Goetheanismus

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Goetheanismus ist eine ganzheitliche, rein phänomenologisch auf vorzüglich unmittelbare qualitative Erfahrungen gegründete allgemeine Wissenschaftsmethodik, die, anders als herkömmliche wissenschaftliche Verfahren, von der Verwendung künstlicher Messgeräte und quantitativer Auswertungen weitgehend absieht und in ihrer Zielsetzung frei von spekulativen Elementen, Hypothesen und Modellvorstellungen ist. Goethes Forschungsmethode erschöpft sich dabei keineswegs in der bloßen Registrierung und Beschreibung der Phänomene, wie es etwa der Positivismus gefordert hatte. Durch „Anschauende Urteilskraft“, d.h. durch ein Denken, das sich nicht von den Phänomenen absondert, sollen sie ihren ideellen Zusammenhang, ihre gesetzmäßige Verbindung, selbst enthüllen und dadurch ihr eigentliches Wesen der geistigen Anschauung zugänglich machen. Erst dadurch ist das vollständige Phänomen so gegeben, wie es in der Wirklichkeit an sich besteht. In diesem Sinn darf man Goethes Methode auch als einen mitfühlenden Empirismus betrachten, der nicht nur die Außenseite, sondern vor allem auch das innere Wesen erfasst.

Das Wort Goetheanismus wurde erstmals von dem schwedischen Diplomaten Karl Gustav von Brinckmann 1803 in einem Brief an Goethe gebraucht, um damit dessen Weltanschauung insgesamt zu charakterisieren. Durch Rudolf Steiner, dem ersten Herausgeber der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes unter Einbeziehung des Nachlasses (Lit.: Goethe 1891-1896), wurde die Bezeichnung ab 1915 zunehmend für die den Naturstudien Goethes zugrunde liegende Methode verwendet, ohne sie allein darauf zu beschränken. Tatsächlich lässt sich die goetheanistische Methode in praktisch allen Lebensbereichen fruchtbar anwenden.

Erkenntnistheoretische Grundlagen

Goethe selbst hat keine zusammenhängende erkenntnistheoretische Begründung seiner Forschungsmethode gegeben. Diese wurde erstmals von Rudolf Steiner in seinen Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften (1884 - 1897) und in seinem grundlegenden Werk Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung ausführlich und systematisch formuliert. Fruchtbare Gedanken zum Verständnis der goetheanistischen Methode finden sich, trotz der vorwiegend philosophischen und weniger naturwissenschaftlichen Orientierung, auch in der Phänomenologie Edmund Husserls.

„Man kann in unserer Kulturgeschichte manchmal geradezu hart. aneinanderstoßen sehen dieses Untergehende, das in toten, abstrakten Ideen leben will und sich von ihnen vormacht, daß sie irgend etwas Bedeutsames wären, und das den Menschenkeim, der allein zukunftsträchtig ist, Ergreifenwollende. Ich habe öfter auf jenes bedeutsame Gespräch aufmerksam gemacht, welches Goethe mit Schiller geführt hat, als beide einmal in einer Versammlung der Naturforschenden Gesellschaft in Jena waren, da der Botaniker Batsch über die Pflanzen vorgetragen hat, wo dann Schiller beim Weggange zu Goethe sagte: Die botanische Anschauung ist doch etwas, was alles zerstückelt, das Verbindende austreibt. - Goethe zeichnete darauf seine Pflanzenmetamorphose mit einigen charakteristischen Strichen vor Schiller hin. Da sagte dieser: Das ist aber keine Erfahrung, das ist eine Idee. - Schiller konnte sich nicht aufschwingen zu der Anschauung von dem zukunftsträchtigen Menschen, daß dieser dann auch wieder finden könne das Zukunftsträchtige draußen in der Welt, nämlich das Übersinnliche. Daher erwiderte er Goethe: Das ist keine Erfahrung, keine Beobachtung, das ist eine Idee. - Goethe sagte darauf: Dann sehe ich meine Ideen mit Augen. - Für ihn war das, was er aufzeichnete, etwas, was er auch schaute, was ihm gerade so wirklich war, wie etwas mit den physischen Sinnen Angeschautes. Da stand derjenige, der, wie Schiller, nicht zu dem Übersinnlichen hinaufschauen konnte, sondern dem nur die tote abstrakte Idee vorschwebte, dem Goethe gegenüber, der aus dem in der Natur Erkannten das herausholen wollte, was das Zukunftsträchtige, das Unvergängliche im Menschen ist, demgegenüber alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist, das er verbinden wollte mit dem Unvergänglichen, und der deshalb nicht verstanden wurde, weil er auf etwas Übersinnliches, Unvergängliches, wie auf etwas Sinnliches hinschaute. Deshalb muß das notwendige Erfordernis für unsere Zeit der weiter ausgebildete, in seinem Gebiete weitergebildete Goetheanismus sein. Und erst dann wird es hell werden, wenn man einsehen wird, daß so etwas wie die einzelnen Konfessionen, auch die mosaische, besonders die katholische, nur die Fortsetzungen sind des Alten, nicht mehr Seinsollenden, und so in die Entwickelung hereinragen wie etwas Abdorrendes, daher sich nur durch äußere Macht Festsetzendes, und wie neben diesem Alten, Hereinragenden sich dasjenige aufpflanzt, was von vornherein nur das Vergängliche mitnehmen will für die Zukunft. Was so sich ausspricht, daß es nur mitnehmen will das Vergängliche, das ist der Amerikanismus. Darauf beruht ja die Verwandtschaft zwischen Amerikanismus und Jesuitismus, von der ich das letzte Mal gesprochen habe.

Allen diesen Dingen steht gegenüber der Goetheanismus. Ich meine damit auch wieder nicht etwas dogmatisch Festzusetzendes, sondern Namen muß man gebrauchen für etwas, das weit über den Namen hinausgeht. Ich verstehe unter Goetheanismus nicht das, was Goethe bis zum Jahre 1832 gedacht hat, wohl aber etwas, was vielleicht erst im nächsten Jahrtausend im Sinne Goethes gedacht werden kann, was aus der Goetheschen Anschauung, aus dem Goetheschen Vorstellen und Empfinden werden kann. Darauf ist es zurückzuführen, daß gerade in dem, was mit dem Goetheanismus in irgendeinem Zusammenhange steht, alles Abdorrende seinen eigentlichen Feind sieht.“ (Lit.:GA 181, S. 422)

Schiller charakterisierte Goethes ganzheitlich orientierte Geistesart in seinem berühmten Brief vom 23. August 1794 wie folgt:

„Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Ferne, dem Gang Ihres Geistes zugesehen, und den Weg, den Sie sich vorgezeichnet haben, mit immer erneuerter Bewunderung bemerkt. Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schweresten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen. Dadurch, daß Sie ihn der Natur gleichsam nacherschaffen, suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen. Eine große und wahrhaft heldenmäßige Idee, die zur Genüge zeigt, wie sehr Ihr Geist das reiche Ganze seiner Vorstellungen in einer schönen Einheit zusammenhält. Sie können niemals gehofft haben, daß Ihr Leben zu einem solchen Ziele zureichen werde, aber einen solchen Weg auch nur einzuschlagen, ist mehr werth, als jeden andern zu endigen ...“ (Lit.: Friedrich Schiller, Brief an Goethe, 23. August 1794 online)

Goethes Forschungsmethode

Die phänomenologische Methode

Hauptartikel: Phänomenologie

Goethe hat seine naturwissenschaftlichen Untersuchungen auf eine reine Phänomenologie gegründet und mit dieser die Grundlagen für den Goetheanismus geschaffen. Seine phänomenologische Methode beruht auf der systematische Untersuchung der Erscheinungen, d. h. der Phänomene, wie sie sich der sinnlichen Anschauung als unmittelbar Gegebenes darbieten und sich in ihrem objektiven, in den Phänomenen selbst liegenden gesetzmäßigen Zusammenhang dem einsichtigen, nicht spekulativen Denken offenbaren.

In Wilhelm Meisters Wanderjahre charakterisiert Goethe die Eckpfeiler seiner naturwissenschaftlichen Forschungsmethode aphoristisch wie folgt:

„Als getrennt muß sich darstellen: Physik von Mathematik. Jene muß in einer entschiedenen Unabhängigkeit bestehen und mit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräften in die Natur und das heilige Leben derselben einzudringen suchen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von ihrer Seite leistet und tut. Diese muß sich dagegen unabhängig von allem Äußern erklären, ihren eigenen großen Geistesgang gehen und sich selber reiner ausbilden, als es geschehen kann, wenn sie wie bisher sich mit dem Vorhandenen abgibt und diesem etwas abzugewinnen oder anzupassen trachtet...

Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre...

Wenn ich mich beim Urphänomen zuletzt beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornierten Individuums...

Hypothesen sind Wiegenlieder, womit der Lehrer seine Schüler einlullt; der denkende treue Beobachter lernt immer mehr seine Beschränkung kennen, er sieht: je weiter sich das Wissen ausbreitet, desto mehr Probleme kommen zum Vorschein...“

Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre', 2. Buch, 11. Kapitel[2]

Die Betonung des qualitativen Elements

Galileo Galilei, Porträt von Justus Sustermans, 1636.

Die quantitative Erfassung der Naturerscheinung steht bei der herkömmlichen Naturwissenschaft im Vordergrund. "Messen, was messbar ist, und messbar machen, was nicht messbar ist", war hier seit Galilei der oberste Grundsatz. Messinstrumente, die die Naturerscheinungen quantitativ fassbar machen, sollen so weit als möglich die unmittelbare sinnliche Beobachtung ersetzen. Daran schließt sich eine mathematische Beschreibung der experimentell gefundenen Regelmäßigkeiten. Mathematisch formulierte Hypothesen werden dann aufgestellt, die diese Regelmäßigkeiten erklären sollen. Der Mensch als Beobachter wird aus der Theorienbildung vollkommen ausgeschlossen. Man strebt nach einer rein objektiven Naturbeschreibung, in der das betrachtende Subjekt keinen Platz hat. Die Natur ist fertig auch ohne den Menschen und die Naturgesetze wären dieselben, auch wenn es keine Menschen gäbe. Diese Methode hat sich ganz besonders an den mechanischen Erscheinungen bewährt und die hier gewonnenen Erkenntnisse wurden dann sinngemäß auch auf alle anderen Naturerscheinungen übertragen. So entstand zunächst eine rein mechanistische, kausale Formulierung der Naturgesetze. Das Kausalitätsprinzip wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die von Max Planck begründete Quantentheorie erschüttert.

Goethe strebte demgegenüber nach einer systematischen reinen Phänomenologie der sinnlich erfahrbaren Erscheinungen. Er fragt nicht nach Ursachen, sondern nach den Bedingungen, unter denen die Phänomene erscheinen. Goethe sucht kein verborgenes Wesen hinter den Erscheinungen, sondern dieses gibt sich, wie er meint, durch die Phänomene selber kund:

"Ob man nicht, indem von den Farben gesprochen werden soll, vor allen Dingen des Lichtes zu erwähnen habe, ist eine ganz natürliche Frage, auf die wir jedoch nur kurz und aufrichtig erwidern: es scheine bedenklich, da bisher schon so viel und mancherlei von dem Lichte gesagt worden, das Gesagte zu wiederholen oder das oft Wiederholte zu vermehren.

Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.

Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden. In diesem Sinne können wir von denselben Aufschlüsse über das Licht erwarten. Farben und Licht stehen zwar untereinander in dem genausten Verhältnis, aber wir müssen uns beide als der ganzen Natur angehörig denken: denn sie ist es ganz, die sich dadurch dem Sinne des Auges besonders offenbaren will.

Ebenso entdeckt sich die ganze Natur einem anderen Sinne. Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte der Vernunft ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben und ihre Verhältnisse offenbart, so daß ein Blinder, dem das unendlich Sichtbare versagt ist, im Hörbaren ein unendlich Lebendiges fassen kann.

So spricht die Natur hinabwärts zu andern Sinnen, zu bekannten, verkannten, unbekannten Sinnen; so spricht sie mit sich selbst und zu uns durch tausend Erscheinungen. Dem Aufmerksamen ist sie nirgends tot noch stumm ..." (Goethe: Zur Farbenlehre, Vorwort)

Rudolf Steiner (1919)

Rudolf Steiner charakterisiert den Ausgangspunkt von Goethes Forschungsmethode so:

"Goethe hat - ich habe das durch viele Jahre hindurch in der verschiedensten Weise dargestellt - eigentlich eine ganz andere Richtung der Naturforschung gefordert, als diejenige ist, die dann im 19. Jahrhundert und für unsere Zeit noch entstanden ist. Goethe wollte nämlich aus der Naturforschung etwas ausgemerzt haben, was ja für das gewöhnliche Leben eine Berechtigung hat, aber aus der Forschung wollte er es ausgemerzt haben. Immer wieder und wiederum kommt er darauf zurück, dieses Bestimmte aus der Forschung auszumerzen. Das, was er ausmerzen wollte, das war nämlich das Kombinieren, das Interpretieren der Tatsachen, die sinnlich wahrgenommen werden. Er wollte, daß nur die Tatsachen, die sinnlich wahrgenommen werden, ihrer eigenen Natur nach als Phänomene beschrieben werden; er wollte die sinnlichen Phänomene auf ihre Urphänomene zurückführen, aber nicht kombinieren mit dem Verstande: Was liegt da oder dort zugrunde? - Einen wunderschönen Ausspruch, der über die ganze Goethesche Weltanschauung hinleuchtet, hat Goethe getan, indem er sagte: Die Bläue des Himmels ist selber schon Theorie, man suche nur nichts hinter ihr.

Das reine Anschauen, das ist dasjenige, was Goethe gesucht haben will. Und den Verstand wollte er nur dazu benützt haben, um die Phänomene so zusammenzustellen, daß sie selbst ihre Geheimnisse aussprechen. Goethe wollte eine hypothesenfreie, eine von Verstandeskombination freie Naturforschung haben. Das liegt auch seiner Farbenlehre zugrunde. Man hat gar nicht verstanden, um was es sich bei diesen Dingen handelt." (Lit.: GA 180, S. 69)

Das qualitative Element steht bei Goethe im Vordergrund. Die Sinnesqualitäten selbst, die bei der herkömmlichen naturwissenschaftlichen Methode als vorgeblich rein subjektive Erscheinungen aus der wissenschaftlichen Theorienbildung völlig ausgeklammert werden, rücken bei Goethe gerade in den Mittelpunkt der naturwissenschaftlichen Betrachtung. Einer von den beobachteten Phänomenen abgezogenen, rein gedanklich formulierten spekulativen Theorie bedarf es dazu nicht.

Über die Wirklichkeit der Sinnesqualitäten

Seit John Locke hat man unglücklicherweise zwischen primären und sekundären Sinnesqualitäten unterschieden. Farben etwa seien nur sekundäre subjektive Phänomene, die durch die primären objektiven Bewegungsvorgänge in der Natur ausgelöst würden. Immer wieder hat man argumentiert, dass man niemals wissen könne, ob ein anderer Mensch die Farben genauso erlebt wie wir, während wir bezüglich der Größe und Form der materiellen Gegenstände sehr leicht zu einer allgemeinen Übereinstimmung kommen könnten. Diese Argumentation ist aber grundfalsch. Sie beruht auf einer Verwechslung des sinnlich gegebenen Wahrnehmungsfaktors mit der gedanklich erkannten Gesetzmäßigkeit. Bezüglich Form und Größe der Gegenstände springen uns so schnell die zugrunde liegenden geometrischen Gesetzmäßigkeiten entgegen, dass wir gar nicht bemerken, dass wir es hier bereits mit einer gedanklichen Durchdringung der Wahrnehmung zu tun haben. Hinsichtlich diesen gedanklich erfassten geometrischen Gegebenheiten kommen wir tatsächlich sehr schnell zu einer allgemeinen Übereinstimmung. Bei den Farbphänomenen kommen uns die damit verbundenen Gesetzmäßigkeiten nicht so unmittelbar zu Bewusstsein. Goethe wollte durch seine Farbenlehre gerade diese Gesetze, die nicht weniger objektiv sind als die geometrischen, bewusst machen. Hell und Dunkel, Rot und Grün, Violett und Blau usw. können genau so sicher unterschieden werden wie Dreiecke, Vierecke und Kreise. Und so wie es ganz oder teilweise farbenblinde Menschen gibt, gibt es auch Menschen die aufgrund neurologischer Defekte für bestimmte Formprinzipen blind sind.

"Aus der Idee des Gegensatzes der Erscheinung, aus der Kenntnis, die wir von den besondern Bestimmungen desselben erlangt haben, können wir schließen, dass die einzelnen Farbeindrücke nicht verwechselt werden können, dass sie spezifisch wirken und entschieden spezifische Zustände in dem lebendigen Organ hervorbringen müssen." (Goethe: Zur Farbenlehre, § 761)

Für die bloße Subjektivität der Farbeindrücke wurde oft das 1826 von Johannes Peter Müller formulierte Gesetz der spezifischen Sinnesenergien ins Treffen geführt. Das Auge bringt immer nur Licht- und Farberscheinungen hervor, egal ob es durch Stoß, Druck, elektrische Reizung oder eben auch durch äußeres Licht erregt wird. Die Farbqualitäten hätten daher unmittelbar gar nichts mit dem äußeren Reiz zu tun, sondern sie sind nur Erscheinungen innerhalb des Auges. In Wahrheit bestätigt das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien aber nur das hier schon Gesagte. Jedes Sinnesorgan vermag eben grundsätzlich nur die seiner Natur entsprechenden Wahrnehmungsqualitäten zu zeigen, die es auch selbst hervorzubringen vermag. Es übersetzt alle Reize in die ihm gemäße Sprache. Wird das Auge durch Druck, Stoß oder elektrische Impulse erregt, entstehen dabei aber nur sehr unspezifische Farbeindrücke, die wenig über die Außenwelt aussagen – eben nur, dass da ein Stoß, Druck oder elektrischer Impuls als allgemeiner äußerer Reiz vorhanden war. Erst dem Licht gegenüber, durch das und für das es geschaffen wurde, entfaltet es seine volle Leistungsfähigkeit. Dieses Prinzip gilt aber für den Eigenbewegungssinn, durch den wir Formen wahrnehmen, nicht minder.

Die wissenschaftliche Strenge der Methode

Die quantitative Erfassung der Natur erschien Goethe zwar zweitrangig, doch forderte er sehr nachdrücklich eine voll besonnene, geradezu mathematische Strenge und Folgerichtigkeit für seine Forschungsmethode. Goethe geht etwa in seiner Farbenlehre Schritt für Schritt so bedächtig voran, dass sich die Gesetze der Farbenwelt so enthüllen, dass er darüber, wie er selbst sagt, dem strengsten Geometer vollständig Rechnung legen könnte:

„Diese Bedächtlichkeit, nur das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären." (Goethe: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt)

"Man hat Goethe den Vorwurf gemacht, er habe die mechanische Betrachtung der Natur verworfen und sich nur auf die Beobachtung und Aneinanderreihung des Sinnlich-Anschaulichen beschränkt. Vgl. z.B. Harnack in seinem Buche «Goethe in der Epoche seiner Vollendung», S. 12) Du Bois-Reymond findet («Goethe und kein Ende», Leipzig 1883, S.29): «Goethes Theoretisieren beschränkt sich darauf, aus einem Urphänomen, wie er es nennt, andere Phänomene hervorgehen zu lassen, etwa wie ein Nebelbild dem andern folgt, ohne einleuchtenden ursächlichen Zusammenhang. Der Begriff der mechanischen Kausalität war es, der Goethe gänzlich abging.» Was tut aber die Mechanik anderes, als verwickelte Vorgänge aus einfachen Urphänomenen hervorgehen lassen? Goethe hat auf dem Gebiete der Farbenwelt genau dasselbe gemacht, was der Mechaniker im Gebiete der Bewegungsvorgänge leistet. Weil Goethe nicht der Ansicht ist, alle Vorgänge in der unorganischen Natur seien rein mechanische, deshalb hat man ihm den Begriff der mechanischen Kausalität aberkannt. Wer das tut, der zeigt nur, daß er selbst im Irrtum darüber ist, was mechanische Kausalität innerhalb der Körperwelt bedeutet. Goethe bleibt innerhalb des Qualitativen der Licht- und Farbenwelt stehen; das Quantitative, Mechanische, das mathematisch auszudrücken ist, überläßt er andern. Er «hat die Farbenlehre durchaus von der Mathematik entfernt zu halten gesucht, ob sich gleich gewisse Punkte deutlich genug ergeben, wo die Beihilfe der Meßkunst wünschenswert sein würde ... Aber so mag auch dieser Mangel zum Vorteil gereichen, indem es nunmehr des geistreichen Mathematikers Geschäft werden kann, selbst aufzusuchen, wo denn die Farbenlehre seiner Hilfe bedarf, und wie er zur Vollendung dieses Teils der Naturlehre das Seinige betragen kann.» (§ 727 des didaktischen Teiles der Farbenlehre.) Die qualitativen Elemente des Gesichtssinnes: Licht, Finsternis, Farben müssen erst aus ihren eigenen Zusammenhängen begriffen, auf Urphänomene zurückgeführt werden; dann kann auf einer höheren Stufe des Denkens untersucht werden, welcher Bezug besteht zwischen diesen Zusammenhängen und dem Quantitativen, dem Mechanisch-Mathematischen in der Licht- und Farbenwelt. Die Zusammenhänge innerhalb des Qualitativen der Farbenwelt will Goethe in ebenso strengem Sinne auf die einfachsten Elemente zurückführen, wie das der Mathematiker oder Mechaniker auf seinem Gebiete tut." (Rudolf Steiner: Goethes Weltanschauung, GA 6, im Kapitel: Die Betrachtung der Farbenwelt)

Goetheanismus als Grundlage einer hypothesenfreien Naturwissenschaft

Goethe hat nicht weniger geleistet, als die Grundlage für eine in letzter Gestalt völlig hypothesenfreie Naturwissenschaft zu geben. Sicher, auf dem Weg dorthin sind Arbeitshypothesen, die unsere Aufmerksamkeit auf weitere Phänomene lenken können, notwendig und hilfreich, aber letztendlich geben die Phänomene selbst in ihrem lückenlosen Zusammenhang die ganze Lehre. Wir haben nicht mehr bloß ein hypothetisches Wissen, dass der Revision durch künftige theoretische Ansätze harrt, sondern wir stehen, indem wir uns niemals von der Wahrnehmung entfernen, unmittelbar erlebend in der Wahrheit drinnen.

"Die Phänomene, die wir andern auch wohl Fakta nennen, sind gewiss und bestimmt ihrer Natur nach, hingegen oft unbestimmt und schwankend, insofern sie erscheinen. Der Naturforscher sucht das Bestimmte der Erscheinungen zu fassen und festzuhalten, er ist in einzelnen Fällen aufmerksam, nicht allein wie die Phänomene erscheinen, sondern auch, wie sie erscheinen sollten. Es gibt, wie ich besonders in dem Fache, das ich bearbeite, oft bemerken kann, viele empirische Brüche, die man wegwerfen muss, um ein reines konstantes Phänomen zu erhalten; allein sobald ich mir das erlaube, so stelle ich schon eine Art von Ideal auf.

Es ist aber dennoch ein großer Unterschied, ob man, wie Theoristen tun, einer Hypothese zulieb ganze Zahlen in die Brüche schlägt oder ob man einen empirischen Bruch der Idee des reinen Phänomens aufopfert.

Denn da der Beobachter nie das reine Phänomen mit Augen sieht, sondern vieles von seiner Geistesstimmung, von der Stimmung des Organs im Augenblick, von Licht, Luft, Witterung, Körpern, Behandlung und tausend andern Umständen abhängt, so ist ein Meer auszutrinken, wenn man sich an die Individualität des Phänomens halten und diese beobachten, messen, wägen und beschreiben will.

Bei meiner Naturbeobachtung und Betrachtung bin ich folgender Methode, soviel als möglich war, besonders in den letzten Zeiten treu geblieben.

Wenn ich die Konstanz und Konsequenz der Phänomene, bis auf einen gewissen Grad, erfahren habe, so ziehe ich daraus ein empirisches Gesetz und schreibe es den künftigen Erscheinungen vor.

Passen Gesetz und Erscheinungen in der Folge völlig, so habe ich gewonnen, passen sie nicht ganz, so werde ich auf die Umstände der einzelnen Fälle aufmerksam gemacht und genötigt, neue Bedingungen zu suchen, unter denen ich die widersprechenden Versuche reiner darstellen kann; zeigt sich aber manchmal, unter gleichen Umständen, ein Fall, der meinem Gesetz widerspricht, so sehe ich, dass ich mit der ganzen Arbeit vorrücken und mir einen höhern Standpunkt suchen muss.

Dieses wäre also, nach meiner Erfahrung, derjenige Punkt, wo der menschliche Geist sich den Gegenständen in ihrer Allgemeinheit am meisten nähern, sie zu sich heranbringen, sich mit ihnen (wie wir es sonst in der gemeinen Empirie tun) auf eine rationelle Weise gleichsam amalgamieren kann.

Was wir also von unserer Arbeit vorzuweisen hätten, wäre:

1. Das empirische Phänomen,

das jeder Mensch in der Natur gewahr wird und das nachher

2. zum wissenschaftlichen Phänomen

durch Versuche erhoben wird, indem man es unter andern Umständen und Bedingungen, als es zuerst bekannt gewesen, und in einer mehr oder weniger glücklichen Folge darstellt.

3. Das reine Phänomen

steht nun zuletzt als Resultat aller Erfahrungen und Versuche da. Es kann niemals isoliert sein, sondern es zeigt sich in einer stetigen Folge der Erscheinungen. Um es darzustellen, bestimmt der menschliche Geist das empirisch Wankende, schließt das Zufällige aus, sondert das Unreine, entwickelt das Verworrene, ja entdeckt das Unbekannte.

Hier wäre, wenn der Mensch sich zu bescheiden wüsste, vielleicht das letzte Ziel unserer Kräfte. Denn hier wird nicht nach Ursachen gefragt, sondern nach Bedingungen, unter welchen die Phänomene erscheinen; es wird ihre konsequente Folge, ihr ewiges Wiederkehren unter tausenderlei Umständen, ihre Einerleiheit und Veränderlichkeit angeschaut und angenommen, ihre Bestimmtheit anerkannt und durch den menschlichen Geist wieder bestimmt.

Eigentlich möchte diese Arbeit nicht spekulativ genannt werden, denn es sind am Ende doch nur, wie mich dünkt, die praktischen und sich selbst rektifizierenden Operationen des gemeinen Menschenverstandes, der sich in einer höhern Sphäre zu üben wagt." (Goethe: Erfahrung und Wissenschaft)

Der ganzheitliche Charakter von Goethes Forschungsmethode

Sehr energisch trat Goethe allen Bestrebungen des Reduktionismus entgegen, der allerdings in der Zeit nach ihm zur vorherrschenden naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode wurde. Goethe war dem gegenüber der Ansicht, dass man das Wesen der Natur umfassend kennen lernen kann, indem man auch nur die Phänomene einer bestimmten einzelnen Sinnessphäre gründlich studiert. Ein Rückgriff auf Phänomene aus einem anderen Sinnesbereich ist dazu nicht nötig und auch nicht hilfreich. Goethe war überzeugt, dass sich durch jeden unserer Sinne jeweils die ganze Natur, allerdings auf besondere Weise, offenbart – nicht in allen ihren Einzelheiten, das ist nicht gemeint, sondern ihrem Wesen nach. Über die Farbe sagt Goethe:

"Auch zu schmecken ist sie. Blau wird alkalisch, gelbrot sauer schmecken. Alle Manifestationen der Wesen sind verwandt." (Goethe: Sprüche in Prosa, 4. Abt. – Naturwissenschaft)

So gehören beispielsweise Schwingungen oder Bewegungen kleinster Lichtteilchen nicht in den Bereich des Sehsinns und haben keine Bedeutung für die Erklärung der Farbphänomene. Schwingungen und Bewegungen gehören in den Bereich des Eigenbewegungssinns, vielleicht auch in die Region des Tastsinns oder des Gleichgewichtssinns, haben aber ganz und gar nichts mit unserem Lichtsinn zu tun. Von der Bewegung führt kein Weg zur von uns erlebten Farbqualität. Man hat es hier mit völlig unterschiedlichen Erlebnisqualitäten zu tun, die grundsätzlich nicht aufeinander rückführbar sind. Das schließt ja keineswegs aus, dass sich dort, wo wir Farben erleben, auch Bewegungsvorgänge konstatieren lassen. Zu einem Verständnis der erlebten Farbphänomene tragen sie aber nichts bei.

Die in verschiedenen Sinnessphären gewonnen Erkenntnisse, können zwar nicht auseinander abgeleitet, also Farben nicht etwa durch Bewegungsvorgänge erklärt, wohl aber aufeinander bezogen und miteinander verglichen werden. Das kann einer umfassenden wissenschaftlichen Betrachtung der Natur nur förderlich sein - allerdings nur dann, wenn zuvor jedes Gebiet für sich umfassend und gründlich erforscht wurde, denn sonst wäre die Versuchung zu groß, fehlende Elemente in dem einen Bereich durch solche aus dem anderen zu ersetzen, was aber gerade dem goetheanistischen Forschungsansatz grundlegend widerspricht! Gelingt es aber, die verschiedenen Sinnessphären in fruchtbarer Weise aufeinander zu beziehen, so wird man um so deutlicher sehen, wie sich das Wesen der Natur in jedem Bereich voll und ungebrochen auf spezielle Art und Weise ausspricht und dieses Wesen der Natur wird dann insgesamt noch viel deutlicher hervortreten. Was Goethe mit seiner Farbenlehre exemplarisch geleistet hat, wird damit zur umfassenden Goetheanistischen Naturwissenschaft erweitert. Gerade dadurch können wir uns mit der wissenschaftlichen Erforschung auch an Naturbereiche heranwagen, für die wir ein unmittelbares Sinnesorgan nicht haben. Für chemische Phänomene etwa haben wir kein solches unmittelbares Sinnesorgan. Rudolf Steiner hat später aus seiner übersinnlichen geistigen Forschung von dem sog. chemischen Äther gesprochen, der mit den chemischen Phänomenen ähnlich zusammenhängt wie der Lichtäther mit den Farberscheinungen. Man bedarf aber nicht der hellsichtigen Forschung, um sich in diese Seite des Naturwesens zu vertiefen. Die chemischen Phänomene offenbaren sich auch durch all die Sinne, die wir haben. Sie zeigen sich in charakteristischen Färbungen, in Kristallformen, Gerüchen, Geschmacksvarianten usw. In dem wir all diese Erscheinungen in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang zusammenschauen, ergibt sich letztlich auch ein klares Bild dieses sinnlich zunächst nicht direkt zugänglichen Weltbereichs. Manches dazu hat schon Goethe geleistet in seinen Arbeiten über die chemischen Farben.

Es liegt im Wesen der goetheanistischen Naturbeobachtung, die Phänomene in ihrem natürlichen Zusammenhang zu betrachten, aus dem sie durch einen durch künstliche Instrumente verengten Beobachtungsfeld nur allzu leicht herausgerissen werden. So läßt sich Lebendiges nicht umfassend verstehen, wenn man allein den mikroskopischen Blick auf Zellen und Zellbestandteile richtet, sondern nur, wenn man dazu auch den Blick bis in kosmische Weiten richtet, wie es Goethe so treffend in seiner Faust-Dichtung ausgedrückt hat:

"Das ist die Eigenschaft der Dinge:
Natürlichem genügt das Weltall kaum,
Was künstlich ist, verlangt geschlossnen Raum.
(Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Laboratorium)

Polarität und Steigerung

Farbenkreis, Zeichnung von Goethe

Wenn wir einen breiten leuchtenden Spalt durch ein Glasprisma betrachten, treten uns die selben gegensätzlichen Farbphänomene entgegen. An der einen Kante des Spalts erscheinen rot-gelbe Farbsäume, an der anderen blau-violette. Die Farberscheinungen treten also überhaupt nur an den Kanten auf, die weiße Fläche selbst bleibt weiß wie zuvor.

Hier offenbart sich eine in der Natur begründete Polarität der Farberscheinungen. Die blau-violetten Farbtöne, die wir als eher kühl und passiv empfinden, stehen den aktiven, warmen rot-gelben Farben gegenüber. Der Begriff der Polarität ist ganz wesentlich für Goethes Methode. Licht und Finsternis, oder besser Hell und Dunkel, sind die Urpolarität, mit der wir es hier zu tun haben. Durch Abdunklung des Hellen bzw. durch Aufhellung des Dunklen springen die ersten Farberscheinungen hervor, die einander ebenfalls wieder polar gegenüberstehen.

Durch die Wechselwirkung dieser beschriebenen polaren Farberscheinungen können wir zu neuen, komplexeren Phänomenen fortschreiten. So entsteht das Grün erst, wieder auf unmittelbar nachvollziehbare Weise, durch die Mischung von Gelb und Blau. Damit sind wir aber bereits beim vollständigen Sonnenspektrum angekommen, das von Rot, über Orange, Gelb und Grün bis hin zu Blau, Indigo und Violett reicht. Das volle Spektrum zeigt sich etwa, wenn man einen sehr engen leuchtenden Spalt durch ein Glasprisma betrachtet. Dann mischt sich das Gelb des einen Kantenspektrums mit dem Blau des anderen und lässt in der Mitte das Grün erscheinen. Betrachtet man hingegen einen schmalen dunklen Streifen durch das Prisma, so entsteht das umgekehrte Sonnenspektrum, wobei in der Mitte als neue Farbe das Pfirsichblüt (reines Purpur) auftritt, das im normalen Sonnenspektrum gar nicht vorkommt.

Die Purpurfarbe kann durch Steigerung erreicht werden, indem das Rote und das Violette in Wechselwirkung treten. Die Steigerung ist ein weiterer für Goethes Forschungsweise grundlegender Begriff. Steigerung ist mehr als bloße Mischung. Wir steigen dadurch zu einem höheren, geistigeren Phänomenbereich auf. Natur und Geist sind für Goethe niemals unüberbrückbare Gegensätze. Was ihn bei seiner Naturforschung zutiefst beseelte "... ist die Anschauung der zwei großen Triebräder aller Natur: der Begriff von Polarität und von Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sichs der Geist nicht nehmen lässt, anzuziehen und abzustoßen; wie derjenige nur allein zu denken vermag, der genugsam getrennt hat, um zu verbinden, genugsam verbunden hat, um wieder trennen zu mögen." (Goethe: Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz "Die Natur" an den Kanzler von. Müller vom 24. Mai 1828)

Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt

Die Farben sind genau so wenig bloß subjektiv, wie die Bewegungsvorgänge rein objektiv sind. Beide existieren nur in Bezug auf eine bestimmte Wahrnehmungssphäre. Die Wirklichkeit offenbart sich immer nur in der Beziehung des Subjekts zum Objekt. Der vom Subjekt völlig losgelöste und als eigenständig für sich bestehend gedachte Objektbegriff ist etwas ganz Sinnloses. Das Objekt, ob man es als räumlichen geformten Gegenstand, als besonderen Duft, als weithin klingenden Ton oder als differenziertes Farbphänomen auffasst, ist eine Erscheinung, die nur für ein Wesen mit ganz spezifisch gearteten Sinnesorganen hervortritt. Es hat schlichtweg keine Existenz für sich allein. Das gilt gleichermaßen für alle Sinnesbereiche, von denen keiner vor den anderen grundsätzlich ausgezeichnet ist. Bewegungsvorgänge mögen leichter quantitativ erfassbar und besser in mathematische Formeln zu pressen sein; das mag für die folgerichtige wissenschaftliche Beschreibung der Phänomene hilfreich gewesen sein – sie sind deswegen aber um nichts wirklicher als die Farbphänomene. Dass man in einem weitgehend materialistisch gesinnten Zeitalter die Dinge, die man mit den Händen greifen kann, für wirklicher als alles andere hält, kann wenig verwundern. Aber man bleibt dadurch nur in dem verbreitetsten Vorurteil unserer Tage befangen. In Wahrheit ist jedes Wahrnehmungsbild, auch das gegenständliche, durch die Natur des wahrnehmenden Wesens mitbestimmt. Es ist eben überhaupt ganz sinnlos, zu sagen: So sieht die Natur an sich aus! Jeder Anblick der Natur – Anblick jetzt als Synonym für alle möglichen Sinneserfahrungen genommen – ist nur in Relation zu einem ganz bestimmt gearteten Beobachter mit ganz bestimmt gearteten Sinnesorganen gegeben. Das heißt beileibe nicht, dass die Sinnesorgane die Wirklichkeit verfälschen; das heißt auch keineswegs, dass uns, wie Immanuel Kant meinte, das "Ding an sich" notwendig verschlossen bleiben muss. Es gibt schlicht und einfach gar kein Ding an sich. Die räumlich erlebten Dinge sind nicht wirklicher oder weniger wirklich als die Farben, und durch beide offenbart sich zugleich die ganze Wirklichkeit, aber auf jeweils besondere Weise. Die Wirklichkeit, die nach dem eben Gesagten nun keinesfalls gegenständlich materiell gedacht werden kann, steht jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt. Wir müssen streng unterscheiden zwischen Wirklichkeit und Erscheinung. Alle Wahrnehmung ist notwendig nur Erscheinung, nicht die Wirklichkeit selbst, aber ebenso notwendig zugleich Erscheinung, durch die sich die Wirklichkeit auf spezifische Weise rückhaltlos in ihrem Wesen kundgibt.

"Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur
Außenwelt, so heiß ich’s Wahrheit. Und so kann
Jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist
Doch immer dieselbige." (Goethe: Maximen und Reflexionen)

Andere Wesen mögen mehr oder weniger und ganz anders geartete Sinnesorgane als wir besitzen. Sie werden dementsprechend die Welt reicher oder ärmer, aber jedenfalls ganz anders als wir erleben. Aber egal wie ihre Wahrnehmungsorgane auch geartet sein mögen, immer offenbart sich durch sie die Natur als ganzes und immer ist dabei zugleich das Wahrnehmungsbild abhängig von ihrer eigenen Natur, von der Natur des beobachtenden Wesens. Wahrnehmungsbilder sind immer subjektiv und objektiv zugleich und keines ist bezüglich seines Wirklichkeitsgehalts dem anderen gegenüber bevorzugt. Durch jedes von ihnen können wir das Wesen der Natur ganz erkennen, von prinzipiellen Grenzen der Erkenntnis kann daher diesbezüglich nicht gesprochen werden. Das heißt selbstverständlich nicht, dass wir damit auch alle Einzelheiten des Naturgeschehens erfahren, die sich vielleicht nur ganz anders gearteten Sinnen offenbaren.

Zur Wirklichkeit können wir also nur vordringen, wenn wir ganz bewusst und besonnen die Verbindung von Subjekt und Objekt suchen. Goethe hat die diesbezüglichen Grundprinzipen seiner Forschungsmethode sehr ausführlich in dem etwa 1794 entstandenen Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt besprochen.

Der wahrnehmende Mensch und die Verwendung von Messinstrumenten

Der Verwendung künstlicher Messinstrumente stand Goethe weitgehend skeptisch gegenüber, insoferne sie den Menschen von der unmittelbaren Wahrnehmung der Natur absondern und nur einseitig ein rein quantitatives Bild der Naturerscheinungen wiedergeben. Erst im Menschen stellen sich die Phänomene in ihrem allseitigen qualitativen Zusammenhang dar, den zu erforschen das eigentliche Ziel der goetheanistischen Naturwissenschaft ist.

"Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann; und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.

Ebenso ist es mit dem Berechnen. - Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen läßt, sowie sehr vieles, was sich nicht bis zum entschiedenen Experiment bringen läßt.

Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja man kann sagen: was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können." (Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, Goethe-HA Bd. 8, S. 473-474)

Die Verwendung künstlicher Instrumente, die die natürlichen Grenzen der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit erweitern, wie beispielsweise Mikroskope oder Teleskope, ist aus goetheanistischer Sicht durchaus zulässig und wünschenswert, sofern man sich dabei stets bewusst bleibt, dass sie das Beobachtungsfeld verengen und dadurch die Phänomene u.U. aus ihrem natürlichen Zusammenhang herauslösen. Goethe selbst hat mit großer Begeisterung mikroskopische Studien betrieben.

Anschauende Urteilskraft - die richtige Verbindung von Denken und Wahrnehmung

Hauptartikel: Anschauende Urteilskraft

Durch das Denken wird die begriffliche Seite der Phänomene zugänglich, die in Wirklichkeit untrennbar mit ihnen verbunden ist, die aber der bloßen sinnlichen Anschauung verborgen bleibt. Der begriffliche Zusammenhang ist Teil des Phänomens selbst. Er enthüllt sich, wenn den Phänomenen im Denken der Raum gegeben wird, sich selbst in ihren inneren wesenhaften Zusammenhängen auszusprechen. Das gelingt nur, wenn den sinnlich beobachtbaren Phänomenen nicht bereits fertige Denkmuster übergestülpt werden, sondern wenn man genug Geduld hat, zu warten, bis sich ihr Gedankeninhalt in der geistigen Anschauung selbst offenbart.

„Die Notwendigkeit, zur begrifflichen Erkenntnis fortzuschreiten, wäre schlechterdings nicht einzusehen, wenn der Begriff nichts Neues zur sinnenfälligen Anschauung hinzubrächte. Das reine Erfahrungswissen dürfte keinen Schritt über die Millionen Einzelheiten hinausmachen, die uns in der Anschauung vorliegen. Das reine Erfahrungswissen muß konsequenterweise seinen eigenen Inhalt negieren. Denn wozu im Begriffe noch einmal schaffen, was in der Anschauung ja ohnehin vorhanden ist? Der konsequente Positivismus müßte nach diesen Erwägungen einfach jede wissenschaftliche Arbeit einstellen und sich auf die bloßen Zufälligkeiten verlassen. Indem er das nicht tut, führt er tatsächlich aus, was er theoretisch verneint.“ (Lit.:GA 1, S. 155f)

Bei Goethe trennt sich das Denken niemals von den beobachteten Erscheinungen, sondern geht mit ihnen Hand in Hand – eine Methode, die zurecht als "Anschauende Urteilskraft" bezeichnet werden darf:

"Herr Dr. Heinroth in seiner Anthropologie ... spricht von meinem Wesen und Wirken günstig, ja er bezeichnet meine Verfahrungsart als eine eigentümliche: dass nämlich mein Denkvermögen gegenständlich tätig sei, womit er aussprechen will: dass mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere; dass die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden; dass mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei; welchem Verfahren genannter Freund seinen Beifall nicht versagen will." (Goethe: Bedeutende Fördernis durch ein einziges geistreiches Wort)

Die herkömmliche naturwissenschaftliche Methode beruht darauf, aus der Fülle der sich dem Auge darbietenden sinnlichen Erscheinungen einige wenige, möglichst quantitativ erfaßbare Daten auszusondern und zu sehen, ob sie sich in einen gedanklich abstrakt beschreibbaren Zusammenhang stellen lassen. Von den nicht quantifizierbaren Sinnesqualitäten selbst wird dabei weitgehend abgesehen, das Denken selbst ist bildlos. Wo immer möglich, wird nach einer exakten mathematischen Formulierung der Naturgesetze gesucht. Die Natur wird derart zuerst zu einem abstrakten Gebilde reduziert, über das man dann abgesondert nachdenkt, ohne wieder den Anschluß an das volle Naturwesen zu suchen. Das ist auch nicht anders möglich, wenn man die Natur quantitativ erfassen will, man würde sonst in einer unendlichen Datenflut ertrinken. Dementsprechend konzentriert man sich bei seinen Untersuchungen auch stets auf einen eng umgrenzten Bereich, von dem man annimmt, daß er näherungsweise vom Rest der Welt unabhängig ist und aus sich heraus allein verstanden werden kann.

Im Gegensatz zum abstrakten Denken, das die gegenwärtige Naturwissenschaft kennzeichnet, darf man bei Goethe von einem sinnlich-konkreten Denken sprechen. Die »anschauende Urteilskraft« sucht das »Urbildliche, Typische« zu erfassen, die Idee der Sache, die sich aber der sinnlichen Erfahrung nicht unmittelbar enthüllt, sondern erst dem anschauenden Denken. Nur dadurch läßt sich die Natur ihrer Wirklichkeit nach erfahren. Wahrnehmung und Denken liefern jeweils für sich genommen nur eine Hälfte der Wirklichkeit, vollständig erfaßt wird sie erst, wenn sich Denken und Wahrnehmung durchdringen. Es ist der Grundirrtum der modernen Wissenschaft, daß sie in dem äußerlich Wahrnehmbaren, sei es direkt mittels der Sinne oder indirekt durch die verschiedensten Meßinstrumente, schon eine Wirklichkeit für sich sieht, von der sie sich ein gedankliches Abbild zu schaffen sucht. Die äußere Welt erscheint ihr objektiv und für sich selbst bestehend, die Gedanken, die sich der Mensch darüber bildet, werden als subjektiv betrachtet. Tatsächlich sind aber Subjekt und Objekt bloße Erscheinungen, die beide von der eigentlichen Wirklichkeit umgriffen werden. "Dem Denken ist jene Seite der Wirklichkeit zugänglich", sagt Rudolf Steiner, "von der ein bloßes Sinnenwesen nie etwas erfahren würde. Nicht die Sinnlichkeit wiederzukäuen ist es da, sondern das zu durchdringen, was dieser verborgen ist. Die Wahrnehmung der Sinne liefert nur eine Seite der Wirklichkeit. Die andere Seite ist die denkende Erfassung der Welt." (Lit.: GA 2, S. 63) Das menschliche Erkenntnisvermögen ist eben so gestaltet, daß sich dem Menschen die Wirklichkeit zunächst getrennt von zwei verschieden Seiten her erschließt, mithin solange bloße Erscheinung bleibt, bis er sie durch seine aktive geistige Tätigkeit vereinigt und so zur Wirklichkeit selbst durchbricht, die wie wir bereits gesehen haben, mehr umfaßt als die bloße dingliche Realität. Wie tief der Mensch in die Wirklichkeit der natürlichen Welt einzudringen vermag, wird davon abhängen, wie aufmerksam er ihre sinnliche Seite wahrzunehmen vermag, und wie viel er dem so sinnlich Wahrgenommenen durch sein mehr oder weniger reich entwickeltes Innenleben gedanklich entgegenzutragen vermag. Immer weitere Aspekte der Wirklichkeit können sich so dem Menschen eröffnen, je mehr er seine Beobachtungsgabe schult und je mehr er sein Innenleben bereichert. Durch passives Wahrnehmen allein kann die Natur nicht ihrer Wirklichkeit nach erfahren werden, sie will aktiv durch innere Tätigkeit ergriffen sein. Und dazu muß der Mensch innerlich seelisch die selben Schaffenskräfte rege machen, die in der Natur physisch gestaltend wirken. Das diskursive Denken reicht dazu nicht hin, sondern dazu ist ein intuitives Denken nötig, das das Urbildliche in den Phänomenen zu erfassen vermag. Ein derartiges intuitives Erkenntnisvermögen bezeichnete Kant als "intellectus archetypus", d.h. als urbildlichen Verstand. Goethe war sich bewußt, daß er gerade über ein solches sinnlich-übersinnliches urbildliches Anschauungsvermögen verfügte, das Kant zwar grundsätzlich für denkmöglich hielt, dem Menschen aber absprechen zu müssen glaubte. Goethe war hier entschieden anderer Meinung:

"Als ich die Kantische Lehre, wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch, in dem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete. Er mochte freilich bemerkt haben, wie anmaßend und naseweis der Mensch verfährt, wenn er behaglich, mit wenigen Erfahrungen ausgerüstet, sogleich unbesonnen abspricht und voreilig etwas festzusetzen, eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den Gegenständen aufzuheben trachtet. Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine reflektierende diskursive Urteilskraft, untersagt ihm eine bestimmende ganz und gar. Sodann aber, nachdem er uns genugsam in die Enge getrieben, ja zur Verzweiflung gebracht, entschließt er sich zu den liberalsten Äußerungen und überläßt uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen wollen, die er einigermaßen zugesteht. In diesem Sinne war mir folgende Stelle höchst bedeutend:

«Wir können uns einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besondern geht, das ist, von dem Ganzen zu den Teilen: Hierbei ist gar nicht nötig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte.» [Kant, Kritik der Urteilskraft, § 77]

Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen: so dürft' es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen." (Goethe: Anschauende Urteilskraft)

Exakte sinnliche Phantasie

Es liegt im Wesen des Lebendigen, dass es nicht als fertige abgeschlossene Gestalt rein sinnlich erfasst werden kann. Was sich dem sinnlichen Blick zeigt, ist nur ein winziger Ausschnitt einer sich entfaltenden Zeitgestalt. Um sich etwa die ganze sich durch verschiedene Formen lebendig wandelnde Pflanze zu vergegenwärtigen, muss man sich der Erinnerungsfähigkeit bedienen. Nur in dem man innerlich seelisch den vollständigen Werdegang der Pflanze in sich nachbildet, kann sich ihre vollständige Zeitgestalt offenbaren. Diese Erinnerungskraft, die mehr ist als das bloße momentane sinnliche Anschauen, hat Goethe ganz besonders gepflegt. Und das ist auch nötig, denn wie blass und abstrakt, wie wenig detailgetreu ist doch zumeist unser alltägliches Gedächtnis. Was wir uns seelisch innerlich von den vergangenen Geschehnissen wieder bewusst machen können, ist in der Regel nur ein schwacher Abklatsch des ursprünglichen unmittelbaren sinnlichen Erlebens, und obendrein meist noch ziemlich verfälscht; unser Gedächtnis wird nämlich nur allzu schnell von den Phantasiekräften ergriffen, die das einstmals Erlebte vielfach umgestalten, und zwar um so eher, je bruchstückhafter die Erinnerung ist. Unbewusst neigen wir dazu, die Lücken in unserem Gedächtnis höchst phantasievoll zu überbrücken, wodurch wir uns aber den Blick auf das, was wirklich war, verstellen. Wenn man das Lebendige auf wirklich exakte Weise erfassen will, dann muss das Gedächtnis erzogen und verstärkt werden. Vor allem muss das abstrakte bildlose, bloß begrifflich orientierte Gedächtnis zu einer wirklich vollgesättigten detailgetreuen inneren bildhaften Wahrnehmung werden, die an Intensität und Treue der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung so wenig als möglich nachsteht. Voraussetzung dafür, dass das überhaupt gelingen kann, ist, dass wir in unserem sinnlichen Anschauen viel aufmerksamer, viel wacher werden, als wir es im alltäglichen Leben sind. Gerade der Blick des modernen Menschen ist oft so flüchtig, dass er nur wenig von dem, was vor seinen Augen ausgebreitet ist, auch wirklich bewusst sieht. Vielmehr als wir ahnen, laufen wir als Halbblinde durch die Welt. Um etwas wirklich zu schauen, bedarf es eben nicht nur gesunder Sinne, sondern auch der aktiven seelischen Kraft, das den Sinnen Dargebotene zu ergreifen. Sehen lernen (und das Sehen gilt hier als Beispiel für alle anderen Sinneswahrnehmungen auch, von denen der Sehsinn nur der für uns hervorspringenste ist) muss also die erste Tugend sein, die es zu erwerben gilt. Schon das steht in ziemlichem Gegensatz zur gängigen naturwissenschaftlichen Methode, bei der die aufmerksame Wahrnehmung so weit wie möglich durch einen abstrahierenden Messprozess ersetzt wird. Gerade jene Teildisziplinen der Biologie, in denen dieses sinnige Schauen noch gepflegt wurde, wie etwa die Morphologie, werden zunehmend unbedeutend gegenüber dem molekularbiologischen Ansatz! So steht der moderne "Naturforscher" oft schon von Anfang an gar nicht vor der reichen Fülle der natürlichen Welt, sondern nur vor einem höchst abstrakten Ausschnitt der selben.

Je mehr und je intensiver uns das innere seelische Bild einer sinnlich erscheinenden Pflanze gegenwärtig wird, und je mehr uns das für die verschiedensten Entwicklungsstadien gelingt, desto mehr nähern wir uns ihrem eigentlichen Wesen. Dieses wird sich uns offenbaren, wenn es uns nun in innerem seelischen Tun gelingt, die einzelnen Werdestufen dieser Pflanze, gesetzmäßig ineinander zu verwandeln. Wir lassen dann gleichsam die Pflanze als inneres Bild noch einmal in uns heranwachsen. Nur schauen wir sie jetzt nicht von außen, sondern sind selbst tätig an ihrem Werden beteiligt. Wir eignen uns so die in ihr waltenden gestaltbildenden Kräfte, die draußen die physisch erscheinende Pflanze formen, innerlich seelisch an, wir verbinden uns mit ihnen. Und wenn wir endlich wie in einem einzigen Augenblick den ganzen Werdegang dieser Pflanze, etwa einer Rose oder Lilie, innerlich schauen, dann ist uns ihr eigentliches Leben, das übersinnlicher Natur ist, seelisch gegenwärtig. Was wir so als Typus der Rose etwa schauen, das wirkt als Bildekraft auch in allen anderen Rosen, denen wir in der sinnlichen Welt begegnen. Der "intellectus archetypus", von dem Kant sprach, aber dem Menschen verweigerte, lebt in uns auf. Was so als Typus der Rose oder Lilie usw. innerlich erfaßt wird, kann unmöglich als starre, unbewegliche Gestalt gedacht werden. Es ist ein durch und durch lebendig bewegliches Prinzip, das als ein einheitliches in allen Teilen der sinnlich erscheinenden Pflanze wirksam ist. Nur weil Goethe in sich diesen urbildlichen Verstand rege gemacht hat, konnte er das Pflanzenleben so begreifen, wie er es in seiner Metamorphosenlehre festgehalten hat.

Sinnlich-Sittliche Wirkungen

Wirklich fruchtbar werden die Ergebnisse der Naturforschung nur, wenn diese den unmittelbaren Bezug zum Menschen sucht. Die durch unser Bewusstsein aufgerissene Kluft zwischen Subjekt und Objekt wird dadurch überwunden. Goethe suchte etwa in seiner Farbenlehre ganz entschieden diesen Bezug zum lebendig empfindenden Menschen.

Es ist charakteristisch für Goethes ganzheitlich orientierten Forschungsstil, dass er sich bei seinen Untersuchungen nicht auf die bloßen physikalischen Farberscheinungen beschränkt, sondern auch seelische Faktoren mit einbezieht und ihr wechselseitiges Zusammenspiel studiert. Einen ganz besonderen Raum in Goethes Farbenlehre nimmt dementsprechend das Kapitel über die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben ein, in dem Goethe sehr ausführlich beschreibt, wie die einzelnen Farben auf das menschliche Gemüt wirken. Dabei zeigt sich die selbe Polarität wie schon bei den rein physikalischen Erscheinungen.

Das Licht, die Helle erfreut unsere Seele, die Dunkelheit verdüstert nur all zu leicht unsere Stimmung und verängstigt uns nicht selten. Weiß ist die Farbe der Freude und Unschuld, Schwarz die Farbe des Todes, der Trauer und Schuld. Gelb ist die nächste Farbe am Licht. Die rotgelben Farbtöne wirken auf das Gemüt erheiternd (man denke nur an die sprichwörtliche rosarote Brille) und regen den Willen zur Aktivität an.

Zur Systematik von Goethes Forschungsmethode

Rudolf Steiner, Urpflanze, Aquarell 1924

Im Anorganischen wird das Denken dazu verwendet, die den Sinnen durch Beobachtung und Experimente gegebenen Qualitäten so zu ordnen, dass das eine Phänomen in seinen Zuständen und Vorgängen als Folge anderer Phänomene verständlich wird. Dabei werden wesentliche (für das Erscheinen des Phänomens notwendige) und unwesentliche (nur modifizierende) Bedingungen unterschieden. Ein solches Phänomen, bei dem sich ein unmittelbar einsichtiger, gesetzmäßiger Zusammenhang mit den wesentlichen Bedingungen zeigt, ist ein Urphänomen. Aus solchen können alle Beziehungen zwischen weiteren Phänomenen abgeleitet und letztere damit verstanden werden (beweisende Methode). So hat Goethe aus dem Urphänomen der Farbe (Entstehung der Farbe an Licht, Finsternis und Trübe) die Grundlage einer Optik entwickelt (Goethe 1891-1896).

Im Lebendigen bedingen sich die Glieder der Erscheinungen nicht mehr nur gegenseitig, sondern jedes Einzelne wird vom Ganzen her dessen Eigenart gemäß bestimmt. Beim Studium der Vorgänge wird bemerkt, dass sich die Verwandlungen (Metamorphose) der Blattorgane einer Pflanze von den Keimblättern über die Laubblätter, die Kelch-, Kron-, Staub- und Fruchtblätter aus einer Grundform (dem Typus) heraus vollziehen (Bockemühl 1977; Adams, Whicher 1960); die äußeren Bedingungen wirken lediglich modifizierend. Im gleichen Sinne werden die verschiedenen Arten als spezielle Erscheinungsformen der Gattung verständlich. Dies weist auf einen sinnlich-übersinnlichen Vorgang, der der Idee nach bei allen Pflanzen derselbe ist, der Erscheinung nach sowohl bei der einzelnen Pflanze als auch im ganzen Pflanzenreich verschiedene Formen hervorbringt und den Goethe die Urpflanze (den allgemeinen Pflanzentypus) nannte. Aus dieser lassen sich nach Goethe Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen und eine innere Wahrheit und Notwendigkeit haben (entwickelnde Methode).

Im Beseelten tritt die innere Organbildung als gestaltendes Phänomen in den Vordergrund. Tiere und Pflanzen sind gleichermaßen Lebewesen, und doch unterscheiden sie sich in ihrer Lebenstätigkeit wesentlich voneinander. Die Pflanze ist fest in der Erde verwurzelt, an sie gefesselt; das Tier vermag sich frei im Raum zu bewegen, und mehr noch, es ist erfüllt von innerer Seelenbewegung, die der Pflanze völlig mangelt. Das seelische Innenleben des Tieres gibt sich nach außen in der instinkt- und triebgebundenen Eigenbeweglichkeit kund; der Mensch hat darüber hinaus in seinem Inneren bewusst teil am Geistigen. Im Zusammenhang damit enthält der Wandel der tierischen und menschlichen Formen im Gegensatz zur Metamorphose der pflanzlichen Formen wesentliche Sprünge, die u. a. durch Einstülpung (z. B. bei der Bildung der inneren Organe) bzw. Umstülpung, z. B. von Röhrenknochen in den Schädelknochen (Steiner 1926), verstanden werden können. Die entwickelnde Methode wird so zur Umstülpungsmethode erweitert, mit deren Hilfe u. a. die dreigliedrige tierische und menschliche Gestaltung erforscht wird (Poppelbaum 1938; Schad 1971).

Der Geist des Menschen prägt die Gestalt und Funktion des Körpers in besonderer Weise. Im Unterschied zum Tier werden in der Leiblichkeit des Menschen die Wirkungen des von Absterbeprozessen durchzogenen Nerven-Sinnessystems und des in Aufbauprozessen lebenden Stoffwechsel-Gliedmaßensystems durch ein eigenständiges, das momentan abgelähmte Leben momentan wieder anfachendes rhythmisches System so vermittelt, dass sie die physiologische Grundlage des Denkens, Wollens und Fühlens werden; durch diese Seelentätigkeiten kann die menschliche Individualität ihre Entwicklung selber fortsetzen (Steiner 1917). Das menschliche Ich wird zum bestimmenden Zentrum des dreigliedrigen Organismus in dessen Inneren sich das dreigliedrige Seelenleben entfaltet. Das Bewusstsein, über das auch die Tiere in unterschiedlichen Graden verfügen, wird so bis zum Selbstbewusstsein gesteigert. Ausgehend davon versucht der Goetheanismus in weiterer Folge auch den sozialen Organismus in seiner Dreigliederung in Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben zu verstehen und zu gestalten (Steiner 1919).

Abgrenzung zu anderen Forschungsmethoden bzw. Methodologien

Goetheanismus als angewandte Forschungsmethode unterliegt, abgesehen von der Bestimmung, die Goethe selbst seiner Wissenschaft gegeben hatte, und dem anthroposophischen Verständnis des goetheschen Forschens, keiner näheren Definition im Sinne einer rezeptartigen Methodologie. Einigkeit darüber, was genau unter Goetheanismus zu verstehen ist, besteht nicht. Generell kann aber wissenschaftliches Forschen als Goetheanismus bezeichnet werden, das sich an Goethe, und - aus Sicht von Anthroposophen - an dem Verständnis Goethes durch Rudolf Steiner orientiert. Für eine nähere, jeweilige Bestimmung muß man sich die konkrete Forschungspraxis ansehen. In ihr kommt die goetheanistische Forschungsweise zum Ausdruck.

Dabei wird Wissenschaft im Sinne Goethes auch außerhalb von anthroposophischen Forscherkreisen betrieben. Es kann daher der Sache nach goetheanistisches Forschen vorliegen, ohne daß die Bezeichnung "Goetheanismus" verwendet wird, die andererseits auch glatt als Synonym für "anthroposophische Forschung" durchgehen kann[3].

„Es wird damit bezeichnet: a) Zum Beispiel einfach durchweg alles, was naturwissenschaftliches Arbeiten in anthroposophischen Zusammenhängen ist. […] c) Die experimentelle Nachprüfung vieler Aussagen Steiners mit den Methoden der universitären Naturwissenschaften. d) Jeglicher poesievoller, ästhetisch erlebender Umgang mit der Natur ohne jeden Wissenschaftsanspruch. e) Die an der Anthroposophie orientierten kulturwissenschaftlichen Inhalte in Kunst, Kunstgeschichte, Geschichte, Sprachwissenschaft und Literatur. f) Die aus der Anthroposophie herausgewachsenen Künste wie die Eurythmie und der organische Baustil in der Architektur […].“ (Lit.: Wolfgang Schad in: Was ist Goetheanismus? Tycho de Brahe-Jahrbuch für Goetheanismus 2001, S. 23-66)

Albrecht Schad will Goetheanismus von der Anthroposophie als "Geistes"wissenschaft bzw. -forschung unterschieden wissen:

„Naturwissenschaft geht immer von der sinnlichen Erfahrung und Verarbeitung aus. So kann mit Goetheanismus der sinnvolle wissenschafltiche und künstlerische Umgang mit der sinnlichen Seite der Welt gemeint sein. Unter Anthroposophie als moderner Geisteswissenschaft kann hingegen die Wissenschaft von der Geistseite der Welt, vom Übersinnlichen verstanden werden. Eine anthroposophische Naturwissenschaft wäre dann ein Widerspruch in sich selbst, eine goetheanistische Naturwissenschaft nicht. Goetheanismus ist heute alle sinnesgebundene Forschung, welche die Beschäftigung mit dem Sinnlichen solange betreibt, bis sie die Ideenwelt berührt, eine Forschung also, welche die Beschäftigung mit dem Sinnlichen hin zur Geistoffenheit führt.“ (Lit.: Albrecht Schad, 2008, in Der goetheanistische Zugang zum Lebendigen, in "Wirkklichkeit und Idee", S. 118)

Andere sind der Ansicht, das Wesentliche sei der Ausgang vom Phänomenalen, vom Beobachteten oder Wahrgenommenen. Dabei könne es sich auch um geistig, also übersinnlich Wahrgenommenes handeln, zu welchem bereits die Gedanken als dem Denken wahrnehmbar gehören.

„Das Wort Goetheanismus verbinden wir in erster Linie mit naturwissenschaftlichen Phänomenen. Insofern wir aber den methodischen Ansatz und die geistige Grundhaltung ins Auge fassen, kann er auf alle Bereiche des Lebens übertragen werden. Der Untertitel von Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit: Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode weist ebenfalls auf das Methodische hin, das unabhängig von dem Forschungsbereich gilt.“ (Lit.: Heinz Zimmermann, 2008, in Wie kann der Goetheanismus die Kollegiumsarbeit befruchten?, in "Wirklichkeit und Idee", S. 331)

„Die Sozialwissenschaft unterscheidet sich von der Naturwissenschaft dadurch, daß ihre Erfahrungswelt nicht sinnlicher Natur ist, soweit es sich um die 'Urphänomene' des sozialen Daseins handelt. Diese sind - wie die selbstbewußte geistige Individualität - Ideen, sind Begriffe an sich und gehören deshalb zur dritten Stufe des 'Systems der Wissenschaft', auf welcher der Begriff, die Idee, selbst wahrgenommen werden muß.

Zu den Urphänomenen gelangt im Sozialen nur das Bewußtsein, das zur 'Grenzüberschreitung' gegenüber den äußeren sozialen Erscheinungen bereit ist. Ideen als soziale Gestaltungskräfte sind für die Forschung als Erfahrung, als soziale Gesetze nur von jenseits dieser Schwelle der sinnlichen Welt zu holen.“ (Lit.: Hans Georg Schweppenhäuser, in Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft - ihre Methoden und Erkenntnisgrundlagen, in: "Das soziale Rätsel", S. 115)

Insbesondere in den Sozial- und Kulturwissenschaften gibt es Wissenschaftler, die eine klare Abgrenzbarkeit der Wissenschaft zur Kunst verneinen. Goetheanistisches Forschen kann insofern auch eine künstlerische Komponente enthalten, die sich nur einem Nachvollzug in ihrem Sinn und Wert erschließt, nicht aber abstrakt definiert werden kann. Die Problematik bei solcher Ausweitung ist die Gefahr, ins Beliebige zu geraten, etwa bei der kreativen Gestaltung von sozialer Plastik im Sinne Joseph Beuys'. In solchem Fall kann phantastisch Ausgedachtes mit den umgebenden sozialen Realitäten (den plastischen "Materialien"), die es umzugestalten gilt, in ein unrichtiges Verhältnis kommen, sich aber gleichwohl geltend machen und die soziale Realität mitbestimmen[4].

Rudolf Steiner sieht in ferner Zukunft eine Wiedervereinigung von Wissenschaft, Kunst und Religion kommen [Quelle]. Im heutigen Goetheanismus mag sich ein Beginn davon zeigen.

„Goethe wollte zum Beispiel gar nicht sprechen von einer abgesonderten Idee von Wahrheit, von Schönheit, von Religion oder Frömmigkeit. Goethe wollte die Idee als eine wissen, und in Religion und Kunst und Wissenschaft wollte er nur verschiedene Offenbarungen der einen geistigen Wahrheit sehen. Goethe sprach von der Kunst als von einer Offenbarung geheimer Naturgesetze, welche ohne die Kunst niemals offenbar werden würden. Für Goethe war geradezu die Wissenschaft etwas, das er auf die eine Seite hinstellte, das eine andere Ausdrucksweise hat als die Kunst; auf der anderen Seite war ihm die Kunst etwas, was wiederum eine andere Ausdrucksweise hat. Aber nur wenn beide zusammen im Menschen wirken, kann der Mensch auch im Goetheschen Sinne die ganze volle Wahrheit ergründen.“ (Lit.:GA 82, S. 21)

„Aber nicht dann ist man im rechten Sinne ein Bekenner des Goetheanismus, Bekenner derjenigen Weltanschauung, die durch Goethe geworden ist, die Goethe erkraftet hat, wenn man historisch oder äußerlich biographisch das betrachtet, was Goethe selber hingeschrieben hat; sondern dann ist man im rechten Sinne ein Bekenner der Goetheschen Weltanschauung, wenn man lebendig sich in diese Weltanschauung hineinzuversetzen und weiter und weiter sie fortzusetzen vermag.“ (Lit.:GA 72, S. 105)

„Ich meine damit auch wieder nicht etwas dogmatisch Festzusetzendes, sondern Namen muss man gebrauchen für etwas, das weit über den Namen hinausgeht. Ich verstehe unter Goetheanismus nicht das, was Goethe bis zum Jahre 1832 gedacht hat, wohl aber etwas, was vielleicht erst im nächsten Jahrtausend im Sinne Goethes gedacht werden kann, was aus der Goetheschen Anschauung, aus dem Goetheschen Vorstellen und Empfinden werden kann.“ (Lit.:GA 181, S. 423)

Demgegenüber muß im Interesse seriöser Wissenschaft publizierten Forschungsresultaten eine nachvollziehbare Erläuterung des methodischen Vorgehens mitgegeben werden, die wissenschaftlichen Standards genügt. Ein schlichter Hinweis, es sei die goetheanistische Methode angewandt worden, genügt nicht, da eben darunter Verschiedenstes verstanden werden kann.

Goethe-Zitate

  • "Ein Phänomen, ein Versuch kann nichts beweisen, es ist das Glied einer großen Kette, das erst im Zusammenhange gilt. Wer eine Perlenschnur verdecken und nur die schönste einzeln vorzeigen wollte, verlangend, wir sollten ihm glauben, die übrigen seien alle so, schwerlich würde sich jemand auf den Handel einlassen." Sprüche in Prosa 160, Maximen und Reflexionen 501
  • "Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, was für Theorie gelten könnte." Sprüche in Prosa 161, Maximen und Reflexionen 500
  • "Das Höchste wäre, zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre." Sprüche in Prosa 165, Maximen und Reflexionen 488
  • "Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an." Sprüche in Prosa 167, Maximen und Reflexionen 509

Literatur

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Naturwissenschaft
  • Johann Wolfgang von Goethe (1891-1896): Naturwissenschaftliche Schriften. Sophien-Ausgabe, Weimar
  • Johann Wolfgang von Goethe (1883-1897): Naturwissenschaftliche Schriften. Hrsg. Joseph Kürschner, Bd. 114 - 117, 1883-1897, Fotomechanischer Nachdruck Dornach 1982, ISBN 3-7274-5210-2 (Reihe, 5 Bände)
  • Johann Wolfgang von Goethe (1947 - 2011 / III.Abt.: 2014 - ): Goethe. Die Schriften zur Naturwissenschaft, Leopoldina-Ausgabe, erste vollständige und historisch-kritische Ausgabe mit 18 Kommentarbänden, herausgegeben von Dorothea Kuhn, Wolf von Engelhardt und Irmgard Müller. Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar, ISBN: 978-3-7400-0024-0 (Gesamtwerk) Leopoldina.org ; (Die letzten Editionen der Münchener und der Frankfurter Ausgabe haben die in der Leopoldina-Ausgabe edierten Texte übernommen. Pressemitteilung zur Leopoldina-Ausgabe), [ebenso beruht die Hamburger Ausgabe auf der Editionsarbeit der Leopoldina]; (Es wurde ein "Text hergestellt, der bei manchen Aufsätzen zum ersten Mal die echte Goethesche Fassung ohne die Änderungen, Umstellungen, Streichungen von Eckermann, Riemer oder anderen Herausgebern des 19. Jahrhunderts darbietet." (Aus Beschreibung des Buchhandels [2]))
  • Rudolf Magnus: Goethe als Naturforscher, Verlag von Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1906; eBook Verlag ModerneZeiten 2012 ASIN B006WSK1F8; archive.org
  • Herbert Rowland (Hrsg.): Goethe, Chaos, and Complexity, BRILL/RODOPI 2001, ISBN 978-9042015661
  • Christopher Bamford (Hrsg.): Homage to Pythagoras: Rediscovering Sacred Science, Lindisfarne Books 1994, ISBN 978-0940262638
  • David Seamon, Arthur Zajonc: Goethe's Way of Science: A Phenomenology of Nature, State University of New York Press 1998, ISBN 978-0791436820
  • Ernst-Michael Kranich: Thinking Beyond Darwin, Lindisfarne Press 1999, ISBN 978-0940262935; eBook ASIN B008YZGSTA
  • Reiner Penter: Goethes naturwissenschaftliche Methode - Zur Einheit von Natur und Forscher academia.edu
  • Renatus Ziegler: Geist und Buchstabe. Rudolf Steiner als Herausgeber von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, Rudolf-Steiner-Verlag 2018, ISBN 978-3-7274-5334-2, Inhaltsangabe (erscheint Mai 2018)
  • Adams, G. und O. Whicher (1960): Die Pflanze in Raum und Gegenraum. Stuttgart 1960
  • Amrine, Frederick / Zucker, Francis J. / Wheeler, H. (Eds.): Goethe and the Sciences: A Reappraisal, Springer Netherlands, 1987, ISBN 978-90-277-2400-7, Inhalt
  • Bockemühl, Jochen: Die Bildebewegungen der Pflanzen. In: Erscheinungsformen des Ätherischen, Stuttgart 1977, ISBN 3-7725-0401-9
  • Bockemühl, Jochen: Goethes Naturwissenschaftliche Methode unter dem Aspekt der Verantwortungsbildung. Elemente der Naturwissenschaft 38 1983, S. 50-52
  • Bockemühl, Jochen: Die Fruchtbarkeit von Goethes Wissenschaftsansatz in der Gegenwart. Elemente der Naturwissenschaft 61 1994, S. 52-69
  • Bortoft, Henri: Goethes naturwissenschaftliche Methode. Stuttgart 1995, ISBN 3-7725-1544-4
  • Dietz, Karl-Martin / Messmer, Barbara: Grenzen erweitern – Wirklichkeit erfahren. Perspektiven anthroposophischer Forschung, Freies Geistesleben, 1998, ISBN 3-7725-1639-4, Inhalt
  • Göbel, Thomas: Erfahrung mit Idee durchtränken. Goethes naturwissenschaftliche Arbeitsmethode, in Die Drei, 1982 H.2, S. 69-78, (auch abgedruckt in: Göbel, Thomas: Natur und Kunst, S. 13 - 24, Stuttgart 1998, ISBN 3-7725-1748-X)
  • Heusser, Peter (Hrsg.): Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften. Das Buch zur gleichnamigen Ringvorlesung an der Universität Bern. Bern Stuttgart Wien 2000, ISBN 3-258-06083-5
  • Kühl, J.: Goethes Farbenlehre und die moderne Physik. In P. Heusser (Hrsg.): Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften. Bern Stuttgart Wien 2000, ISBN 3-258-06083-5
  • Ernst-Michael Kranich: Goetheanismus – seine Methode und Bedeutung in der Wissenschaft des Lebendigen. Elemente der Naturwissenschaft 86, 2007, S. 31-45, Rezension Peer Schilperoord
  • Poppelbaum, H.: Tier-Wesenskunde. Dornach 1954 (1938)
  • Robbins, Brent Dean (ed.): Goethe's Delicate Empiricism, Janus Head 8/1, Sommer 2005, (Essays zu Goethe) open access
  • Herbert Witzenmann: Goethes universalästhetischer Impuls, Gideon-Spicker-Verlag 1988, ISBN 3857041552
  • Wolfgang Schad: Säugetiere und Mensch. Stuttgart 1971
  • Wolfgang Schad: Die Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung im Entwurf Goethes. Tycho de Brahe-Jahrbuch für Goetheanismus 1986, S. 9-30, ISBN 3-926347-00-7
  • Wolfgang Schad: Der Goetheanistische Forschungsansatz und seine Anwendung auf die ökologische Problematik des Waldsterbens. In G. R. Schnell (Hrsg.): Waldsterben, Stuttgart 1987, ISBN 3-7725-0549-X
  • Wolfgang Schad: Alles ist Blatt. Tycho de Brahe-Jahrbuch für Goetheanismus 1999, S. 9-33, ISBN 3-926347-21-X
  • Wolfgang Schad: Was ist Goetheanismus? Tycho de Brahe-Jahrbuch für Goetheanismus 2001, S. 23-66, ISBN 3-926347-23-6 (englische Version: PDF)
  • Schad, Albrecht: Der goetheanistische Zugang zum Lebendigen, in: Wirklichkeit und Idee. Goethes Weltzugang und der geistige Hintergrund des Nordens, hrsg. von Hartwig Schiller, Verlag Freies Geistesleben, 2008, ISBN 978-3-7725-2196-6, S. 95 -122
  • Schieren, Jost: Anschauende Urteilskraft. Die philosophischen und methodischen Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen. Düsseldorf/Bonn 1998, ISBN 3-930450-27-5.
  • Schilperoord, Peer: Anschauende Urteilskraft, 2008, in: Elemente der Naturwissenschaft Nr. 89, 2008, S. 42 - 59 PDF
  • Seamon, David / Arthur Zajonc (Eds.): Goethe's Way of Science. A Phenomenology of Nature, Suny Press 1998, Inhalt
  • Suchantke, Andreas: Metamorphose. Kunstgriff der Evolution. Stuttgart 2002, ISBN 3-7725-1784-6.
  • Suchantke, Andreas: Goetheanismus als „Erdung“ der Anthroposophie. In: Die Drei. Heft 2 und 3, 2006
  • Rudolf Steiner: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, GA 1 (1962) pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  • Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Dornach 1984, GA 2, ISBN 3-7274-6290-6 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  • Rudolf Steiner: Goethes Weltanschauung. Dornach 1985, GA 6 (1897), ISBN 3-7274-6250-7 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  • Rudolf Steiner: Von Seelenrätseln, GA 21 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  • Rudolf Steiner: Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse, GA 180 (1966) pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  • Rudolf Steiner: Erdensterben und Weltenleben. Anthroposophische Lebensgaben. Bewußtseins-Notwendigkeiten für Gegenwart und Zukunft, GA 181 (1991), ISBN 3-7274-1810-9 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  • Rudolf Steiner: Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie, GA 323, ISBN 3-7274-3230-6 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Kultur- und Sozialwissenschaften
  • Dietz, Karl-Martin / Messmer, Barbara: Grenzen erweitern – Wirklichkeit erfahren. Perspektiven anthroposophischer Forschung, Freies Geistesleben, 1998, ISBN 3-7725-1639-4, Inhalt
  • Henningfeld, Iris: Goethes Urphänomen. Ein phänomenologischer Beitrag zu einem erweiterten Erfahrungsbegriff, in: Die Drei, Heft 1/2015, S. 37-47, Inhaltsangabe
  • Maatsch, Jonas (HG): Morphologie und Moderne : Goethes "anschauliches Denken" in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800, Berlin ; Boston, Mass. : De Gruyter 2014, Inhaltsverzeichnis: PDF, ISBN 978-3-11-037212-0
  • Robbins, Brent Dean (ed.): Goethe's Delicate Empiricism, Janus Head 8/1, Sommer 2005, (Essays zu Goethe) open access
  • Hans Georg Schweppenhäuser: Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft - ihre Methoden und Erkenntnisgrundlagen, in: Schweppenhäuser, Hans Georg: Das soziale Rätsel in den Wandlungen der Individuen und der Gesellschaften der Neuzeit, Vlg. am Goetheanum, Dornach 1985, überarbeitet, gekürzt und mit Quellenangaben versehen von Manfred Kannenberg-Rentschler, ISBN 3-7235-0363-2, Inhalt, S. 74-123
  • Rudolf Steiner: Die Kernpunkte der sozialen Frage. GA-Nr. 23, Dornach 1976, ISBN 3-7274-0230-X
  • Zimmermann, Heinz: Wie kann der Goetheanismus die Kollegiumsarbeit befruchten?, in: Wirklichkeit und Idee. Goethes Weltzugang und der geistige Hintergrund des Nordens, hrsg. von Hartwig Schiller, Verlag Freies Geistesleben, 2008, ISBN 978-3-7725-2196-6, S. 331-346
Frühe Goetheanisten
  • Renate Riemeck: Beispiele goetheanistischen Denkens. Der Mensch als geistiges Wesen, Studienmaterial, hrsg. aus der Arbeit der Humanus-Stiftung Basel, Verlag die Pforte, Basel 1974, PDF

Gemäß der im Urachhaus-Verlag 1980-83 erschienenen Reihe "Schriften des frühen Goetheanismus" sind u. a. folgende Autoren bzw. Werke zum Goetheanismus zu rechnen:

  • Joseph Ennemoser (1787 - 1854): Untersuchung über den Ursprung und das Wesen der menschlichen Seele
  • Karl Ernst von Baer (1792 - 1876): Entwicklung und Zielstrebigkeit in der Natur
  • Wilhelm Heinrich Preuß (1843 - 1909): Geist und Stoff. Erläuterungen des Verhältnisses zwischen Welt und Mensch nach dem Zeugnis der Organismen archive.org
  • Johann Carl Passavant (1787 - 1861): Von der Freiheit des Willens, und andere Schriften
  • Ernst Freiherr von Feuchtersleben (1806 - 1849): Zur Diätetik der Seele
  • Karl Snell (1806 - 1886): Schöpfung des Menschen
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Siehe auch

Weblinks

Goethes Schriften zur Naturwissenschaft

Auswahl:

Farbenlehre

Schriften zur Wissenschaftslehre (Link ungültig 23.03.18)

Botanik (Link ungültig 23.03.18)

Vergleichende Anatomie - Zoologie (Link ungültig 23.03.18)

Zur Physiognomik (Link ungültig 23.03.18)

Geologie und Mineralogie (Link ungültig 23.03.18)

Schriften zur Meteorologie (Link ungültig 23.03.18)

Aphorismen und Fragmente (Link ungültig 23.03.18)

Einzelnachweise

  1. Es handelt sich, wie der Dichter selbst anmerkte, um eine idealisierende Darstellung. Wie Stieler berichtet, habe Goethe gesagt: „Sie zeigen mir, wie ich sein könnte. Mit diesem Manne auf dem Bilde ließe sich wohl gerne ein Wörtchen sprechen. Er sieht so schön aus, dass er wohl noch eine Frau bekommen könnte.“ Zitiert nach: Jörn Göres, Emil Schaeffer (Hrsg.): Goethe. Seine äußere Erscheinung. Literarische und künstlerische Dokumente seiner Zeitgenossen. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 179.
  2. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 8, Hamburg 1948 ff, S. 302f zeno.org
  3. „Nur wird erst langsam und allmählich gerade dieser Goetheanismus in das menschliche Verständnis hineinkommen können. Für gewisse Punkte, sagte ich, habe ich schon gezeigt, wie in dem Goetheanismus geradezu der Impuls für alles Geisteswissenschaftliche liegt. Aus Goethe heraus kann alles Geisteswissenschaftliche entwickelt werden. Und in einem öffentlichen Vortrage, den ich vor kurzer Zeit gehalten habe, habe ich gezeigt, wie in Goethes Metamorphosenlehre die erste elementare wissenschaftliche Begründung der Reinkarnationslehre, der Lehre von den wiederholten Erdenleben liegt. Denn, wie Goethe die Metamorphosenlehre beginnt und zeigt, wie das Blatt sich in die Blüte verwandelt, wie ein Organ in verschiedenen Formen erscheint, darin liegt beschlossen, wenn man es durchdringend durchführt, das, was ich nun auch hier schon ausführte: daß des Menschen Haupt ein umgewandelter übriger Leib sei und der übrige Leib ein noch nicht umgewandeltes menschliches Haupt. Metamorphose im äußersten Maße, die unmittelbar so der Wissenschaft zur Reinkarnationserkenntnis, zur Erkenntnis der wiederholten Erdenleben werden wird!“ (Lit.:GA 171, S. 133)

    „Und erst, wenn man den Goetheanismus zur Geisteswissenschaft vertieft haben wird, erst dann wird Goethe verstanden werden können. Vieles wird sich finden aus Goethe, was Goethe selber nicht aussprechen konnte. Der richtig verstandene Goethe führt schon zur Geisteswissenschaft. Geisteswissenschaft ist nur ausgebildeter Goetheanismus.“ (Lit.:GA 171, S. 136)

  4. Man könnte dagegen einwenden, daß soziale Plastiken keine Schöpfungen von einzelnen seien, sondern Gemeinschaftsprodukte aller Beteiligten. Durch diese Beteiligung aller Individuen, die ihre Erkenntnisse und kreativen Vermögen in die soziale Plastik einbringen, würden sich Falschheiten durch die intersubjektive gegenseitige Korrektur beheben lassen. Möglich ist dies aber jedenfalls dann nicht, wenn die gesamte Gruppe eine schiefe Sichtweise davon hat, was wie zu gestalten und wie einzufügen ist. - Folgt man Johannes Mosmann und Silvain Coiplet, ist dies z.B. hinsichtlich einer verbreiteten Ansicht, eine Walddorfschule könne als ein Schulorganismus in sich (im Sinne einer falsch verstandenen sozialen Dreigliederung) nach Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben dreigegliedert sein. Als Institution des Geistesleben komme der Waldorfschule kein eigenständiges Rechts- und Wirtschaftsleben zu, sondern diese beiden Bereiche müsse man als in die Waldorfschule hineinragend ansehen.

    „Kaum eine andere Vorstellung steht dem Verständnis der Steinerschen Idee einer „freien“ Waldorfschule so im Weg wie die populäre Meinung, bei einem „Schulorganismus“ handle es sich um den sozialen Organismus im Sinn der sozialen Dreigliederung, weshalb sich auch alle drei Glieder (Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben) in der Schulverwaltung wiederfinden müssten. Der Begriff „Mikro-“ bzw. „Meso-Dreigliederung“ ist dabei nur eine von vielen Facetten derselben Vorstellung, auf die das soziale Denken (und in der Folge leider auch die soziale Praxis) in vielen anthroposophischen Einrichtungen häufig zurückzuführen ist. Dabei ist die Fehlinterpretation der sozialen Dreigliederung als Gliederung der einzelnen Institution keineswegs neu - schon Rudolf Steiner musste sich mit ihr auseinandersetzen.“ (Lit.: Johannes Mosmann, Die Überwindung der Utopie einer dreigegliederten Waldorfschule, 2015, vgl. auch Silvain Coiplet: Die soziale Dreigliederung oder - Wie werden Einrichtungen menschlich ?, 2003 [1])

    Die Idee der sozialen Plastik und ihre Praxis bieten gegen solche Möglichkeiten, von vornherein von falschen Voraussetzungen auszugehen, die sich als vermeintliches Wissen tarnen, aus sich selbst heraus keine Handhabe. Noch auf lange Sicht wird soziale Kunst separater wissenschaftlicher Begleitforschung nicht entraten können.

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