauungen, dann gehen wir zum gedanklichen Betrachten über; wir bilden uns die wissenschaftlichen Urteile hinterher. Beim Aufsteigen in die geistige Welt ist es umgekehrt. Da müssen wir zuerst die Begriffe und Vorstellungen entwickeln, müssen uns anstrengen, um uns objektiv in die Geisteswissenschaft einzuleben; sonst können wir niemals sicher sein, daß irgendwelche Beobachtung in der geistigen Welt von uns im richtigen Sinne gedeutet wird. Da muß die Wissenschaft eben dem Schauen vorangehen. Und das ist es, was vielen so unendlich unbequem ist: daß sie die Geisteswissenschaft studieren sollen. Das nehmen viele als unbegreifliche Zumutung hin. Denn sie streben danach, Anschauungen zu haben in der geistigen Welt. Gewiß, die kann man relativ leicht haben; aber sie richtig zu deuten, dazu gehört, daß man wirklich objektiv, selbstlos sich in die Geisteswissenschaft einläßt, sich mit ihr durchdringt.

Nun ist gerade das Umgekehrte der Fall bei dem, was man nennen kann das Bauchhellsehen. Da gehen wir aus von demjenigen Geistig-Seelischen, das zunächst gearbeitet hat an unserem Leiblich-Physischen. Denn all dem, was es in der Welt gibt, liegt ein Geistiges zugrunde. Wenn Sie, sagen wir, ein Stück Kohlrabi gegessen haben - wir sind ja meist Vegetarier - und es dann verarbeitet wird in unserem Organismus, so hat man es nicht bloß mit dem physisch-chemischen Prozeß zu tun, den der Magen mit seinen Kräften und Säften ausführt, sondern hinter dem allem ist der Ätherleib, der Astralleib und das Ich tätig. Alle diese Prozesse haben hinter sich geistig-spirituelle Prozesse. Es würde ganz falsch sein zu glauben, daß es materielle Prozesse gibt, die nicht einen spirituellen Prozeß hinter sich haben.

Denken Sie sich nun, Sie legen sich nach einem mehr oder weniger opulenten Mittagsmahle hin und werden hellsichtig, aber so hellsichtig, daß sich das Geistig-Seelische der Verdauungsorgane vor allen Dingen aus diesen Verdauungsorganen heraushebt. Dann leben Sie, während Ihr Magen und die übrigen Organe richtig verdauen, mit Ihrem Geistig-Seelischen im Geistig-Seelischen selber. Und während Ihnen sonst der spirituelle Prozeß unbewußt bleibt, der sich in Ihrem Ätherleibe, Astralleibe und Ich vollzieht, kommt er Ihnen, wenn Sie hellseherisch werden, zum Bewußtsein, und Sie können dann, indem Sie sich erleben in dem Geistig-Seelischen, all jenes Arbeiten und Bilden und Schaffen des Geistig-Seelischen an den Leibesgliedern während der Verdauung sehen; sehen, indem es sich hinausprojiziert in die Welt, und Ihnen, bildhaft sich spiegelnd, im äußeren Äther erscheint. Dann bekommen Sie, weil Sie jetzt nicht so sehr aus dem Kosmos anzuziehen haben die Farbe, sondern weil Sie den ganzen Prozeß konzentriert in Ihrer eigenen Haut sich abspielen haben, die allerschönsten hellseherischen Gebilde. So daß ein Wunderbares, das sich abspielt um Sie in den herrlichsten, lichtesten Farben- und Gestaltungsprozessen, nichts anderes zu sein braucht als der in den Geistesorganen des Menschen vor sich gehende Verdauungsprozeß oder sonst ein im Leibe befindlicher Prozeß.

Dieses Hellsehen unterscheidet sich von dem anderen ganz besonders dadurch, daß während das andere Hellsehen von schattenhaften Gebilden ausgeht und erst mühselig die Tingierung mit Farbe und Ton erhält, dieses schon ausgeht von dem Schönsten und Herrlichsten, das man sehen kann. Man kann es geradezu als ein Gesetz aussprechen: wenn das Hellsehen beginnt mit den herrlichsten Gebilden, insbesondere mit Farbengebilden, dann ist es ein Hellsehen, das sich bezieht auf Prozesse, die sich innerhalb des Persönlichen abspielen. Ich betone aber noch ausdrücklich, daß es für das Erforschen der geistigen Welt von großem Wert sein kann. Geradeso wie der Anatom und der Physiologe den Verdauungsprozeß und andere Prozesse untersuchen müssen, so hat es auch einen höchsten wissenschaftlichen Wert, auf diese Weise das hinter den menschlichen Prozessen stehende Geistige, das Spirituelle zu erforschen. Aber schlimm wäre es, wenn man sich irgendwelchen Täuschungen hingeben würde, wenn man sich Illusionen hingeben und die Dinge nicht in der richtigen Weise deuten würde.

Wenn man glauben würde, daß ein solches, ohne die entsprechende Vorbereitung auftretendes Hellsehen mehr geben könnte, als was sich im Menschen abspielt und sich hinausprojiziert in die objektive Welt, wenn man glauben würde, daß man gewissermaßen den regierenden Weltenmächten, den tonangebenden geistigen Kräften durch ein solches Hellsehen näherkommen könnte, so würde man sich sehr täuschen. Ebensowenig wie man durch die Untersuchung der menschlichen Verdauung die Weltenrätsel lösen kann, ebensowenig kann man den Weltenrätseln und Geheimnissen dadurch näherkommen, daß man dieses Bauchhellsehen entwickelt.

Sie sehen also, wieviel dazugehört, sich in der Welt, in die wir eintreten durch das Freiwerden unserer geistig-seelischen Kräfte, wirklich richtig zu orientieren. Niemand sollte etwa durch die Erörterungen, die darüber gepflogen worden sind, einen Abscheu haben vor dem Bauchhellsehen. Aber jeder sollte sich klar sein darüber, wie sich ein solches Hellsehen verhält zu dem, was wirklich geistiges Hellsehen werden kann, und wie man fernhalten muß von aller äußeren Überschätzung dasjenige, was auf hellseherischem Wege so gewonnen wird, daß es nur einen persönlichen Inhalt haben kann. Erst dann, wenn man bei diesen Dingen, die auch persönlichen Inhalt haben, absehen kann von dem Persönlichen und sie so betrachten kann wie der Anatom, der Physiologe dasjenige betrachtet, was er durch die Sektion erlebt oder durch seine Untersuchungen erhält, erst wenn man da zur wissenschaftlichen Betrachtung übergeht, dann haben die Dinge einen besonderen Wert. Jedenfalls dürfen sich an diese Dinge nicht im entferntesten irgendwelche religiöse Gefühle anknüpfen; die können sich nur an die Ergebnisse des Kopfhellsehens anknüpfen. Und man wird dem anderen Hellsehen um so gerechter, je mehr man geradezu die Forderung stellt, daß seine Ergebnisse nur im wissenschaftlich-objektiven Sinne behandelt werden, wie die Ergebnisse der Anatomie, der Physiologie.

Nicht alles, was auf dem Wege des Hellsehens gefunden wird, ist - ich möchte diesen radikalen Satz aussprechen - anbetungswürdig; aber alles ist des Erlernens wert. Das ist es, was wir ins Auge fassen müssen. Ich sagte, für unseren Zyklus sei es ganz besonders wichtig, die Ergebnisse des Kopfhellsehens der allgemeinen geistigen Menschheitskultur einzuverleiben; und das ist wirklich wichtig. Ich will heute in bezug auf diese Wichtigkeit eine Seite der Sache einmal erwähnen. Wir leben wirklich in einer Zeit, in welcher sich die Menschheit vorbereiten muß, allmählich über den bloßen philosophischen Idealismus hinauszukommen und einzulaufen in ein wirkliches Bewußtsein von den geistigen Welten, von der allgemeinen geistigen Welt, in der wir darinnen leben, wie wir in der physischen Welt darinnen leben.

Nun, gehen wir von einem Erlebnisse des Kopfhellsehens aus, das wir leicht verstehen werden, wenn wir uns ein wenig vertieft haben in die Dinge, die gesagt worden sind in dem Münchner Zyklus, der zuletzt gehalten worden ist, und die auch ausgeführt worden sind in meinem Buche «Die Schwelle der geistigen Welt». Ich habe da besonders erwähnt, daß unser Denken eine Umänderung erfährt in dem Augenblicke, wo wir uns freimachen, besonders in bezug auf unsere Gedanken, von dem physischen Werkzeuge des Kopfes. Ich habe es damals grotesk ausgedrückt, indem ich gesagt habe: Wenn wir so frei werden, dann haben unsere Gedanken nicht mehr den Charakter, den sie haben im gewöhnlichen, alltäglichen Leben. Im gewöhnlichen, alltäglichen Erleben müssen wir das Gefühl haben - wenn wir nicht verrückt sind -, daß wir Herr sind über unsere Gedankenwelt, daß, wenn wir zwei Gedanken haben, wir es sind, die diese Gedanken verbinden oder trennen.

Wenn wir uns erinnern, sind wir uns bewußt: mit unserem Innenleben gehen wir von einem gegenwärtigen zu einem vergangenen Erlebnis über. Immer haben wir das Gefühl: wir sind es, die hinter dem Gewebe und Gewoge unserer Gedanken stehen. Das hört auf in dem Augenblicke, wo wir im Kopfteil das Geistig-Seelische freiwerden lassen vom physischen Werkzeug, wo wir ein Denken entwickeln, das leibbefreit ist. Ich habe dazumal radikal gesagt: Es ist, wie wenn wir den Kopf in einen Ameisenhaufen hineingesteckt hätten, in dem alles zu quirlen anfängt. So fangen die Gedanken auch an, ein eigenes Leben zu entwickeln und durcheinanderzuspielen. Und wenn wir im gewöhnlichen Leben zwei Gedanken haben und sie verbinden, wie zum Beispiel die zwei Gedanken «Rose» und «rot», so wissen wir, daß wir Herr sind in unserer Gedankenwelt, die Begriffe zu verbinden zu: «die Rose ist rot» und zu der Vorstellung «die rote Rose». Das ist nicht so, wenn wir draußen sind außer dem Leibe. Da bekommen wir in die Gedanken Leben, das Eigenleben der Gedanken. Jeder Gedanke wird zu einem Wesen. Der eine Gedanke läuft zu dem anderen hin, ein anderer läuft von dem anderen fort.

Also die Gedankenwelt gewinnt ein Eigenleben. Warum gewinnt sie ein Eigenleben? Nun, was wir im gewöhnlichen Denken des Alltags erleben, das sind nur Bilder, nur Schatten von Gedanken. Sie können das schon in meinem Buche «Theosophie» nachlesen. Sobald wir das Denken leibfrei entwickeln, wird jeder Gedanke so wie eine Hülse, und in die Hülse hinein schlüpft ein elementares Wesen. Der Gedanke ist nicht mehr in unserer Gewalt: Wir lassen ihn, wie einen Fühler, hinausgehen in die Welt, und da schlüpft ein elementarisches Wesen hinein. Unsere Gedanken sind so von elementarischen Wesen gleichsam ausgefüllt, und das quirlt und braust, das webt und west in uns. So daß wir sagen können: Wenn wir unseren geistig-seelischen Teil des Kopfes in die geistige Welt hineinstecken - wir haben ihn nur dadurch draußen, daß wir im physischen Kopfe nicht darinnen sind -, wenn wir ihn so hineinstecken in die geistige Welt, dann erleben wir nicht mehr solche Gedanken, wie wir sie erleben in der physischen Welt, sondern wir erleben das Leben von Wesen. Wir stecken unseren Kopf eben, wie ich damals sagte, gleichsam in einen Ameisenhaufen hinein. Wir erleben das Leben von Wesen.

So ist es im Grunde genommen bis hinauf zu den Wesenheiten der höchsten Hierarchien. Und wenn wir einen Engel, einen Erzengel, einen Geist der Persönlichkeit erleben wollen, so muß es so sein, daß wir in der geschilderten Weise unsere Gedanken ausstrecken. Das Wesen muß sich einhüllen in unsere Gedanken. Wir schicken unsere Gedanken aus, und das Wesen schlüpft hinein und bewegt sich darinnen. Wenn wir wahrnehmen die Wesen auf der Venus oder auf dem Saturn, so ist es so, daß wir unsere Gedanken hinausschlüpfen lassen, und die Venus- und Saturnwesen hineinschlüpfen. Wir dürfen uns nicht fürchten davor, nicht mehr irdisch-menschliche Gedanken zu haben, sondern Hierarchiengedanken. Wir müssen uns gewöhnen, mit unserem Kopfe in den höheren Hierarchien darinnen zu leben. Wir müssen uns sagen: unser Denken hört auf, und unser Kopf wird der Schauplatz des Wirkens der höheren Hierarchien.

Nun ist es so, daß in der Fichte-Schelling-Hegel-Philosophie der Gedanke bis zu seiner reinsten Gedankenklarheit gebracht worden ist im Beginn des 19. Jahrhunderts. Wozu sich der Gedanke aufschwingen kann, das ist in dieser Philosophie wirklich enthalten. Die Aufgabe, bis zu welcher der Gedanke gebracht werden kann, ist da gelöst. Der nächste Schritt aber ist der, daß der Gedanke aus sich herausgeht und man wirklich hineinkommt in das quirlende und webende Leben des Gedankens. So daß wir in der Zeit leben - man kann das sagen -, wo die Menschheit dazu berufen ist, wahrzunehmen die höheren Hierarchien. Hingenommen werden sollen wir von der Welt der höheren Hierarchien, und abstreifen müssen wir die Furcht vor dem Verlieren der Gedanken an das Leben und Weben in den höheren Hierarchien.“ (Lit.:GA 161, S. 153ff)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.
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