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Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz Anno 1459
Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz Anno 1459[1] erschien 1616 in Straßburg bei Lazare Zetzner erstmals im Druck, nachdem sie zuvor schon einige Zeit als Handschrift im Umlauf war. Entstanden ist sie zwischen 1603 und 1605. Geschildert werden darin in Form eines alchemistischen Romans die Einweihungserlebnisse des Christian Rosenkreutz, die schließlich zur Begründung des Rosenkreuzer-Schulungswegs geführt haben. Die sehr lebendigen, farbigen Schilderungen der Chymischen Hochzeit zeichnen dabei bemerkenswerterweise nicht das Bild eines entrückten, hocherhabenen weltfremden stoischen Weisen, sondern sie zeigen uns einen vollsaftigen, humorvollen, manchmal auch geängstigten und bedrückten Menschen, der weint und lacht und dem die ganze Skala menschlicher Gefühle in ihren Höhen und Tiefen keineswegs fremd ist. Nur Hochmut, Eitelkeit und Größenwahn liegen ihm völlig fern.
Johann Valentin Andreae
Die Chymische Hochzeit erschien zunächst anonym, doch gilt als ihr Autor Johann Valentin Andreae. Im äußeren Sinn ist das wohl richtig, doch war er nicht mehr als ein Werkzeug der geistigen Welt, denn wie Rudolf Steiner deutlichlich gemacht hat, war ihr geistiger Urheber gar keine physische Persönlichkeit:
„Aber kein Mensch, der die Biographie des Valentin Andrea kennt, wird im Zweifel darüber sein, daß der Valentin Andrea, der später ein philiströser Pastor geworden ist und salbungsvolle andere Bücher schrieb, nicht die «Chymische Hochzeit» geschrieben hat. Es ist ein bloßer Unsinn, zu glauben, daß der Valentin Andrea die «Chymische Hochzeit» geschrieben hat. Denn vergleichen Sie nur einmal die «Chymische Hochzeit» oder die «Reformation der ganzen Welt» oder die anderen Schriften von Valentinus Andrea - physisch war es schon dieselbe Persönlichkeit - mit dem schmalzig Salbungsvollen, Fettig-Öligen, was der Pastor Valentin Andrea, der nur denselben Namen trägt, in seinem späteren Leben dann geschrieben hat. Das ist doch ein höchst merkwürdiges Phänomen! Wir haben einen jungen Menschen, der überhaupt noch kaum erst die Schulzeit vollendet hat, der schreibt solche Dinge nieder wie die «Reformation der ganzen Welt», wie die «Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz», und wir müssen uns anstrengen, den inneren Sinn dieser Schriften zu ergründen. Er selber versteht gar nichts davon, denn das zeigt er später: er wird ein salbungsvoller öliger Pastor. Das ist derselbe Mensch! Und man braucht nur dieses Faktum zu nehmen, so muß man plausibel finden, was ich dazumal dargestellt habe: daß eben die «Chymische Hochzeit» nicht von einem Menschen geschrieben ist, oder nur insofern von einem Menschen geschrieben ist, nun ja - wie der stets angsterfüllte geheime Sekretär von Napoleon seine Briefe geschrieben hat. Aber Napoleon war immerhin ein Mensch, der stark mit seinen Füßen, mit seinen Beinen auf dem Boden stand, war eben eine physische Persönlichkeit. Derjenige, der die «Chymische Hochzeit» geschrieben hat, war nicht eine physische Persönlichkeit, und er hat sich dieses «Sekretärs» bedient, der eben dann später der ölige Pastor Valentin Andrea geworden ist.“ (Lit.: GA 232, S. 143)
„Inhaltlich erweist sich diese Schrift als eine aus der Intuition heraus verfaßte. Solches kann geschrieben werden von dazu veranlagten Menschen, auch wenn deren eigenes Urteilsvermögen und Lebenserfahrung nicht in das hineinsprechen, was niedergeschrieben wird. Und das Niedergeschriebene kann trotzdem die Mitteilung von einem Wirklichen sein. Die «Chymische Hochzeit» als Mitteilung über eine wirklich vorhandene Geistesströmung in dem hier angedeuteten Sinne aufzufassen, das gebietet ihr Inhalt. Die Annahme, daß Valentin Andreae sie aus der Intuition heraus geschrieben hat, wirft ein Licht auf die Stellung, die er später zu dem Rosenkreuzertum eingenommen hat. Er war als junger Mann dazu veranlagt, von dieser Geistesströmung heraus ein Bild derselben zu geben, ohne daß seine eigene Erkenntnisart dabei mitsprach. Diese eigene Erkenntnisart aber ist in dem späteren pietistischen Theologen Andreae zur Entwickelung gekommen. Die für Intuitionen zugängliche Geistesart trat in seiner Seele zurück.“ (Lit.: GA 35, S. 381)
Die Chymische Hochzeit und die Mission des Buddha auf dem Mars
1604, gerade als die Chymische Hochzeit vollendet wurde, vollzog der Buddha Siddhartha Gautama, nachdem er im 5. Jahrhundert v. Chr. seine letzte irdische Inkarnation vollendet hatte, eine Tat, die für den Mars eine ähnliche Bedeutung hat, wie das Mysterium von Golgatha für die Erde. Er war für diese Aufgabe von Christian Rosenkreutz Anfang des 17. Jahrhunderts berufen worden. Bis etwa zum 16. Jahrhundert war der Mars in absteigender Entwicklung begriffen gewesen und es gingen immer stärkere materialistische Impulse von hier aus. Aus den Impulsen, die der Mars der Erde und der Menschheit bis dahin geben konnte, ist insbesondere die moderne materialistische Naturwissenschaft entstanden. Durch die Erfüllung seiner Mission konnte der Buddha die Mars-Kräfte besänftigen und damit begann eine aufsteigende Entwicklung des Mars.
Inhalt
Titelblatt
Das Titelblatt trägt einen lateinischen Spruch, der deutlich macht, dass die Schrift dem Arkanprinzip (von lat. arcanum – „Geheimnis“) folgt und ihr Inhalt sich nur dem Eingeweihten enthüllt:
„Arcana publicata vilescunt;
et gratiam prophana amittunt.
Ergo: ne Margaritas obijce porcis, seu
Asino substerne rosas.“
„Enthüllte Geheimnisse werden wohlfeil,
entweiht, verlieren sie ihren Wert.
Also: Wirf keine Perlen vor die Säue, und
streue dem Esel keine Rosen.“
Erster Tag
Heut, Heut, Heut, | |
Das abgebildete Zeichen wurde als die sog. Monas-Hieroglyphe des John Dee (1527-1608), eines englischen Philosophen, Mathematikers, Astrologen und Alchemisten, bekannt. Es sind darin die traditionellen Zeichen der sieben Planeten zu einem Zeichen vereinigt. (Lit.: John Dee, 1564) |
Die Schilderung der Chymischen Hochzeit beginnt am ersten Tag damit, dass der achtzigjähriger Christian Rosenkreutz (* 1378; † 1484), der um 1459 in einer Eremitage lebte, die in einen Berg eingegraben war[2], über ein selbsterlebtes Abenteuer zu berichten beginnt, das er am Vorabend des Ostertages erlebt hat - gemeint ist damit nach protestantischer Auffassung der Gründonnerstag, der im Jahr 1459 auf den 22. März fiel[3]. Die ganze Erzählung erstreckt sich über sieben seelische Tagewerke und beginnt damit, dass Christian Rosenkreutz, tief in die Meditation versenkt, plötzlich einen grausamen Wind an seine Hütte heranwehen spürt, ein Zeichen dafür, dass er mit seinem Bewusstsein in die rastlos bewegte elementarische Welt eingetreten ist[4]. Da titt plötzlich ein herrliches Weib mit Flügeln voller Augen in blauem Kleid und güldenen Sternen[5] und einer Posaune in der rechten Hand und einem Bündel von Briefen in der Linken an ihn heran. Sie überrreicht ihm einen Brief, der ihn mit goldener Schrift auf blauem Grund zu einer königlichen Hochzeit lädt. Der Brief ist versiegelt und das Siegel trägt das Zeichen des Kreuzes und die Worte: "In hoc signo vinces"[6]. Auf der Posaune steht ein Name, den Christian Rosenkreutz wohl erkennt, aber nicht preisgeben darf. Die Hochzeit, so erinnert er sich plötzlich, war ihm schon sieben Jahre zuvor angekündigt worden und nach eifriger Berechnung der Planetenbahnen als richtig erschienen[1]. Das im Brief gleich zu Beginn erwähnte Bild der drei Tempel auf dem Berg bleibt ihm vorerst rätselhaft[7].
Im Traum sieht er sich noch in der selben Nacht in einen Turm versetzt, wo er und unzählige andere in Ketten gelegt der Befreiung harren. Da erscheint oben in der Öffnung des Turms ein alter eisgrauer Mann zusammen mit seiner Mutter. Auf ihr Geheiß wird sieben Mal ein Seil herabgelassen, an dem manche der Gefangenen - und schließlich beim sechsten Mal auch Christian Rosenkreutz - hochgezogen werden[8]. Er erhält einen goldenen Denkpfennig mit dem eingeprägten Bild der aufgehenden Sonne und den drei Buchstaben DLS auf der Rückseite[9]. Aus dem Traum erwacht zieht nun Christian Rosenkreutz ein weißes Gewand mit einem roten Gürtel und über der Brust gekreuzten roten Bändern an und steckt auf seinen Hut vier rote Rosen. Zur Speise nimmt er „auf Rat eines Verständigen“ noch Brot, Salz und Wasser mit. Demütig kniet er nieder und gelobt, dass er alles nur zu Ehre Gottes und zum Dienst an seinem Nächsten tun wolle.
Zweiter Tag
Am zweiten Tag, dem Karfreitag, macht sich Christian Rosenkreutz auf den Weg. Als er bald darauf in den Wald kommt, bemerkt er an einem Baum ein Täfelchen, das ihm vier Wege zum Ziel zur Wahl stellt, von denen aber nur drei übrigbleiben, denn den vierten kann kein Sterblicher wandeln. Durch die Imagination einer schneeweißen Taube, mit der er sein Brot teilt, und eines schwarzen Raben[10], der ihr das Brot wieder entreißen will, wird er, indem er unbedacht dem Raben nacheilt, auf den zweiten, den langsamen, Weg mehr "geschoben", als dass er ihn bewusst ergreift[11].
Nach einiger Zeit, gerade noch bei Tageslicht, erreicht er eine Pforte, ein überaus schönes, königliches Portal, über der er die Worte lesen kann: "Weichet weit von hier, ihr Ungeweihten." Christian Rosenkreutz tritt ein und wird von dem Torhüter im himmelblauen Kleid freundlich empfangen. Er weist seinen Einladungsbrief vor und nennt zum ersten Mal seinen vollen Namen: Ich bin der Bruder von dem Roten Rosen Creutz. Nachdem er dem Torhüter sein Fläschchen Wasser als Gegenleistung für die erwiesene Freundlichkeit übergeben hat, erhält er von ihm ein goldenes Zeichen, auf dem die zwei Buchstaben SC[12] zu lesen sind und außerdem ein versiegeltes Brieflein für den zweiten Hüter.
Lange belehrt ihn der Hüter und ist es mittlerweile schon tiefe Nacht, als Christian Rosenkreutz seinen Weg zum Schloss fortsetzt, der zu beiden Seiten mit Mauern eingeschlossen ist, wo auch beiderseits drei Bäume mit Laternen stehen, die von einer Jungfrau im blauen Kleid mit einer herrlichen Fackel entzündet werden. Schließlich gelangt er an die zweite Pforte, über der zu lesen ist: "Gebet und euch wird gegeben werden." Davor liegt, an eine Kette gebunden, ein grausamer Löwe[13], der sich mit Gebrüll aufrichtet, aber von dem dadurch erwachten zweiten Hüter zurückgehalten wird. Christian Rosenkreutz übergibt ihm sein Brieflein und wird danach von dem zweiten Hüter mit großer Ehrfurcht behandelt. Für sein Salz als Gegengabe empfängt Christian Rosenkreutz wieder ein Zeichen, das die beiden Buchstaben SM[14] trägt. Als es im Schloss zu läuten beginnt, mahnt ihn der Hüter zur Eile und schon beginnt die Jungfrau die Laternen zu löschen. Nur mit knapper Not kann Christian Rosenkreutz die Pforte des Schlosses erreichen und sie wird so schnell zugeschlagen, dass er einen Zipfel seines Rocks, der eingeklemmt worden war, zurücklassen muss. Neben dem prächtigen Portal sieht er nun zwei Säulen; auf der einen, die ein fröhliches Bild trägt, liest er: "Congratulor"[15]. Auf der anderen, die ein verhülltes Gesicht zeigt, steht: "Condoleo"[16]. Jetzt erst wird ihm das rechte Gastzeichen gegeben, auf dem die Buchstaben SPN[17] stehen.
Dann wird er von zwei Knaben mit leuchtenden Fackeln in kleines Gemach geführt. Er hört Geräusche, sieht aber nichts, und wird von etlichen Männer festgehalten, die ihm mitten auf dem Kopf eine Tonsur schneiden und das abgeschnittene Haar sorgfältig auflesen und mitnehmen. Die beiden Knaben lachen dabei herzhaft über seine Ängstlichkeit. Ein kleines Glöcklein ruft ihn zur Versammlung in einen großen Saal, wo er viele Bekannte antrifft. Darunter sind solche, von denen er schon früher nicht sehr viel gehalten hatte und die sich auch jetzt als rechte Maulhelden erweisen, und andere, die er viel höher eingeschätzt hatte und die sich auch hier als edel, zurückhaltend und bescheiden erweisen und nicht mit ihrem vorgeblichen Wissen prahlten[18].
Musik ertönt und bringt schließlich alle zum Schweigen und die beiden Knaben mit den Fackeln geleiten eine schöne Jungfrau[19] in den Saal, die auf einem vergoldeten Triumphsessel sitzt, der von allein gefahren kam. Es dünkt Christian Rosenkreutz, dass sie die gleiche sei, die zuvor am Weg die Lichter angezündet und dann wieder gelöscht hatte, doch trug sie nun ein schneeweißes Kleid, das golden schimmerte. Höflich und mit holdseliger Stimme verkündet sie, dass am nächsten Tag alle Gäste auf der Waage geprüft werden sollten. Wer sich dafür nicht bereit fühle, möge freiwillig heimkehren, jetzt sei dazu die letzte Gelegenheit. Die Übermütigeren, die meinen, ihren geistigen Wert schon richtig einschätzen zu können, werden in separate Gemächer geleitet. Christian Rosenkreutz und die anderen, die das noch nicht wagen und im Saal verbleiben, werden mit Stricken jeder an einen bestimmten Ort gebunden.
In dieser Nacht sieht Christan Rosenkreutz sich im Traum auf einen Berg versetzt und beobachtet viele Menschen, die durch einen Faden am Kopf mit dem Himmel verbunden sind. Manche hingen hoch, andere tief. Ein alter Mann aber flogt in den Lüften umher und schnitt die Fäden durch. Wenn einer der Hohen fiel, erzitterte die Erde, und nur die nahe der Erde waren, landeten sanft und fast umbemerkt.
Dritter Tag
Am Morgen des dritten Tages, dem Karsamstag, nachdem die Übermütigeren schon aus ihren Gemächern zurückgekehrt waren, erscheint die Jungfrau wieder, in roten Samt gekleidet, mit weißem Band umgürtet und einem grünen Lorbeerkranz auf dem Haupt, begeleitet von 200 geharnischten Männern, die ebenfalls in Rot und Weiß gekleidet waren. Die Stricke der noch immer Gebundenen werden gelöst mit den Worten: "Es kann euch vielleicht besser ergehen als einem der Vermessenen, die hier noch frei stehen." Dann wird mitten im Saal die Waage aus lauterem Gold aufgehängt, mit der Christian Rosenkreutz und die anderen Gäste geprüft werden sollen. Sieben Gewichte, ein ziemlich großes, dann vier kleine einzeln nebeneinander und schließlich zwei große auch wieder für sich, werden auf einen mit rotem Samt bedeckten Tisch gestellt, die vielfach als die 7 Tugenden gedeutet werden. Rudolf Steiner sieht in ihnen die Sieben Freien Künste[20].
Nach Ständen geordnet werden die Gäste gewogen, zuerst die Kaiser und Könige, dann die Adeligen, Herrn und Gelehrte und schließlich die Quacksalber und Scharlatane. Wer die Prüfung nicht besteht, wird gefesselt. Christian Rosenkreutz besteht die Prüfung nicht als Erster, nicht als Siebenter, sondern bemerkenswerterweise als Achter[21] und er hält nicht nur allen sieben Gewichten stand, sondern bringt sogar noch einen solchen Überschuß mit, dass selbst drei Mann, die auf Geheiß der Jungfrau mit allen Kräften an der anderen Seite der Waage ziehen, ihn nicht in die Höhe bringen, worauf einer der Knaben begeistert ausruft: »Der ists!«. Es wird nun Christian Rosenkreutz die Wahl gegeben, einen der Gefangenen zu erlösen und er wählt den ersten König, der nur ganz knapp am letzten Gewicht gescheitert war und der ihn schon längst erbarmte.
Diejenigen, die bei der Wägung für tugendhaft befunden wurden, dürfen nun mit beraten, was mit den Gefangenen zu geschehen habe. Um zwölf Uhr Mittag sollen die Urteile vollstreckt werden, doch zuvor werden alle zu einer festlichen Tafel geladen, die mit rotem Samt bedeckt und mit lauter silbernen und goldenen Trinkgefäßen versehen ist. Christian Rosenkreutz wird dabei ein ganz besonders ehrenvoller Platz zugewiesen. Die bestanden haben, sind nun erwürdigt, einem vom König selbst gestifteten Orden anzugehören. Sie erhalten ein Goldenes Vlies mit einem geflügelten Löwen darauf, wie es auch die Jungfrau trägt, woraus Christian Rosenkreutz schließt, dass sie die Präsidentin des ganzen Ordens sei.
Dann werden die Urteile verlesen und man geht zur Vollstreckung in den Garten hinaus. Der Garten ist zwar nicht besonders zierlich angelegt, doch sind die Bäume in guter Ordnung gepflanzt und ein köstlicher Brunnen fließt darin, der mit wundersamen Bilder und Inschriften und seltenen Zeichen geschmückt ist. Im Garten war ein hölzernes Gerüst mit vier Galerien übereinander aufgebaut. Die unterste, prächtigste Galerie ist mit weißen Tüchern verhangen, die zweite ist frei und die dritte und vierte ist mit roten bzw. blauen Tüchern verdeckt. Da sich die Jungfrau voll tiefer Ehrfurcht verneigt, ahnt man die Gegenwart des Königs und der Königin. Christian Rosenkreutz und seine Begleiter werden über eine Wendeltreppe auf die zweite Galerie geführt.
Nun tritt jene Jungfrau hervor, die Christian Rosenkreutz am ersten Tag die Einladung überbracht hatte und lässt ihre Posaune erschallen zum Zeichen, dass die Urteilsvollstreckung beginnt. Einige der unglückseligen Gescheiterten werden nun aus dem Schloss gewiesen, manche davon mit Schimpf und Spott, anderen wird dazu noch eine Buße auferlegt und einige erwartet sogar das Todesurteil. Christian Rosenkreutz nennt nun auch die Zahl der Gescheiterten. 7 hatten nur bei einem Gewicht bestanden, 21 hatten immerhin 2 aufgewogen, 35 drei Gewichte, ebenfalls 35 vier Gewichte, weitere 21 bestanden die Prüfung bei fünf Gewichten und 7 bei sechs Gewichten, wovon der eine König, den Christian Rosenkreutz erlösen durfte, am siebenten Gewicht nur ganz knapp gescheitert war. Insgesamt waren es also 126, von denen keiner dem anderen gleich war[22][23]. Dann gab es noch viele, die an allen Gewichten gescheitert waren und nur einige wenige Erwählte hatten alle Prüfungen bestanden.
Nachdem die Exekutionen, die Christian Rosenkreutz die Tränen in die Augen treiben, vorüber sind, leert sich der Garten schnell. Nachdem fünf Minuten lang völlige Stille geherrscht hat, kommt ein schneeweißes Einhorn mit einem güldenen Halsband mit etlichen Buchstaben darauf zum Brunnen und neigt sich vor dem Löwen, der unbeweglich auf dem Brunnen stand und der daraufhin das blanke Schwert, das er in seinen Klauen hielt in zwei Teile zerbricht, die im Brunnen versinken. Darauf brüllt er so lange, bis eine weiße Taube mit einem Ölzweig im Schnabel kommt, welcher vom Löwen verschlungen wird, worauf das Einhorn freudig abzieht.
Die Verbliebenen werden nun im Schloss herumgeführt, wo sie in mancherlei Räumen merkwürdige und wundersame Dinge, Gegenstände und Räumlichkeiten bestaunen dürfen. So werden sie an die Grabstätte der Könige geführt, wo Christian Rosenkreutz, wie er sagt, mehr gelernt habe, als in allen Büchern geschrieben steht und wo auch der herrliche Phönix zu bewundern ist. Der Knabe, der die Gäste geleitet, führt sie dann weiter in die fürstliche Bibliothek, wird aber ganz bleich, als er von einem anderen Knaben, der gelaufen kommt, erfährt, dass seine Majestät nicht erlaube, dass jemand die Bibliothek und die Grabstätte besichtige. Ängstlich bittet er die Gäste, nichts zu verraten, wenn ihnen sein Leben lieb sei. Dann werden Wasserspiele, Terassen und andere Kunstfertigkeiten gezeigt, die halbkreisförmig um einen Turm angeordnet sind auf dem ein kostbares Uhrwerk den Lauf der Planeten anzeigt. Schließlich kommt man in einen großen Saal, in dessen Mitte, halb versenkt in die Erde, ein 30 Fuß durchmessender Erdglobus steht. Der Globus ist hohl und von innen aus kann man den ganzen Sternenhimmel bewundern, was Christian Rosenkreutz so fasziniert, dass er als Letzter bei der abendlichen Tafel erscheint.
Abends bei der Tafel erzählt man sich Geschichten mit durchaus auch leicht anzüglich scheinendem Inhalt. Als schließlich die Jungfrau nach ihrem Namen gefragt wird, antwortet sie mit einem Zahlenrätsel, das allein Christian Rosenkreutz zu lösen vermag:
Die Jungfraw lächlet meines Fürwitz, ließ sich doch nichts bewegen, sonder antwortet: Mein Nam helt fünff und fünfftzig, und hat doch nur acht Buchstaben, der dritte ist deß fünfften drittertheil, kompt er dann zu dem sechsten, so wirt ein zahl deßen Radix schon umb den ersten Buchstaben grösser wirt, dann der dritte selbst ist und ist deß vierdten halbtheil. Nuhn seind der fünfft und siebent gleich, so ist der letst dem ersten auch gleich, und machen mit dem anderen soviel als der sechste hat, der doch nuhr umb vier mehr als der dritte dreymal hatt: Nun sagt ihr mir mein Herr, wie heiß Ich? Die Antwort war mir krauß gnug, noch ließ ich nit nach: Sprach, Edle und Tugentsame Jungfraw, mochte ich nit einen einigen Buchstaben erlangen? Ja wol sprach sie, daß ist wol zuthun, was mag dann, antwortet ich wider, der Siebendt haben? Er hat, sprach sie, so viel als der Herren hie seind: Hiemit war ich Content, und fand ihren Namen leichtlich: deßen sie wol zufrieden war, mit vermelden, es solte uns noch wol mehrers unverborgen sein.
Der Name der Jungfrau lautet ALCHIMIA. Da genau 9 Herrn anwesend sind, ergibt sich das wie folgt:
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. A L C H I M I A 1 12 3 8 9 13 9 1 = 55 + 1 (der achte Buchstabe ist gleich dem ersten und wird in der Summe nicht mitgezählt)
Zuletzt werden die Gäste nochmals eindringlich belehrt und dürfen zu Bett gehen. Christian Rosenkreutz wird in dieser Nacht bis in die frühen Morgenstunden hin von einem Alptraum gequält, in dem er an eine Türe kommt, die er lange nicht zu öffnen vermag, bis es ihm endlich doch noch gelingt.
Vierter Tag
Am Morgen des vierten Tages erwacht Christan Rosenkreutz erst sehr spät, geweckt durch die laute Musik von Bläsern. Auch sein Knabe schreckt totenbleich vom Lager auf. Die Frühstückszeit ist schon vorbei und Christian Rosenkreutz eilt in den Garten, wo die anderen schon versammelt sind. Der Löwe am Brunnen hält nun eine Tafel, auf der auf Lateinisch geschrieben steht:
HERMES PRINCEPS. Bibat ex me qui potest, |
Ich Hermes, der Fürst Trinke aus mir, wer kann, |
Dem Spruch folgend waschen sich alle am Brunnen und nehmen aus einem goldenen Kelch einen Trunk. Dann folgen sie der Jungfrau wieder in den Saal und legen neue goldgewirkte und mit Blumen verzierte Gewänder an. Jeder erhält ein neues Goldenes Vlies, über und über mit Edelsteinen besetzt, an dem ein schweres Stück Gold hängt, auf dem Sonne und Mond einander gegenüberstehend abgebildet sind. Auf der Rückseite findet sich der Spruch: Des Mondes Schein wird sein wie der Sonnen Schein und der Sonnen Schein wird siebenmal heller sein denn jetzt.[24]
Begleitet von ihrer Jungfrau und von Musikanten werden die Gäste anschließend gemäß ihrer Ordnung über die königliche Wendeltreppe 365 Stufen hinaufgeführt, wo sie schon von an die 60 kostbar gekleideten Jungfrauen erwartet werden. Jeder erhält einen Lorbeerkranz und die Jungfrau einen Zweig. Dann wird ein Vorhang beiseite gezogen und man sieht im Halbrund angeordnet drei königliche Stühle, auf denen jeweils zwei Personen saßen. Auf dem ersten Stuhl saß ein alter König mit grauem Bart mit seiner jungen und schönen Gemahlin, auf dem dritten ein schwarzer König mittleren Alters mit einem feinen alten verschleierten Mütterlein und auf dem mittleren zwei junge Menschen mit Lorbeerkränzen und einer Krone über ihren Häuptern. Sie waren zwar nicht so schön, wie Christian Rosenkreutz sie sich vorgestellt hatte, doch das musste so sein. Hinter ihnen saßen auf einer runden Bank großteils alte Männer.
Auch der kleine Cupido flog munter herum. Vor der Königin stand ein Altar mit einem schwarzsamtenen Buch, einem elfenbeinenen Leuchter, einer Sphären- oder Himmelskugel, einer Uhr mit Schlagwerk, einem kristallenen Brunnen mit blutrotem Wasser und einem Totenkopf, aus dessen einer Augenhöhle eine weiße Schlange kroch, sich um alle Gegenstände schlängelte und bei der anderen wieder hineinschlüpfte. Daneben waren überall wundersame Bilder, die sich bewegten, als ob sie lebten und als alle wieder über die Wendeltreppe hinuntergeführt werden ertönt ein so wundersamer Gesang, dass niemand sagen konnte, ob er von den Jungfrauen drinnen oder von den Bildern selbst herrührte.
Unten gibt es nun ein Mittagsmahl, man vertreibt sich die Zeit mit schlüpfrigen Gesprächen und es wird sogar die Frage diskutiert, welche der Jungfrauen sich welchen Herrn zum Schlafbuhlen für diese Nacht erwählen sollte. Christian Rosenkreutz wird damit aufgezogen, dass ihn wohl die edle Führerin der Jungfrauen selbst begleiten werde, doch soll schließlich das Los entscheiden. Die Wahl wird aber so listig ausgeführt[25], dass am Ende alle Herrn leer ausgehen. Anschließend wagt man ein munteres Tänzchen mit den Jungfrauen. Zu Ehren seiner königlichen Majestät wird schließlich noch eine fröhliche Komödie in 7 Akten mit 5 Zwischenspielen aufgeführt.
Zum Abendessen werden alle wieder über die Wendeltreppe hinauf geleitet. Die königlichen Personen tragen leuchtende, schneeweiße Gewänder. Nach dem Essen wird ein Buch gebracht und jeder muß sich dem König verschreiben und den Schweigetrunk nehmen.
Dann läutet ein Glöcklein, sechs Särge werden gebracht. Die königlichen Personen erbleichen und legen schwarze Gewänder an. Der ganze Saal samt Boden und Decke wird mit schwarzem Samt verhangen. Dann schlägt ein Mohr mit einem scharfen Beil den königlichen Paaren die Häupter ab, die sogleich in schwarze Tücher gehüllt werden. Ihr Blut wird in einem Pokal gesammelt. Zuletzt wird auch der schwarze Mann enthauptet. Sein abgeschlagenes Haupt und das Beil werden in eine kleine Truhe gelegt.
Alle sind erschrocken, manche weinen und sind verzagt und Christian Rosenkreutz dünkt dies eine wahrlich »blutigen Hochzeit«, doch die Jungfrau besänftigt sie und spricht: Dieser Leben stehet nun in eurer Hand, und wenn ihr mir folgt, soll ein solcher Tod viel mehr lebendigmachen und schickt alle zu Bett.
Schlag Mitternacht bemerkt Christan Rosenkreutz, dessen Gemach nach dem großen See hinaus lag, auf dem See ein großes Feuer. Dann sieht er sieben Schiffe übers Wasser fahren, die über und über mit Lichtern besteckt waren. Über jedem schwebt eine Flamme - der Geist des Enthaupteten. Die sechs Särge und ein Kästlein werden auf die Schiffe verladen, die Lichter bis auf je ein Licht zur Wacht gelöscht, und die sechs Flammen fahren mit den Schiffen über den See[26].
Fünfter Tag
Am Morgen des fünften Tages steht Christian Rosenkreutz früh auf, begierig zu erfahren, was geschehen sei. Doch es ist so früh, dass er noch niemand im Saal antrifft. So lässt er sich von seinem Knaben im Schloss herumführen, um vielleicht Besonderes zu entdecken. Der Knabe führt ihn alsbald etliche Stufen unter die Erde an eine eiserne Tür, auf der seltsame große kupferne Buchstaben angebracht waren:
Venus |
Dahinter liegt ihn einem Gewölbe ohne natürlichem Licht das Grab der Venus[27]. Es war dreieckig und hatte in der Mitte einen polierten kupfernen Kessel, der von drei Tieren getragen wurde, einem Adler, einem Ochsen und einem Löwen. Alles andere war aus lauter Gold und Edelsteinen, und in dem Kessel stand ein Engel, der einen unbekannten Baum im Arm trugt, von dem es stetig in den Kessel tropfte. Sobald eine Frucht in den Kessel fiel, wurde sie auch zu Wasser und floss weiter in drei goldene Nebenkesselchen.
Eine kupferne Tür im Boden des Grabes führt hinunter zu Frau Venus. Der Knabe leuchtet ihm mit einem ewigen Lichtlein, das er aus einem kleinen Kästlein genommen hatte. Christian Rosenkreutz lüftet den Schleier des Himmelbettes und betrachtet Frau Venus, die hier ganz »bloß« in solcher Zier und Schönheit daliegt, dass er wie erstarrt da stand. Zu berühren wagt er sie nicht. Hinter dem Bett aber war eine Tafel auf der mit merkwürdigen Buchstaben geschrieben stand:
Baumes wird vollends |
Das Geheimnis, wer der Vater dieses Königs ist, wird am Ende der "Chymischen Hochzeit" noch überraschend gelüftet werden: es ist Christian Rosenkreutz selbst. Beim Hinausgehen betracht er noch alle Türlein genauer und bemerkt, wie in jeder Ecke ein Lichtlein wie Pyrit so feurig glühte, dass davon der Baum im Kessel dahinschmelzen musste und dennoch immer neue Früchte hervorbrachte.
Kaum haben Christian Rosenkreutz und sein Knabe das Grab verlassen, werden sie von Cupido entdeckt, der sehr besorgt dreinschaut, weil niemand das Grab seiner Mutter betreten dürfe. Doch hatte er zum Glück nicht entdeckt, woher sie kamen. Sicherheitshalber versieht er aber die kupferne Tür mit einem starken Schloss. Dann taucht er einen seiner Pfeile in ein glühendes Lichtlein und stupft damit Christian Rosenkreutz auf die Hand.
Inzwischen haben sich auch die anderen Gäste im Saal versammelt und auch die Jungfrau erscheint, ganz in schwarzen Samt gekleidet, mit ihrem Lorbeerzweig in der Hand. Christian Rosenkreutz muss noch rasch Cupido, der ganz und gar nicht traurig scheint, seine Hand vorweisen und dieser lacht herzlich, als er dort noch ein Tröpfchen Blut bemerkt und daraufhin lautstark verkündet, dass er nun bald seine Jahre ablegen, d.h. sich verjüngen werde. Die anderen Gäste werden von Cupido noch kurz ermahnt, dass sie auf Christian Rosenkreutz acht geben sollten, dann geht man in den Hof, wo sechs Särge aufgestellt sind und neben jedem stehen acht vermummte Männer. Alle - außer Christian Rosenkreutz, der es besser weiß - sind überzeugt, dass in den Särgen die Leichen der königlichen Personen liegen.
Ein pathetischer Trauermarsch erkling und mit vielen Zeremonien werden die Särge in die Erde versenkt. Dann hält die Jungfrau eine kurze Ansprache und nimmt allen Gästen das Versprechen ab, mit allen Kräften daran zu arbeiten, die soeben begrabenen Personen wieder zum Leben zu erwecken. Dazu müsse man sich zum Olympischen Turm begeben, um von dort die notwendige Arznei zu holen.
Am Ufer des Sees liegen schon die 7 Schiffe bereit. Jedes hat nur zwei Mann Besatzung und trägt ein besonderes Zeichen. Fünf haben als Zeichen je einen der regelmäßigen platonischen Körper. Das Schiff, das Christian Rosenkreutz und die Jungfrau trägt, hat einen Globus zum Zeichen. In ganz bestimmter Ordnung machen sich die Schiffe auf die Reise. Die beiden mittleren Schiffe waren die stattlichsten und fuhren ohne Menschen und ihre Fahnen trugen Sonne und Mond als Zeichen[28].
Durch einen engen Arm gelangt man auf das Meer hinaus, wo sie alle Sirenen, Nymphen und Meergöttinen schon erwarten und als Hochzeitsgabe eine große, wertvolle Perle überbringen. Sie bitten, dass man für eine kurze Weile innehalten wolle, was die Jungfrau auch gewährt und zu diesem Zweck anordnet, dass sich die beiden großen Schiffe in der Mitte halten und die anderen ein Pentagon um sie herum bilden sollten. Dann begannen die Nymphen mit lieblicher Stimme ein Loblied der Liebe zu singen[29][30].
Nach etlichen Stunden kommt der Olympische Turm in Sicht, der inmitten einer viereckigen Insel steht, die von einem festen Mauerwall umgeben ist. Dahinter liegt eine schöne Wiese mit zahlreichen Gärten. Der Turm selber sieht von außen so aus, als habe man sieben runde Türme aneinander gebaut, doch ist der mittlere etwas höher. Innwendig gehen alle ineinander über. Der Turm hat sieben Stockwerke.
Nachdem, wie Christian Rosenkreutz wohl erkannt hatte, unbemerkt von den anderen die Särge in den Turm gebracht worden waren, werden alle in das unterste Geschoß geführt. Hier müssen sie Kräuter, Edelsteine und dergleichen stoßen und Säfte und Essenzen daraus gewinnen und in Gläser füllen. Indessen wurden unbemerkt in einem Nebenzimmer die Leichname von drei Jungfrauen gewaschen.
Abends gibt es nur Suppe und etwas Wein und als Schlafstatt wird für jeden eine Decke auf die Erde gelegt. Da Christian Rosenkreutz nicht einschlafen kann, streift er noch durch die Gärten und kommt dabei bis an den Wall. Er betrachtet den Sternenhimmel und erkennt mit großer Freude eine ganz einzigartige Konstellation der Planeten[31].
Schlag Mitternacht sieht er sieben Flammen über das Meer herannahen und sich auf die Spitze des Turmes zubewegen. Sobald die Flammen sich auf der Spitze niedergelassen haben, beginnen die Winde das Meer aufzuwühlen und der Mond wird von Wolken verhüllt. Von Furcht erfüllt eilt Christian Rosenkreutz in den Turm zurück und legt sich, eingelullt vom sanften Rauschen eines kleinen Brünnleins im Laboratorium, schlafen.
Sechster Tag
Am sechsten Tag soll sich alles entscheiden[32]. Innerhalb des Olympischen Turmes erleben die Gäste vom ersten Stock an, in dem sich das Laboratorium befindet, einen stufenweisen Aufstieg, bei dem sie an alchemistischen Operationen teilnehmen, die durch einen Greis und eine Frau geführt werden. Sie müssen dabei auf sehr sonderbare Weise von Stockwerk zu Stockwerk hinaufsteigen. Es werden ihnen nämlich Leitern, Seile und Flügel gebracht, die per Los zugeteilt werden. Die mit den Flügeln konnten schnell aufsteigen, doch die mit den Seilen waren übel dran. Christian Rosencreutz erhält glücklicherweise eine Leiter.
Im zweiten Stock bringen zwölf Personen, die zuvor die Musikanten gewesen waren, ein längliches Ding, das die anderen nur für einen Brunnen halten. Doch Christian Rosenkreutz erkennt, dass es in Wahrheit ein ovaler Sarg mit den sechs Leichen ist. Die zwölf Musikanten geleiten mit lieblicher Musik die Jungfrau mit ihren Dienerinnen in den Saal und alle müssen sich in einer besonderen Ordnung um den Brunnen herum aufstellen. Eine merkwürdige Prozedur mit dem Brunnen und vier Röhren beginnt, bei der das Wasser die Leichname völlig auflöst. Das Wasser färbt sich rot und wird unter dem Brunnen in einer goldenen Kugel gesammelt, die am Ende des ganzen Prozesses hinausgebracht wird.
Man steigt in den dritten Stock auf, der viele Fenster und zwischen je zwei Fenster eine Tür mit einem dahinter befindlichen polierten Spiegel hat, und findet die Kugel mitten im Saal an einer Kette hängend wieder. Von den Sonnenstrahlen wird die goldene Kugel mit Hilfe der Spiegel eine Zeit lang erhitzt. Dann lässt man sie abgekühlen und geht frühstücken. Das war gerade um sieben Uhr. Danach wird die Kugel mit einem Diamanten auseinandergeschnitten und man findet darinnen nichts Rotes mehr, sondern ein schneeweißes Ei, das die Jungfrau alsbald hinaustragen lässt.
Im vierten Stock findet man einen viereckigen kupfernen Kessel mit gelbem Sand, in dem das Ei ausgebrütet wird. Auf der einen Seite des Kessels fand man folgende Inschrift:
O.BLI.TO.BIT.MI.LI.
KANT.I.VOLT.BIT.TO.GOLT.
(Ungelöst. Nur Alfons Rosenberg (Stuttgart 1957) hat die Buchstaben zu lateinischen Worten ergänzt)
Auf der zweiten Seite standen diese drei Worte:
SANITAS. NIX. HASTA.
(Gesundheit. Schnee. Lanze.)
Die dritte Seite trug nur dieses Wort:
F.I.A.T.
(Es werde)
Aber auf der Rückseite stand eine ganze Inschrift, die lautete:
QUOD
Ignis: Aer: Aqua: Terra:
SANCTIS REGUM ET REGINARUM NOSTR.
Cineribus. Eripere non potuerunt.
Fidelis Chymicorum Turba
IN HANC URNAM
Contulit.
Ao*)
Was
Feuer, Luft, Wasser, Erde
unserer König und Königinnen heiligen
Aschen nicht entreißen konnten,
hat die treue Schar der Alchemisten
in diese Urne
gesammelt.
- ) = 1459, nach R. Kienast. Auch: Π = Paracelsus, h = Hohenheimensis, m = Medicinae, d = Doctor.
Alsbald schlüpft ein Vogel heraus, der angebunden und mit dem Blut der Enthaupteten gemästet wird. Er wächst sehr rasch und beißt und kratz recht bösartig und war jetzt ganz schwarz und wild. Nachdem man ihm neue Speise, vielleicht das Blut einer anderen königlichen Person, gebracht hat, verliert er seine schwarzen Feder und es wachsen ihm neue, die schneeweiß sind. Eine dritte Speise verleiht ihm schließlich ein wunderschönes buntgefärbtes Gefieder und er war jetzt auch so zahm und zutraulich, dass er gefahrlos losgebunden werden konnte. Dann wird mit Freuden das Mittagsmahl eingenommen.
Danach bereitet man im fünften Stock dem Vogel ein Bad mit einem weißem Pulver, das wie Milch aussieht. Da verliert er alle Federn, wird am ganzen Körper blau, nur der Kopf bleibt weiß.
Im sechsten Stock wird nun ein Altar aufgestellt mit den sechs Dingen darauf, die man am vierten Tag auch im königlichen Gemach des Schlosses gesehen hatte (Buch, Leuchter, Himmelskugel, Uhr mit Schlagwerk, kristallener Brunnen mit blutrotem Wasser und Totenkopf mit Schlange). Der Vogel gesellte sich als siebenter dazu. Nachdem er aus dem Brünnlein einen guten Trunk genommen hatte, pickt er die weiße Schlange, bis sie heftig blutete. Das Blut wird in einer goldenen Schale aufgefangen und dem sich heftig sträubenden Vogel in den Hals geschüttet. Dann steckt man den Kopf der Schlange in das Brünnlein, worauf sie wieder lebendig wird und rasch durch die Augenhöhle in den Totenschädel hineinkriecht und lange nicht mehr gesehen wird. Indessen drehte sich die Himmelskugel immer weiter, bis die erwünschte Konjunktion eintrat. Da schlägt die Uhr eins. Eine zweite Konjunktion tritt ein und es schlägt zwei. Als bei der dritten Konjunktion die Uhr wieder schlägt, legt der Vogel demütig seinen Hals auf das Buch und lässt sich gutwillig von einem, den das Los bestimmt hat, den Kopf abschlagen. Es kommt aber kein Blut; erst als seine Brust geöffnet wird, springt es so frisch und hell hervor, als wäre es ein rubinrotes Brünnlein. Auf Geheiß der Jungfrau wird mit dem Lichtlein am Altar ein Feuer entzündet und der Leib des Vogels zu Asche verbrannt, die sorgfältig in einer Lade aus Zypressenholz gesammelt wird.
Unter dem Vorwand, dass sie faule und träge Laboranten seien, werden Christian Rosenkreutz und drei seiner Begleiter von den anderen abgesondert und heimlich in den siebenten Stock geleitet. Tatsächlich sind sie dazu berufen, das große Werk zu vollenden. Oben empfängt sie der alte Mann bei einem kleinen Öfchen. Die Jungfrau bringt das Kästchen mit der Asche, leer sie in ein anderes Gefäß und füllt das ihrige mit anderer Materie. Sie sagt, dass sie nun den anderen Künstlern einen blauen Dunst vormachen müsse und eilt rasch wieder hinunter um die dort Verbliebenen mit im Grunde sinnlosen Arbeiten zu beschäftigen.
Oben im siebenten Stock wird nun die Asche mit zuvor präpariertem Wasser zu einem Teig verrührt auf dem Feuer heiß gemacht[33]. Dann wird die Masse in zwei Formen gegossen. Als man schließlich die winzigen Formen öffnet, liegen da zwei schöne, helle, fast durchscheinende Figuren: ein Knäblein und ein Mägdlein, jedes nur vier Zoll lang. Sie waren nicht hart, sondern weich und aus Fleisch, wie ein Mensch, doch war kein Leben in ihnen. Man legt sie auf zwei Atlaskissen und lässt tropfenweise das Blut des Vogels in ihre Münder fallen, worauf sie sehr schnell wachsen und endlich die Größe von erwachsenen Menschen erreichen. Sie hatten goldgelocktes Haar und waren so wunderschön, dass selbst die Venusgestalt an ihnen gemessen ein Nichts war. Der Alte lässt sie mit Tüchern bedecken und stellt rundherum Fackeln auf, die aber, wie Christian Rosenkreutz als einziger bemerkt, nur dazu da sind, damit niemand merken zu lassen, wann die Seele in die Gestalten führe. Auch Christian Rosenkreutz hätte nichts bemerkt, wenn er nicht zuvor schon zweimal die Seelenflämmchen gesehen hätte.
Die Jungfrau kommt nun mit Musik und ihrem ganzen Gefolge und bringt zwei prachtvolle weiße Gewänder mit, die aus reinem Kristall zu sein scheinen und doch weich und undurchsichtig sind. Das alles geschah unter dem Dach, das aus sieben Kuppeln bestand, von denen die mittlere etwas höher war und zuoberst ein kleines, rundes Loch hatte. Nach vielen Zeremonien kommen sechs Jungfrauen herein, deren jede eine große Posaune trägt, die mit einer grünen, leicht brennbaren Materie umwunden ist. Der Alte setzt eine der Posaunen einer der Figuren so an den Mund, dass die andere Öffnung genau auf das Loch in der obersten Kuppel gerichtet ist.
Während der Blick aller anderen fest auf die Figuren gerichtet ist, blickt einzig Christian Rosenkreutz unverwandt zu der Kuppelöffnung hin. Daraufhin wird, wieder zur Ablenkung, das Laubwerk um die Posaune herum entzündet und ein heller Feuerstreifen fährt, nur von Christian Rosenkreutz bemerkt, durch das Loch in der Kuppel durch die Posaune in die leblose Figur hinein.
Dann nimmt der Alte die zweite Posaune und verfährt mit ihr in gleicher Weise und so geht es weiter, bis jede der beiden Figuren die ganze Prozedur dreimal durchgemacht hat. Dann werden die beiden in ein Reisebett gelegt, wo sie hinter zugezogenen Vorhängen für eine Weile schlafen. Die Jungfrau eilt indessen wieder hinunter zu den anderen Künstlern, die recht wohlgemut waren, denn sie durften, wie die Jungfrau später erzählte, Gold herstellen, welches, wie Christian Rosenkreutz knapp bemerkt, wol auch ein stuck dieser Kunst, aber nit das fürnembst, nöttigst und beste ist.
Nach etwa einer halben Stunde stellt sich der mutwillige Cupido wieder ein und neckt die hinter dem Vorhang Schlafenden solange, bis sie ganz verwundert erwachten, denn sie vermeinten, dass sie von der Stunde ihrer Enthauptung bis jetzt geschlafen hätten. Sie setzen sich in zwei bereitgestellte Sessel und werden ehrerbietig begrüßt.
Da es schon auf fünf Uhr zuging, durfte man nicht säumen. Rasch wird das junge königliche Paar hinunter zum Schiff geleitet und sie fahren so schnell davon, dass man sie bald aus den Augen verliert. Dann werden die vielen Geräte auf die anderen Schiffe verladen und man versammelt sich zum Abendessen, wo Christian Rosenkreutz und seine drei Begleiter wieder mit den anderen Künstlern zusammentreffen. Auch der Alte nimmt an der Tafel teil und von ihm hat Christian Rosenkreutz, wie er sagt, am meisten gelernt.
Nach dem Abendessen führt der Alte alle in seine Kunstkammer, wo man viele wundersame Dinge, die die Vernunft der Natur nachbebildet hatte, bestaunen konnte. Dann geht man schlafen. Von dem leisen Rauschen des Meeres in den Schlaf gewiegt, fällt Christian Rosenkreutz in einen sanften, traumlosen Schlaf, der von elf Uhr bis morgens um acht anhielt.
Siebenter Tag
Am Morgen des siebenten Tages erhalten alle gelbe Kutten und legen ihr Goldenes Vließ an und die Jungfrau verkündet ihnen, dass sie zu Rittern vom Goldenen Stein[34] geschlagen werden sollen. Der Alte aber überreicht jedem einen goldenen Stein[35], auf dessen Vorderseite zu lesen war:
(Ars Naturae Ministra = Die Kunst ist die Dienerin der Natur)
Auf der Rückseite stand:
(Temporis Natura Filia = Die Natur ist die Tochter der Zeit)
Auf zwölf Schiffen kehrt man nun zum Schloss zurück. Sechs der Schiffe waren jene, mit denen man gekommen war, sechs gehörten dem Alten, der ebenfalls mitfuhr. Die Fahnen der Schiffe tragen jeweils ein Tierkreiszeichen, das des Christian Rosenkreutz fährt unter dem Zeichen der Waage. Die Schiffe kommen schnell voran und werden schon von etwa 500 anderen Schiffen erwartet. Auf einem davon, das ganz von Gold und Edelsteinen schimmert, sitzen König und Königin und andere hochgeborene Herren, Frauen und Jungfrauen. An Land werden alle freudig empfangen und Christian Rosenkreutz und der Alte, die nun beide eine schneeweiße Fahne mit rotem Kreuz tragen, dürfen neben dem König reiten. Christian Rosenkreutz hatte sich aber auch die Zeichen auf den Hut gesteckt, die er am zweiten Tag am Tor gegen Wasser und Salz hatte einlösen können, was der junge König alsbald bemerkt und daraufhin freudig lachend sagt, dass Christian Rosenkreutz sein Vater sei[36].
Am Tor werden sie von dem Torhüter empfangen, der dem König eine Bittschrift überrreicht, die diesen ziemlich erschreckt. Nach einer festlichen Tafel werden alle wie angekündigt zu »Rittern des Goldenen Steins« geschlagen und müssen folgendes auf das Zepter des Königs schwören:
I. Ihr Herren Ritter sollt schwören, daß ihr euren Orden keinem Teufel oder Geist, sondern euch allein Gott, eurem Schöpfer und dessen Dienerin der Natur verschreibt.
II. Daß ihr alle Hurerei, Unzucht, Unreinigkeit verabscheut und mit solchen Lastern euren Orden nicht beschmutzt.
III. Daß ihr mit euren Gaben jedem, der es wert und bedürftig ist, helft.
IV. Daß ihr diese Ehre nicht zu weltlicher Pracht und höherem Ansehen anwendet.
V. Daß ihr nicht länger leben werdet als es Gott haben will.[37]
Über den letzten Punkt müssen alle herzlich lachen und er mag auch wohl nur, wie Christian Rosenkreutz bemerkt, zum Scherz hinzugefügt worden sein. Danach werden alle zu einer kleinen Kapelle geführt, wo Christian Rosenkreutz Gott zu Ehren sein Goldenes Vließ und seinen Hut aufhängt und zum ewigen Gedächtnis dalässt. Und da auch jeder seinen Namen eintragen muss, schreibt er:
Summa scientia nihil scire. Höchstes Wissen ist, nichts zu wissen. |
Christian Rosenkreutz spielt noch eine weitere besondere Rolle, die mit der Bittschrift des Torwächters, der ehemals ein hochgeachteter Astrologe gewesen war, zusammenhängt. Da Christian Rosenkreutz in das Mausoleum der Venus eingedrungen war und dies nun auch voll Scham bekennt, wird ihm schweren Herzens vom König auferlegt, im Schloss zu verbleiben und das Amt des Torwächters zu übernehmen, um so den alten Torhüter von seiner Pflicht zu erlösen, die dieser wegen des gleichen Vergehens hatte annehmen müssen.
Die Geschichte endet überraschend aber schließlich doch wieder in der Eremitage des Christian Rosenkreutz, womit deutlich wird, dass es sich bei den Schilderungen um keine äußeren Erlebnisse, sondern um innere geistige Erfahrungen handelt. Wie es aber Christian Rosenkreutz doch noch gelungen ist, das Schloss zu verlassen, wird verschwiegen[36]. Am Ende heißt es nur lapidar:
Hie manglen ungefehr zwey quart Bletlin, und ist er (Autor huius), da er vermeinet, er muste morgens Thorhüter sein, heim kommen.
Geisteswissenschaftliche Erläuterungen
- ↑ 1,0 1,1 Die Jahreszahl 1459: "Bedeutungsvoll für ihn ist, daß er sich sagen darf, diese Verfassung in seiner Menschen-Wesenheit stehe im Einklang mit den Verhältnissen im Weltall. Er hat in «fleißiger Nachrechnung und Kalkulation» seiner «annotierten Planeten» gefunden, daß diese Verfassung bei ihm in dem Zeitpunkte eintreten darf, in dem sie nunmehr stattfindet. Wer das hier in Betracht Kommende im Sinne der Torheiten mancher «Astrologen» ansieht, der wird es mißverstehen, gleichgültig ob er sich als Gläubiger zustimmend oder als «Aufgeklärter» hohnlächelnd dazu verhält. Der Darsteller der «Chymischen Hochzeit» hat aus guten Gründen dem Titel seines Buches die Jahreszahl 1459 hinzugefügt. Er war sich bewußt, daß die Seelenverfassung des Trägers der Erlebnisse zusammenstimmen muß mit der Verfassung, bei der in einem bestimmten Zeitpunkte das Weltwerden angelangt ist, wenn innere Seelenverfassung und äußerer Weltinhalt nicht eine Disharmonie ergeben sollen. Der von der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung unabhängigen Seele muß der äußere übersinnliche Weltinhalt in Harmonie begegnen, wenn durch den Zusammenklang der beiden derjenige Bewußtseinszustand entstehen soll, welcher die «Chymische Hochzeit» ausmacht. Wer glaubt, daß die Konstellation der «annotierten Planeten» eine geheimnisvolle Kraft enthält, welche den Erlebniszustand des Menschen bestimmt, der gliche demjenigen, welcher der Meinung wäre, die Zeigerstellungen seiner Uhr hätten die Kraft, ihn zu einem Ausgang zu veranlassen, den er aus seinen Lebensverhältnissen heraus zu einer bestimmten Stunde hat unternehmen müssen." (Lit.: GA 35, S. 345)
- ↑ Im Inneren eines Berges lebt Christian Rosenkreutz also, geistig genauer gesprochen im Erdinneren, wie es der berühmten Vitriolformel der Alchemisten entspricht: Visita Interiora Terrae Rectificando Invenies Occultum Lapidem (Veram Medicinam)
«Siehe in das Innere der gereinigten Erde, und du wirst finden den geheimen Stein, die wahre Medizin.» - ↑ nach dem damals gültigen Julianischen Kalender; vgl.: https://www.nvf.ch/ostern.asp
- ↑ Der Sturm: "In einer Zeit gehobener Seelenstimmung, am Vorabend des Osterfestes, tritt dieses erneute Erleben ein. Der Träger der Erlebnisse fühlt sich wie von Sturm umbraust. So kündigt sich ihm an, daß er eine Wirklichkeit erlebt, deren Wahrnehmung nicht durch den physischen Leib vermittelt ist. Er ist aus dem Gleichgewichtszustande gegenüber den Weltenkräften herausgehoben, in den der Mensch durch seinen physischen Leib versetzt ist. Seine Seele lebt nicht das Leben dieses physischen Leibes mit; sie fühlt sich nur verbunden mit dem (ätherischen) Bildekräfteleib, der den physischen durchsetzt. Dieser Bildekräfteleib ist aber nicht in das Gleichgewicht der Weltenkräfte eingeschaltet, sondern in die Beweglichkeit derjenigen übersinnlichen Welt, welche der physischen zunächst steht, und die von dem Menschen zuerst wahrgenommen wird, wenn er sich die Pforten des geistigen Schauens eröffnet hat. Nur in der physischen Welt erstarren die Kräfte zu festen, in Gleichgewichtszuständen sich auslebenden Formen; in der geistigen Welt herrscht fortdauernde Beweglichkeit. Das Hingenommen-Werden von dieser Beweglichkeit kommt dem Träger der Erlebnisse als die Wahrnehmung des brausenden Sturmes zum Bewußtsein." (Lit.: GA 35, S. 334)
- ↑ Das Weib im blauen Kleid: "Aus dem Unbestimmten dieser Wahrnehmung löst sich heraus die Offenbarung eines Geistwesens. Diese Offenbarung geschieht durch eine bestimmt gestaltete Imagination. Das Geistwesen erscheint in blauem, sternbesetztem Kleide. Man muß von der Schilderung dieses Wesens alles fernhalten, was an symbolischen Ausdeutungen dilettantische Esoteriker gerne zur «Erklärung» herbeitragen. Man hat es zu tun mit einem nicht-sinnlichen Erlebnis, das der Erlebende durch ein Bild für sich und andere zum Ausdrucke bringt. Das blaue, sternbesetzte Kleid ist so wenig Sinnbild etwa für den blauen Nachthimmel oder ähnliches, wie die Vorstellung des Rosenstockes im gewöhnlichen Bewußtsein Sinnbild für die Abendröte ist. Beim übersinnlichen Wahrnehmen ist eine viel regere, bewußtere Betätigung der Seele vorhanden als beim sinnlichen. — In dem Falle des Wanderers zur «Chymischen Hochzeit» wird diese Betätigung durch den Bildekräfteleib ausgeübt, wie im Falle des physischen Sehens durch den sinnlichen Leib vermittels der Augen. Diese Tätigkeit des Bildekräfteleibes läßt sich vergleichen mit der Erregung von ausstrahlendem Licht. Solches Licht trifft auf das sich offenbarende Geistwesen. Es wird von diesem zurückgestrahlt. Der Schauende sieht also sein eigenes ausgestrahltes Licht, und hinter dessen Grenze wird er das begrenzende Wesen gewahr. Durch dieses Verhältnis des Geistwesens zu dem Geisteslicht des Bildekräfteleibes tritt das «Blau» auf; die Sterne sind die nicht rückstrahlenden, sondern von dem Wesen aufgenommenen Teile des Geisteslichtes. Das Geistwesen hat objektive Wirklichkeit; das Bild, durch das es sich offenbart, ist eine durch das Wesen bewirkte Modifikation in der Ausstrahlung des Bildekräfteleibes. " (Lit.: GA 35, S. 335)
- ↑ In diesem Zeichen wirst du siegen. "Der Träger der Erlebnisse, die in der «Chymischen Hochzeit» geschildert sind, ist als Alchimist sich bewußt, daß er auf seinem Wege ein erstarktes Unterscheidungsvermögen für Wahrheit und Täuschung braucht. Nach den Lebensverhältnissen, aus denen heraus er seinen alchymistischen Pfad antritt, sucht er seine Stütze aus der christlichen Wahrheit zu gewinnen. Er weiß: was ihn mit Christus verbindet, hat schon innerhalb seines Lebens in der Sinnen weit eine zur Wahrheit führende Kraft in seiner Seele zur Entfaltung gebracht, welche der Sinnesgrundlage nicht bedarf, die sich also auch bewähren kann, wenn diese Sinnesgrundlage nicht da ist. Mit dieser Gesinnung steht seine Seele vor dem Wesen im blauen Kleide, das ihn auf den Weg zur «Chymischen Hochzeit» weist. Dieses Wesen könnte zunächst ebensogut der Welt der Täuschung und des Irrtums wie derjenigen der Wahrheit angehören. Der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» muß unterscheiden. Aber sein Unterscheidungsvermögen wäre verloren, der Irrtum müßte ihn überwältigen, könnte er nicht im übersinnlichen Erleben erinnern, was ihn in der sinnlichen mit einer inneren Kraft an die Wahrheit bindet. Aus der eigenen Seele steigt auf, was in dieser durch Christus geworden ist. Und so wie sein übriges Licht, so strahlt der Bildekräfteleib dieses Christuslicht nach dem sich offenbarenden Wesen hin. Es bildet sich die rechte Imagination. Der Brief, der ihn auf den Weg zur «Chymischen Hochzeit» weist, enthält das Christuszeichen und die Worte: in hoc signo vinces. — Der Wanderer weiß: er ist durch eine Kraft, die nach der Wahrheit weist, mit dem erscheinenden Wesen verbunden. Wäre die Kraft, die ihn in die übersinnliche Welt geführt hat, eine zur Täuschung neigende gewesen, so stünde er vor einer Wesenheit, die sein Erinnerungsvermögen für den in ihm lebenden Christusimpuls gelähmt hätte. Er würde dann nur der verführerischen Macht gefolgt sein, welche den Menschen auch dann anzieht, wenn die übersinnliche Welt ihm Kräfte entgegenführt, die seinem Wesen und Wollen verderblich sind. " (Lit.: GA 35, S. 344f)
- ↑ Die unverstandene Imagination der drei Tempel: "In dem Briefe wird auf drei Tempel verwiesen. Was mit diesen gemeint ist, wird von dem Träger der Erlebnisse in dem Zeitpunkte noch nicht verstanden, in dem er den Hinweis erhält. Wer in der geistigen Welt wahrnimmt, muß wissen, daß ihm zuweilen Imaginationen zuteil werden, auf deren Verständnis er zunächst verzichten muß. Er muß sie als Imaginationen hinnehmen und als solche in der Seele ausreifen lassen. Während dieser Reifung bringen sie im Menschen-Innern die Kraft hervor, welche das Verständnis bewirken kann. Wollte sie der Beobachter in dem Augenblicke sich erklären, in dem sie sich ihm offenbaren, so würde er dieses mit einer dazu noch ungeeigneten Verstandeskraft tun und Ungereimtes denken. In der geistigen Erfahrung hängt vieles davon ab, daß man die Geduld hat, Beobachtungen zu machen, sie zunächst einfach hinzunehmen und mit dem Verstehen bis zu dem geeigneten Zeitpunkte zu warten. Was der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» am ersten Tage seiner Geist-Erlebnisse erfährt, bezeichnet er als ihm vor «sieben Jahren» angekündigt. Er durfte in dieser Zeit nicht über sein damaliges «Gesicht» eine verstandesmäßige Meinung sich bilden, sondern mußte warten, bis das «Gesicht» in seiner Seele so lange nachgewirkt habe, daß er weiteres mit Verständnis erfahren konnte. " (Lit.: GA 35, S. 346f)
- ↑ Der Traum vom Turm und dem eisgrauen Mann: "Die Erscheinung des Geistwesens im blauen, sternbesetzten Kleide und die Überreichung des Briefes sind Erlebnisse, welche der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» macht, ohne daß ein eigener freier Entschluß seiner Seele dazu führt. Er geht im weiteren dazu über, durch einen solchen freien Entschluß Erlebnisse herbeizuführen. Er tritt in einen schlafähnlichen Zustand ein; in einen solchen, der ihm Traumerfahrungen bringt, deren Inhalt Wirklichkeitswert besitzt. Er kann dieses, weil er nach den Erlebnissen, die er hinter sich hat, durch den Schlaf zustand in ein anderes Verhältnis zur geistigen Welt tritt, als das gewöhnliche ist. Die Seele des Menschen ist im gewöhnlichen Erleben während des Schlafzustandes nicht durch Bande an die geistige Welt geknüpft, die ihr Vorstellungen mit Wirklichkeitswert geben können. Die Seele des Wanderers zur «Chymischen Hochzeit» ist aber verwandelt. Sie ist innerlich so erkräftigt, daß sie in die Traumerfahrung aufnehmen kann, was in ihrem Erleben Zusammenhang hat mit der geistigen Welt, in der sie sich befindet. Und sie erlebt durch eine solche Erfahrung zunächst ihr eigenes, neu gewonnenes Verhältnis zu dem Sinnenleibe. Sie erlebt dieses Verhältnis durch die Imagination des Turmes, in dem der Träumende eingeschlossen ist, und aus dem er befreit wird. Sie erlebt bewußt, was unbewußt im gewöhnlichen Dasein erlebt wird, wenn die Seele einschlafend aus dem Gebiet der Sinneserfahrung in dasjenige übersinnlicher Daseinsform übergeht. Die Beengungen und Nöte in dem Turm sind der Ausdruck für die Sinneserlebnisse nach dem Seelen-Inneren zu, wenn dieses sich dem Gebiet solcher Erlebnisse entwindet. Was die Seele in der Art an den Leib bindet, daß das Ergebnis dieser Bindung die Sinneserfahrung ist, dies sind die wachstumfördernden Lebenskräfte. Unter dem alleinigen Einfluß dieser Kräfte könnte nie Bewußtsein entstehen. Das bloß Lebendige bleibt unbewußt. Zur Entstehung des Bewußtseins führen im Verein mit der Täuschung diejenigen Kräfte, welche das Leben vernichten. Trüge der Mensch nicht in sich, was ihn dem physischen Tode entgegenführt: er könnte zwar im physischen Leibe leben, aber in demselben nicht Bewußtsein entwickeln. Für das gewöhnliche Bewußtsein bleibt der Zusammenhang zwischen den tod-bringenden Kräften und diesem Bewußtsein verborgen. Wer wie der Träger der Erlebnisse in der «Chymischen Hochzeit» ein Bewußtsein für die geistige Welt entwickeln soll, dem muß dieser Zusammenhang vor das «Geistesauge» treten. Er muß erfahren, daß mit seinem Dasein der «eisgraue Mann» verbunden ist, das Wesen, das seiner Natur nach die Kraft des Alterns in sich trägt. Das Schauen im Geistgebiet kann nur derjenigen Seele zuteil werden, welche, während sie in diesem Gebiete weilt, die Kraft auf sich wirken sieht, die im gewöhnlichen Leben hinter dem Altern steht. Diese Kraft ist imstande, die Seele dem Gebiet der Sinneserfahrung zu entreißen. — Der Wirklichkeitswert des Traumerlebnisses liegt darin, daß der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» durch dasselbe sich bewußt ist, er kann nunmehr der Natur und der Menschen weit mit einer Seelenverfassung entgegentreten, die ihn schauen läßt, was in beiden dem gewöhnlichen Bewußtsein verborgen ist. Dadurch ist er gereift für die Erfahrungen der nächsten Tage." (Lit.: GA 35, S. 347ff)
- ↑ DLS: Deus Lux Solis („Gott ist das LIcht der Sonne“), Deo Laus Semper („Gott sei ewig Lob“)
- ↑ Die drei typischen alchemistischen Farben, Weiß, Rot und Schwarz, werden hier genannt, in denen sich der jeweilige Zustand des großen alchemistischen Werks ausdrückt. Die sogenannte Nigredo, die Schwärzung, bezeichnet den Anfangszustand des Werkes. Um sein Werk zu beginnen, muss Christian Rosenkreutz zunächst dem Raben folgen. Auf die Schwärzung folgt die Weißung, die Albedo. Das ist ein Zwischenzustand, in dem aber schon ein inneres Licht entzündet ist und von dem die Alchemisten sagen: Wenn die Materie weiß wird, hat unser König den Tod besiegt. Das Ziel des Werkes aber ist die Rötung, die Rubedo, die die geistige Wiedergeburt ankündigt und anzeigt, dass die Materie nun von jeder Schlacke, allem Gift und jeglicher Unvollkommenheit befreit ist. Der rotgekleidete König symbolisiert das Feuer des Geistes, die Macht und die Kraft; er ist der wahre Herrscher.
- ↑ Die vier Wege: "Der Alchimist strebt nach einem Naturwissen, das für ihn Grundlage wahrhaftiger Menschenkenntnis werden soll. Den Weg zu einem solchen Wissen muß der Wanderer zur «Chymischen Hochzeit» suchen. Doch nicht ein solcher Weg, sondern mehrere werden ihm gezeigt. Der erste führt in ein Gebiet, in welchem die in der Sinneswahrnehmung gewonnenen verstandesmäßigen Vorstellungen des gewöhnlichen Bewußtseins in den Gang der übersinnlichen Erfahrung einwirken, so daß durch das Zusammenwirken der beiden Erfahrungskreise die Einsicht in die Wirklichkeit ertötet wird. Der zweite stellt in Aussicht, daß der Seele die Geduld verloren gehen kann, wenn sie nach geistigen Offenbarungen sich langen Wartezeiten unterwerfen muß, um stets ausreifen zu lassen, was zunächst nur als unverstandene Offenbarung hingenommen werden darf. Der dritte fordert Menschen, welche durch ihre bereits unbewußt erlangte Entwickelungsreife in kurzer Zeit schauen dürfen, was andere in langem Ringen erwerben müssen. Der vierte bringt den Menschen zur Begegnung mit all den Kräften, die aus der übersinnlichen Welt heraus sein Bewußtsein umnebeln und verängstigen, wenn dieses sich der Sinneserfahrung entreißen will. - Welcher Weg für die eine oder die andere Menschenseele zu nehmen ist, das hängt ab von der Verfassung, in welche sie durch die Erfahrungen des gewöhnlichen Bewußtseins gebracht ist, bevor sie die geistige Wanderung antritt. «Wählen» im gewöhnlichen Sinne kann sie nicht, denn ihre Wahl würde aus dem sinnlichen Bewußtsein hervorgehen, dem eine Entscheidung in übersinnlichen Dingen nicht zusteht. Die Unmöglichkeit einer solchen Wahl sieht der Wanderer nach der «Chymischen Hochzeit» ein. Er weiß aber auch, daß seine Seele für ein Verhalten in einer übersinnlichen Welt genügend erstarkt ist, um zum Rechten veranlaßt zu werden, wenn eine solche Veranlassung aus der geistigen Welt selbst kommt. Die Imagination seiner Befreiung «aus dem Turm» gibt ihm dieses Wissen. Die Imagination des «schwarzen Raben», welcher der «weißen Taube» die ihr geschenkte Speise entreißt, ruft in der Seele des Wanderers ein gewisses Gefühl hervor; und dieses aus übersinnlichem, imaginativem Wahrnehmen erzeugte Gefühl führt auf den Weg, auf den die Wahl des gewöhnlichen Bewußtseins nicht hätte leiten dürfen." (Lit.: GA 35, S. 350f)
- ↑ SC: Sanctitate Constantia; Sponsus Carus; Spes Caritas; Signum Crucis = Beständigkeit in Heiligkeit; geliebter Bräutigam; Hoffnung, Liebe; Zeichen des Kreuzes.
- ↑ Der Löwe: "Die Begegnung mit dem «grausamen Löwen» bei der zweiten Pforte ist ein Glied in der Selbsterkenntnis des Geistsuchers. Der Bruder vom Rosenkreuz durchlebt sie so, daß sie als Imagination auf seine tieferen Gemütskräfte wirkt, daß ihm aber unbekannt bleibt, was sie für seine Stellung innerhalb der geistigen Welt bedeutet. Dieses ihm unbekannte Urteil fällt der «Hüter», der sich bei dem Löwen befindet, diesen beruhigt und zu dem Eintretenden gemäß dem Inhalt eines Briefes, der diesem Eintretenden auch unbekannt ist, die Worte spricht: «Nun sei mir Gott willkommen, der Mensch, den ich längst gern gesehen hätte.» Der geistige Anblick des «grausamen Löwen» ist das Ergebnis der Seelenverfassung des Bruders vom Rosenkreuz. Diese Seelenverfassung spiegelt sich in dem Bildekräfteteil der geistigen Welt und gibt die Imagination des Löwen. In dieser Spiegelung ist ein Bild des eigenen Selbstes des Beschauers gegeben. Dieser ist im Felde der geistigen Wirklichkeit ein anderes Wesen als im Gebiete des sinnenfälligen Daseins. Die im Bereiche der Sinneswelt wirksamen Kräfte formen ihn zum sinnlichen Menschenbilde. Im Umkreis des Geistigen ist er noch nicht Mensch; er ist ein Wesen, das sich imaginativ durch die Tierform ausdrücken läßt. Was im sinnenfälligen Dasein des Menschen an Trieben, an Affekten, an Gefühls- und Willensimpulsen lebt, das ist innerhalb dieses Daseins in Fesseln gehalten durch das an den Sinnesleib gebundene Vorstellungs- und Wahrnehmungsleben, die selbst ein Ergebnis der Sinneswelt sind. Will der Mensch aus der Sinneswelt heraustreten, so muß er sich bewußt werden, was an ihm außer dieser Welt nicht mehr durch die Gaben der Sinneswelt gefesselt ist und durch neue Gaben aus der Geisteswelt auf den rechten Weg gebracht werden muß. Der Mensch muß sich schauen vor der sinnenfälligen Menschwerdung. Dieses Schauen wird dem Bruder vom Rosenkreuz durch die Begegnung mit dem Löwen, dem Bilde seines eigenen Wesens vor der Menschwerdung, zuteil. - Nur um nicht Mißverständnisse hervorzurufen, mag hier angemerkt werden, daß die Daseinsform, in der sich die dem Menschen zugrunde liegende Wesenheit vor der Menschwerdung auf geistige Art erblickt, nichts zu tun hat mit der Tierheit, mit welcher der landläufige Darwinismus die Menschenart durch Abstammung verknüpft denkt. Denn die Tierform des geistigen Anblickes ist eine solche, die durch ihre Wesenheit nur der Bildekräftewelt angehören kann. Innerhalb der Sinneswelt kann sie nur als unterbewußtes Glied der Menschennatur ein Dasein haben. - Daß er mit dem Teil seiner Wesenheit, der durch den Sinnesleib in Fesseln gehalten ist, noch vor der Menschwerdung steht, das drückt sich in der Seelenstimmung aus, in der sich der Bruder vom Rosenkreuz beim Eintritte in das Schloß befindet. Was er zu erwarten hat, dem stellt er sich unbefangen gegenüber und trübt es sich nicht durch Urteile, die noch von dem an die Sinneswelt gebundenen Verstand herstammen. Solche Trübung muß er später an denjenigen bemerken, die nicht mit einer rechtmäßigen Seelenstimmung gekommen sind. Auch sie sind an dem «grausamen Löwen» vorbeigekommen und haben ihn gesehen, denn dies hängt nur davon ab, daß sie die entsprechenden Gedankenrichtungen und Empfindungsweisen in ihre Seele aufgenommen haben. Aber die Wirkung dieses geistigen Anblickes konnte bei ihnen nicht stark genug sein, um sie zum Ablegen der Urteilsart zu bewegen, an die sie für die Sinneswelt gewohnt waren. Ihre Art zu urteilen erscheint dem Geistesauge des Bruders vom Rosenkreuz innerhalb der Geisteswelt als eitel Prahlerei. Sie wollen Platos Ideen sehen, Demokrits Atome zählen, geben vor, das Unsichtbare zu sehen, während sie in Wahrheit nichts sehen. An diesen Dingen zeigt sich, daß sie die inneren Seelenkräfte nicht verbinden können mit der Welt, die sie umfangen hat. Ihnen fehlt das Bewußtsein von den wahren Anforderungen, welche die Geistwelt an den Menschen stellt, der sie schauen will. Der Bruder vom Rosenkreuz kann in den folgenden Tagen seine Seelenkräfte mit der geistigen Welt deswegen verbinden, weil er sich am zweiten Tage der Wahrheit gemäß eingesteht, das alles nicht zu sehen und nicht zu können, was die andern Eindringlinge vor sich oder andern behaupten, zu sehen oder zu können. Das Erfühlen seiner Ohnmacht wird ihm später zur Macht des geistigen Erlebens. Er muß sich am Ende des zweiten Tages fesseln lassen, weil er die Fesseln der seelischen Ohnmacht gegenüber der Geisteswelt fühlen soll, bis diese Ohnmacht als solche so lange dem Lichte des Bewußtseins ausgesetzt war, als sie nötig hat, um sich selbst in Macht umzuwandeln." (Lit.: GA 35, S. 355ff)
- ↑ SM: Studio Merentis; Sponso Mittendus; Sal Mineralis; Sal Menstrualis = Zum Studium des Würdigen; dem Bräutigam mitzubringen; Mineralsalz; Salz der Reinigung.
- ↑ Congratulor: Ich beglückwünsche dich.
- ↑ Condoleo: Ich leide mit dir.
- ↑ SPN: Salus per naturam; Sponsi praesentandus nuptiis - Heil durch die Natur; Der Hochzeit des Bräutigams darzubringen.
- ↑ Falsche Geistessucher: "Das zweite seelische Tagewerk bringt den Geistsucher, dessen Erfahrungen Johann Valentin Andreae schildert, zu Erlebnissen, durch die es sich entscheidet, ob er die Fähigkeit des wahren geistigen Schauens erlangen kann, oder ob eine Welt geistigen Irrtums seine Seele umfangen soll. Diese Erlebnisse kleiden sich für sein Wahrnehmungsvermögen in die Imaginationen des Eintrittes in ein Schloß, in dem die Welt der geistigen Erfahrung verwaltet wird. Solche Imaginationen kann nicht nur der echte, sondern auch der unechte Geistsucher haben. Die Seele gelangt zu ihnen, wenn sie gewissen Gedankenrichtungen und Empfindungsweisen folgt, durch die sie eine Umgebung vorzustellen vermag, die ihr nicht durch sinnliche Eindrücke vermittelt ist. - An der Art, wie Andreae die Gesellschaft unechter Geistsucher darstellt, innerhalb welcher der «Bruder vom roten Rosenkreuz» sich am «zweiten Tage» noch befindet, erkennt man, daß ihm das Geheimnis vom Unterschied des echten und des unechten Geistsuchers wohl bewußt ist. Wer die Möglichkeit hat, solche innere Zeugnisse von der geistigen Einsicht des Verfassers der «Chymischen Hochzeit» richtig zu beurteilen, der wird über den wahren Charakter dieser Schrift und über die Absicht Andreaes nicht im Zweifel sein können. Sie ist ganz offenbar geschrieben, um ernst strebenden Menschen Aufklärung zu geben über das Verhältnis der sinnenfälligen Welt zur geistigen und über die Kräfte, welche der Menschenseele für das soziale und sittliche Leben aus der Erkenntnis der Geisteswelt erwachsen können. Die unsentimentale, humoristisch-satirische Darstellungsart Andreaes spricht nicht gegen, sondern für die tiefernste Absicht. Nicht nur kann man innerhalb der scheinbar leicht wiegenden Szenen den Ernst wohl durchempfinden; man hat auch das Gefühl, Andreae schildert wie jemand, der das Gemüt seines Lesers nicht durch Sentimentalität gegenüber den Geheimnissen der Geistwelt umnebeln, sondern der bei dem Leser ein seelisch freies, selbstbewußt-vernünftiges Verhalten zu dieser Welt als Stimmung erzeugen will.
Hat sich jemand durch Gedankenverrichtungen und Empfindungsweisen in die Lage versetzt, in Imaginationen eine übersinnliche Welt vorstellen zu können, so ist mit einer solchen Fähigkeit noch keineswegs die Gewähr verbunden, daß die Imaginationen dazu geeignet sind, ihn in ein wirkliches Verhältnis zur Geisteswelt zu bringen. Der Bruder vom Rosenkreuz sieht sich auf dem Felde des imaginativen Erlebens umgeben von zahlreichen Seelen, die zwar in Vorstellungen über die geistige Welt leben, die aber durch ihre innere Verfassung in eine wirkliche Berührung mit dieser Welt nicht kommen können. Die Möglichkeit dieser wirklichen Berührung hängt davon ab, wie der Geistsucher seine Seele gegenüber der sinnenfälligen Welt einstellt, bevor er an die Schwelle zur geistigen Welt herantritt. Diese Einstellung bringt in der Seele eine Verfassung hervor, die über die Schwelle getragen wird und sich innerhalb der Geisteswelt so offenbart, daß diese den Suchenden aufnimmt oder zurückweist. Die rechtmäßige Seelenverfassung kann nur dadurch erlangt werden, daß der Suchende bereit ist, alles vor der Schwelle abzulegen, das sein Verhältnis zur Welt innerhalb der sinnenfälligen Wirklichkeit bestimmt. Diejenigen Gemütsimpulse müssen für das Verweilen in der Geisteswelt unwirksam werden, durch die der Mensch aus der äußeren Lebenslage und dem äußeren Lebensschicksale heraus den Charakter und die Geltung - das Gewicht - seiner Persönlichkeit empfindet. Ist schon diese Notwendigkeit, durch die sich der Mensch in eine Art seelischer Kindheit versetzt fühlt, schwierig zu erfüllen, so widerstrebt dem gewöhnlichen Empfinden noch mehr die andere, auch die Art des Urteilens zu unterdrücken, durch die man sich innerhalb der Sinneswelt orientiert. Man muß zu der Einsicht kommen, daß diese Urteilsart an der Sinneswelt gewonnen ist, daß sie nur innerhalb dieser Geltung haben kann, und daß man bereit sein muß, die Art, wie man in der Geisteswelt zu urteilen hat, aus dieser selbst erst zu erfahren. Der Bruder vom Rosenkreuz entwickelt bei seinem Eintritte in das Schloß eine Seelenstimmung, die aus dem Gefühle von diesen Notwendigkeiten herrührt. Er läßt sich nicht zum Verbringen der ersten Nacht im Schlosse in ein Gemach führen, sondern verbleibt in dem Saal, bis zu dem er durch seine Teilnahme an den Vorgängen des zweiten Tages gelangt ist. Auf diese Art bewahrt er sich davor, seine Seele in ein Gebiet der geistigen Welt zu tragen, mit der sich die in seinem Innern wirksamen Kräfte noch nicht würdig verbinden können. Diejenige Seelenstimmung, die ihn davon abhält, weiter in den Geistesort einzudringen, als ihn der zweite Tag gebracht hat, ist in seiner Seele die Nacht hindurch wirksam und rüstet ihn mit einem Wahr-nehmungs- und Willensvermögen aus, die er am folgenden Tage braucht. Solche Eindringlinge, die mit ihm gekommen sind ohne die Fähigkeit derartiger Seelenstimmung, müssen am folgenden Tage von der geistigen Welt wieder ausgestoßen werden, da sie die Frucht dieser Stimmung nicht entwickeln können. Ohne diese Frucht ist es ihnen unmöglich, die Seele durch wirkliche Innenkräfte mit derjenigen Welt zu verbinden, von der sie gewissermaßen nur äußerlich umfangen werden." (Lit.: GA 35, S. 352ff) - ↑ Die Knaben und die Jungfrau:
"Alles, was an Christian Rosenkreutz als sich offenbarendes Wissen herantritt, zu dem sein eigener Wille nicht mitwirkt, läßt er durch Kräfte herankommen, die in Bildern des Weiblichen ihre Repräsentation finden. Wozu der eigene Wille des Geistsuchers sich den Weg bahnt, das wird durch Bilder von geleitenden Knaben, durch Männliches veranschaulicht. Im Menschen walten, gleichgültig ob er als Sinneswesen Mann oder Weib ist, das Männliche und das Weibliche als polarische Gegensätze. Aus dieser Anschauung heraus charakterisiert Andreae. Das Vorstellungsgemäße wird zu dem Willensartigen in das rechte Verhältnis gebracht, wenn dieses Verhältnis sich in Bildern darstellt, die an den Bezug des Männlichen und Weiblichen in der Sinneswelt erinnern. - Wieder soll, um Mißverständnissen vorzubeugen, angemerkt werden, daß die Imagination des Männlichen und Weiblichen mit den Beziehungen von Mann und Weib in der Sinnenwelt selbst nicht verwechselt werden darf; so wenig, wie die Imagination der Tierform, die sich dem schauenden Bewußtsein ergibt, zu tun hat mit der tierischen Natur, auf welche der landläufige Darwinismus die Menschheit bezieht. In der Gegenwart glaubt so mancher, durch die Sexual-Physiologie in verborgene Geheimnisse des Daseins eindringen zu können. Eine flüchtige Bekanntschaft mit echter Geisteswissenschaft könnte ihn überzeugen, daß dieses Bestreben nicht zu den Geheimnissen des Daseins hin-, sondern von ihnen weit wegführt. Und jedenfalls ist es Unfug, die Meinung solcher Persönlichkeiten, wie Andreae eine ist, in irgendwelche Beziehung zu Vorstellungen zu bringen, die mit Sexual-Physiologie etwas zu tun haben.
In deutlicher Art weist Andreae auf Wichtiges, das er in seine «Chymische Hochzeit» hineingeheimnissen will, da, wo er die «Jungfrau» charakterisiert, welche er zu dem Geistsucher in besonders nahe Beziehung bringt. Diese «Jungfrau» ist die imaginative Repräsentation eines übersinnlichen Wissens, das im Gegensatze zu den «sieben freien Künsten», die auf sinnlichem Felde erworben werden, aus dem Geistgebiete geholt werden muß. Diese «Jungfrau» gibt in etwas rätselvoller Art ihren Namen, der «Alchimie» ist. Andreae will also sagen, daß wahre Alchimie in andrer Art eine Wissenschaft ist als die aus dem gewöhnlichen Bewußtsein entsprungenen. Nach seiner Meinung vollzieht der Alchimist seine Verrichtungen mit sinnenfälligen Stoffen und Kräften nicht deshalb, weil er die Wirkung dieser Stoffe und Kräfte im Bereich der Sinnes weit kennenlernen will, sondern darum, weil er durch den sinnlichen Vorgang sich ein Übersinnliches offenbaren lassen will. Er will durch den sinnlichen Prozeß auf einen übersinnlichen hindurchschauen. Was er verrichtet, ist von der Untersuchung des gewöhnlichen Naturforschers durch die Art verschieden, wie er den Vorgang anschaut." (Lit.: GA 35, S. 365f) Eine ähnliche Bedeutung haben die drei Damen und die drei Knaben in Mozarts Zauberflöte. - ↑ Die sieben Gewichte und die Sieben Freien Künste: "Andreae will zeigen, wie die sieben «Wissenschaften und freien Künste», in die man im Mittelalter die innerhalb der Sinneswelt zu gewinnenden Erkenntnisse gliederte, als Vorbereitung zur Geist-Erkenntnis wirken sollen. Als diese sieben Erkenntnisglieder waren gewöhnlich angesehen: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Aus der Schilderung in der «Chymischen Hochzeit» erkennt man, daß Andreae sowohl den Bruder vom Rosenkreuz und seine rechtmäßigen Genossen wie auch die unrechtmäßigen Eindringlinge ausgerüstet denkt mit dem Wissen, das aus diesen Erkenntnisgliedern zu gewinnen ist. Allein der Besitz dieses Wissens ist bei den Ankömmlingen ein verschiedenartiger. Die rechtmäßigen, vor allen der Bruder vom Rosenkreuz, dessen Erlebnisse geschildert werden, haben sich dieses Wissen so angeeignet, daß sie durch dessen Besitz in der Seele die Kraft entwickelt haben, das Unbekannte, das für diese «freien Künste» noch verborgen bleiben muß, aus der Geisteswelt zu empfangen. Ihre Seele ist durch diese Künste so vorbereitet, daß sie nicht nur weiß, was durch sie gewußt werden kann, sondem daß dieses Wissen ihr das Gewicht gibt, durch das sie Erfahrungen in der Geistwelt machen kann. Den unrechtmäßigen Ankömmlingen ist das Gewicht dieser Künste nicht zum Seelengewicht geworden. Sie haben in ihrer Seele nicht dasjenige, was an wahrem Weltgehalt diese «sieben freien Künste» enthalten. Am dritten Tage nimmt der Bruder vom Rosenkreuz an der Wägung der Seelen teil. Diese wird durch die Imagination einer Waage geschildert, durch welche die Seelen gewogen werden, um zu finden, ob sie sich zu ihrem eigenen Menschengewicht auch noch dasjenige hinzuerworben haben, das sieben anderen Gewichten gleichkommt. Diese sieben Gewichte sind die imaginativen Repräsentanten der «sieben freien Künste».
Der Bruder vom Rosenkreuz hat in seiner Seele nicht nur den Gehalt, der den sieben Gewichten gewachsen ist, sondern auch noch einen Überschuss. Dieser kommt einer andern Persönlichkeit zugute, die für sich selbst nicht genügend befunden wird, die aber durch den wahren Geistsucher vor der Ausstoßung aus der Geistwelt bewahrt wird. Durch die Anführung dieses Vorganges zeigt Andreae, wie gut er mit den Geheimnissen der geistigen Welt vertraut ist. Von all den Kräften der Seele, die sich schon in der Sinneswelt entwickeln, ist die Liebe die einzige, die unverwandelt bleiben kann beim Übergange der Seele in die Geistwelt. Den schwächeren Menschen helfen nach der Kraft, die man selbst besitzt, das kann geschehen innerhalb der Sinneswelt, und es kann sich auch in gleicher Art vollziehen mit dem Besitze, der dem Menschen im Bereich des Geistigen wird.
Durch die Art, wie Andreae die Vertreibung der unrechtmäßigen Eindringlinge aus der Geistwelt schildert, ist ersichtlich, daß er durch seine Schrift seinen Zeitgenossen zum Bewußtsein bringen will, wie weit entfernt von dieser Geistwelt und somit von der wahren Wirklichkeit ein Mensch sein kann, der sich zwar bekannt gemacht hat mit allerlei Schilderungen des Weges nach dieser Welt, dem aber das Bewußtsein von einer wirklichen inneren Seelen-Umwandlung fremd geblieben ist. Ein unbefangenes Lesen der «Chymischen Hochzeit» verrät als eines der Ziele ihres Verfassers, seinen Zeitgenossen zu sagen, wie verderblich für die wahre Menschheitsentwickelung diejenigen sind, welche in das Leben eingreifen mit Impulsen, die auf unrechtmäßige Art sich zu der Geistwelt in Beziehung setzen. Andreae erwartet gerade für seine Zeit rechte soziale, sittliche und andere menschliche Gemeinschaftsziele von einem rechtmäßigen Erkennen der geistigen Untergründe des Daseins. Deshalb läßt er in seiner Schilderung auf alles dasjenige ein deutliches Licht fallen, das dem Menschheitsfort-schritt dadurch schädlich wird, daß es solche Ziele aus einer unrechtmäßigen Beziehung zur Geistwelt holt." (Lit.: GA 35, S. 358ff) - ↑ Wir werden hier an die Kabiren, an die geheimnisvollen Götter alles Werdens, erinnert, wie sie Goethe in seiner Faust-Tragödie in den Szenen der klassischen Walpurgisnacht schildert. "Sind eigentlich ihrer sieben!" erfährt man dort, doch drei von ihnen "sind im Olymp zu erfragen", d.h. in der geistigen Welt. Und weiter heißt es dann: "Dort west auch wohl der achte, An den noch niemand dachte!"
- ↑ "Und das ist sich hoch zuverwundern, das unter allen denen, so etwas gewogen, keiner dem andern gleich gewesen. Dann ob schon unter den dreyen wie gesagt 35. gewesen, hat doch dieser den 1. 2. 3. der ander den 3. 4. 5. der dritt den 5. 6. 7. und so fortan gewogen, daß also zum höchsten wunder, unter 126 so etwas gewogen, keiner dem andern gleich gewesen: und die wolte ich alle, mit jedes Gewicht wol nennen können, wann mir es nit noch der zeit verbotten were: Ich hoffe aber, es solle künfftig mit der interpretation an tag kommen."
- ↑ Es handelt sich hier um Kombinationen ohne Wiederholung:
- ↑ Vergleiche dazu Jes 30,26 LUT: Und des Mondes Schein wird sein wie der Sonne Schein, und der Sonne Schein wird siebenmal heller sein zu der Zeit, wenn der HERR den Schaden seines Volks verbinden und seine Wunden heilen wird.
- ↑ Die Wahl der Schlafbuhlen: Nein sprach die Jungfraw, daß soll noch nit sein, aber last sehen, wie uns das Glück gesellen wölle. Hierauff wurden wir von einander vertrennet: Nun erhub sich erst ein disputation, wie diese sachen anzugreiffen, es war aber diß nur ein angelegtes Spiel, dann die Jungfraw thet bald den fürschlag, wir sollten uns under einander in einem Ring vermischen: so wolte sie an ihr anheben zu zehlen, und mußte der Siebendt mit dem nachfolgenden siebenden für gut nemen, es wer jetzt gleich ein Jungfraw oder Mann, wir versahen uns keines Lists, liessens deßwegen geschehen, und da wir meineten, wir vermischten uns eben wol, waren die Jungfrawen doch so verschmitzt, das jede ihren ort schon vorhin wuste: die Jungfraw hub an zu zehlen, da traff es ein Jungfraw, nach ir war die siebent wider ein jungfraw, zum 3. wider ein jungfraw und diß geschahe so lang, biß alle jungfrawen mit unserer verwunderung herauß kamen, und unser keiner getroffen worden, blieben also wir arme tropffen allein stehen, und mußten noch unser darzu Spotten lassen, und bekennen, daß wir ja redlich betrogen wären.
- ↑ Der Tod der Könige: "Christian Rosenkreutz schaut den Tod seiner «Seelenkönige», seiner Erkenntniskräfte, wie sich diese aus der Metamorphose der stofflichen Kräfte des Gesamtorganismus ergeben, ohne daß der Mensch von der Natur-Alchimie zu der Kunst-Alchimie übergeht. Diese muß darinnen bestehen, daß der Mensch innerhalb des Seelischen seinen Erkenntniskräften einen Charakter verleiht, den sie durch die bloßen organischen Entwickelungsvorgänge nicht haben. Was im aufsteigenden Wachstum wesenhaft ist, woran der Tod noch nicht genagt hat, das muß in den Erkenntniskräften erweckt werden. Die Natur-Alchimie muß fortgesetzt werden." (Lit.: GA 35, S. 375) Eine ähnliche Bedeutung haben die Könige in Goethes Märchen.
- ↑ Das Grab der Venus: "Diese Fortsetzung der Natur-Alchimie bildet das fünfte Tagewerk der «Chymischen Hochzeit». Der Geistsucher muß schauend eindringen in die Vorgänge, welche die Natur bewirkt, indem sie das wachsende Leben hervorbringt. Und er muß dieses Naturschaffen in die Erkenntniskräfte einführen, ohne daß er beim Übergange von den Wachstums- zu den Seelenvorgängen den Tod walten läßt. Er empfängt die Erkenntniskräfte von der Natur als tote We-senheiten; er muß sie beleben, indem er ihnen gibt, was die Natur ihnen genommen hat, als sie mit ihnen die alchimistische Umwandlung in Erkenntniskräfte vollzogen hat. Wenn er den Weg zu einem solchen Vorhaben betritt, naht sich ihm eine Versuchung. Er muß hinuntersteigen in das Gebiet, auf dem die Natur wirkt, indem sie durch die Kraft der Liebe das Leben aus dem zaubert, das durch sein Wesen nach dem Tode strebt. Er setzt sich dabei der Gefahr aus, daß sein Schauen von den Trieben erfaßt wird, die im niederen Gebiete des Stofflichen walten. Er muß kennenlernen, wie im Stoffe, dem der Tod eingeprägt ist, ein Liebe-verwandtes Element lebt, das jeder Erneuerung des Lebens zugrunde liegt. Dieser der Versuchung ausgesetzte Seelenvorgang wird von Andreae bedeutungsvoll geschildert, indem er Christian Rosenkreutz vor Venus treten und dabei Cupido sein Wesen treiben läßt." (Lit.: GA 35, S. 375f)
- ↑ Die Ordnung der sieben Schiffe: Da stunden obgemelte sieben Schiff alle leer da, dahin steckten alle Jungfrawen ihre Lorberzweig, und nach dem sie uns in die sechs Schiff abgetheilet, liessen sie uns also im namen Gottes fahren, und sahen uns zu, so lang sie uns zu Gesicht haben kondten: darnach zogen sie mit allen Hütern wider ins Schloß hinein. Unsere Schiff hat jedes ein grossen Fahnen und sonderliches Zeichen. Die fünff zwar hatten die fünff Corpora Regularia. Jetlichs ein besonders, daß meinig, darinnen auch die Jungfraw saß, führet ein Globum.Wir fuhren also in besonderer ordnung daher und hatte jetlichs nur zwen Schiffmänner. Erstlich zog vorher das Schifflin a, darinnen meins bedunckens der Mohr lag, in diesem hielten sich zwölff Musicanten, die machten gut Arbeit, sein Zeichen war ein Pyramis. Darauff drey neben einander, b, c und d, darinnen wir außgetheilt wurden. Ich saß im c., im mitten fuhren die zwey schönsten und stattlichsten Schiffe e und f., darinnen fuhr kein Mensch, mit vielen Lorbeerzweigen besteckt, ihr Fahnen waren Sonnen und Mond. Zu letst aber ein Schiff g. In diesem waren 40 Jungfrawen.
- ↑ Sirenengesang: "Christian Rosenkreutz soll mit seinem Geistesweg aus einer verflossenen Epoche in eine anbrechende hinüberweisen. Es sind die im Zeitenlauf tätigen Mächte, die ihm dazu verhelfen, daß er sein «Ich» mit den Erkenntniskräften durchdringt, welche dem neuen Zeitabschnitt entsprechen. Dadurch kann er die Fahrt zu dem «Turm» antreten, in dem er sich an dem alchimistischen Prozeß beteiligt, durch den die toten Erkenntniskräfte ihre Auferstehung erleben. Dadurch auch ist ihm auf dieser Fahrt die Kraft eigen, den Sirenengesang von der Liebe zu hören, ohne seinen Verlockungen zu verfallen. Die geistige Urkraft der Liebe muß auf ihn wirken; von deren Offenbarungsweise auf dem sinnlichen Felde darf er sich auf seinem Wege nicht beirren lassen. Im Turm Olympi wird die Durchsetzung der toten Erkenntniskräfte mit den Impulsen vollzogen, die im gewöhnlichen Menschenorganismus nur in den Wachstumsvorgängen walten." (Lit.: GA 35, S. 376f)
- ↑ Das Loblied der Liebe:
I.
Nichts besser ist auff Erden,
Dann die schön edel Lieb,
Damit wir Gott gleich werden,
daß keins das ander trüb.
Darumb last dem König singen,
daß gantze Meer thu erklingen,
Wir Fragen, Antwort ihr.
II.
Was hat uns bracht das Leben?
Die Lieb.
Was hat Gnad wider geben?
Die Lieb.
Waher seind wir gebohren?
Auß Lieb.
Wie wären wir verlohren?
Ohn Lieb
III.
Wer hat uns dann gezeüget?
Die Lieb.
Warumb hat man uns gesäuget?
Auß Lieb.
Was seind wir den Eltern schuldig?
Die Lieb.
Warumb sein sie so dultig?
Auß Lieb.
IV.
Was thut diß uberwinden?
Die Lieb.
Kan man auch Liebe finden?
Durch Lieb.
Wa lest man gut Werck scheinen?
In Lieb.
Wer kan noch zwey vereinen?
Die Lieb.
V.
So singt nuhn alle,
Mit großem Schalle,
Der Lieb zu ehren,
Die wöll sich mehren,
Bey unserm Herrn König und Königin,
Ihr Leib sein hier,
die Seel ist hin.
VI.
So wir noch leben,
So wirdt Gott geben,
Das wir die Lieb und groß Huldschafft,
Sie theilet hat mit grosser Krafft,
Also wir auch durch Liebes Flamm,
Mit Glück sie wider bringen zusamm.
VII.
Da soll diß Leyd,
In grosse Frewd,
Wens noch viel tausent Junge geit,
Verkert werden in Ewigkeit. - ↑ Planetenkonstellation: "Es wird darauf hingewiesen, wie Christian Rosenkreutz an diesem Vorgang sich beteiligen darf, weil seine Seelenentwickelung im Sinne der sich wandelnden Zeitkräfte erfolgen soll. Er geht, während er schlafen sollte, in den Garten, schaut nach dem Sternenhimmel und sagt sich: «Weil ich also gute Gelegenheit hatte, der Astronomie besser nachzudenken, befand ich, daß auf gegenwärtige Nacht eine solche Konjunktion der Planeten geschehe, dergleichen nicht bald sonsten zu observieren.»" (Lit.: GA 35, S. 377)
- ↑ Der sechste Tag:
In der biblischen Schöpfungsgeschichte wird bekanntlich am sechsten Tag der Mensch geschaffen. Hier geht es um eine Erneuerung der Menschwerdung, bei der die Schöpfermächte durch die Kräfte des vollbewussten individuellen Ich wirken sollen. Auf der sechsten Stufe einer Entwicklungsreihe fallen immer wichtige Entscheidungen, hier lauern aber zugleich auch große Gefahren, wie sie etwa durch die Symbolik der Zahl des Tieres (666) ausgedrückt werden.
"In den Erlebnissen des sechsten Tages werden im einzelnen die Imaginationen beschrieben, welche in der Seele des Christian Rosenkreutz anschaulich machen, wie sich die toten Erkenntniskräfte, die der Organismus auf dem gewöhnlichen Wege seines Lebenslaufes ausbildet, in die übersinnlich anschauenden umwandeln. Jede dieser Imaginationen entspricht einem Erlebnis, das die Seele in bezug auf ihre eigenen Kräfte durchmacht, wenn sie erfährt, wie dasjenige, was in ihr bisher sich nur mit dem Toten hat durchdringen können, fähig wird, Lebendiges erkennend in sich rege werden zu lassen. Die einzelnen Bilder würde ein anderer Geistsucher in anderer Art beschreiben als Andreae. Aber nicht auf den Inhalt der einzelnen Bilder kommt es dabei an, sondern darauf, daß die Umwandlung der Seelenkräfte im Menschen sich vollzieht, indem er den Verlauf solcher Bilder als die Spiegelung dieser Umwandlung in einer Folge von Imaginationen vor sich hat." (Lit.: GA 35, S. 377) - ↑ Man kann in dieser Beschreibung leicht den Athanor erkennen, jenen alchemistischen Ofen also, in dem der »Stein der Weisen« zubereitet wird.
- ↑ Die Ritter vom Goldenen Stein: "Nach der Vollführung des kunst-alchimistischen Vorganges wird Christian Rosenkreutz zum «Ritter des güldenen Steines» ernannt. Man müßte sehr ausführlich in einer rein geschichtlichen Darstellung werden, wenn man aus der einschlägigen ernst zu nehmenden und der weit größeren schwindelhaften Literatur den Namen «güldener Stein» aufzeigen und auf seinen Gebrauch hindeuten wollte. Das liegt nicht in der Absicht, die mit diesem Aufsatz verfolgt wird. Doch darf auf dasjenige hingewiesen werden, was sich aus einem Verfolgen dieser Literatur als Ergebnis über diesen Gebrauch gewinnen läßt. Diejenigen ernst zu nehmenden Persönlichkeiten, die den Namen angewendet haben, wollten mit ihm auf etwas hindeuten, in dem die tote Steinnatur sich so anschauen läßt, daß man ihren Zusammenhang erkennt mit dem lebendigen Werden. Der ernst zu nehmende Alchimist glaubte, daß künstliche Naturvorgänge hervorgerufen werden können, zu denen Totes, Steinartiges verwendet wird, in denen sich aber, wenn sie recht angeschaut werden, etwas von dem erkennen läßt, was vorgeht, wenn die Natur selbst das Tote in das lebendige Werden hineinwebt. Durch die Anschauung von ganz bestimmten Vorgängen am Toten wollte man die Spuren der schöpferischen Naturtätigkeit und damit das Wesen des in den Erscheinungen waltenden Geistes erfassen. Das Sinnbild für das Tote, das als Offenbarung des Geistes erkannt wird, ist der «güldene Stein». Wer einen Leichnam in seiner unmittelbar gegenwärtigen Wesenheit erforscht, der wird gewahr, wie das Tote in den allgemeinen Naturprozeß eingeschaltet ist. Diesem allgemeinen Naturprozeß widerspricht aber die Gestaltung des Leichnams. Diese Gestaltung konnte nur ein Ergebnis des geistdurchsetzten Lebens sein. Der allgemeine Naturprozeß muß zerstören, was das geistdurchsetzte Leben gestaltet hat. Der Alchimist ist der Ansicht, daß die gewöhnliche menschliche Erkenntnis in der ganzen Natur etwas vor sich hat, wovon sie nur soviel erfaßt, als vom Menschen in einem Leichnam ist. Eine höhere Erkenntnis soll für die Naturerscheinungen finden, was sich zu ihnen verhält wie das geistdurchsetzte Leben zum Leichnam. Solches Streben ist das nach dem «güldenen Stein». Ändreae spricht von diesem Sinnbild so, daß man bemerken kann, er meine, nur ein solcher könne erfassen, wie man mit dem «güldenen Stein» zu verfahren habe, der durch die Erlebnisse der von ihm geschilderten sechs Tagewerke gegangen ist. Er will andeuten, daß ein jeder, der von diesem Sinnbild spricht, ohne zu wissen, was die Umwandlung der Erkenntniskräfte dem Wesen nach ist, nur ein Trugbild im Auge haben kann. Er will in Christian Rosenkreutz eine Persönlichkeit zeichnen, die in berechtigter Art über etwas sprechen kann, wovon viele ohne Berechtigung sprechen. Gegen das Irrereden über das Suchen nach der geistigen Welt will er die Wahrheit verteidigen." (Lit.: GA 35, S. 379ff)
- ↑ Der Goldene Stein: "Christian Rosenkreutz und seine Genossen erhalten, nachdem sie wirkliche Bearbeiter des «güldenen Steines» geworden sind, ein Denkzeichen mit den beiden Sprüchen: «Die Kunst ist der Natur Dienerin» und «die Natur ist der Zeit Tochter». Im Sinne dieser Leitsätze sollen sie aus ihrer Geisterkenntnis heraus wirken. Die Erlebnisse der sechs Tage lassen sich in diesen Sätzen zusammenfassend charakterisieren. Die Natur enthüllt dem ihre Geheimnisse, der sich in die Lage versetzt, durch seine Kunst ihr Schaffen fortzusetzen. Aber diese Fortsetzung kann dem nicht gelingen, der für seine Kunst ihr nicht zuerst den Sinn ihres Wollens abgelauscht hat, der nicht erkannt hat, wie ihre Offenbarungen dadurch entstehen, daß ihre unendlichen Entwickelungsmöglichkeiten aus dem Schoße der Zeit in endlichen Gestaltungen geboren werden." (Lit.: GA 35, S. 379)
- ↑ 36,0 36,1 Die Erlösung des Torhüters: "In dem Verhältnisse, in das am siebenten Tage Christian Rosenkreutz zum König gesetzt wird, ist gekennzeichnet, wie der Geistsucher nunmehr zu seinen umgewandelten Erkenntnisfähigkeiten steht. Es wird darauf verwiesen, wie er sie als «Vater» selbst geboren hat. Und auch seine Beziehung zu dem «ersten Pförtner» erscheint als eine solche zu einem Teile seines eigenen Selbstes, nämlich zu demjeni-gen, der vor Umwandlung seiner Erkenntniskräfte als «Astrologus» zwar auf der Suche nach den Gesetzen war, die das menschliche Leben bestimmen, der aber der Versuchung nicht gewachsen war, die sich ergibt, wenn der Geistsucher in eine Lage kommt, wie diejenige, in der Christian Rosenkreutz am Beginne des fünften Tages war, als er der Venus gegenüberstand. Wer dieser Versuchung verfällt, findet keinen Einlaß in die geistige Welt. Er weiß zu viel, um von ihr ganz entfernt zu werden, aber er kann auch nicht eintreten. Er muß vor dem Tore Wache halten, bis ein anderer kommt, welcher der gleichen Versuchung verfällt. Christian Rosenkreutz glaubt sich zunächst derselben verfallen und dadurch verurteilt zu sein, das Amt des Wächters übernehmen zu müssen. Aber dieser Wächter ist ja ein Teil seines eigenen Selbstes; und dadurch, daß er mit dem umgewandelten Selbst diesen Teil überschaut, kommt er in die Möglichkeit, ihn zu überwinden. Er wird zum Wächter seines eigenen Seelenlebens; aber dieses Wäch-teramt hindert ihn nicht, sein freies Verhältnis zur geistigen Welt herzustellen." (Lit.: GA 35, S. 381)
- ↑ Die fünf Grundsätze der Ritter vom Goldenen Stein: "In fünf Sätzen wird zusammengefaßt, was Seelen leitet, die im Sinne des Christian Rosenkreutz im Menschenleben wirken möchten. Ihnen soll es ferne liegen, aus einem andern Geiste heraus zu denken als aus dem, der sich im Schaffen der Natur offenbart, und sie sollen das Menschenwerk dadurch finden, daß sie die Fortsetzer werden der Naturwerke. Sie sollen ihr Werk nicht in den Dienst der menschlichen Triebe stellen, sondern diese Triebe zu Vermittlern der Werke des Geistes machen. Sie sollen liebevoll den Menschen dienen, damit im Verhältnis von Mensch zu Mensch der wirkende Geist sich offenbare. Sie sollen sich durch nichts, was die Welt ihnen an Wert zu geben vermag, beirren lassen in dem Streben nach dem Werte, den der Geist aller menschlichen Arbeit zu geben vermag. Sie sollen nicht nach der Art schlechter Alchimisten dem Irrtum verfallen, das Physische mit dem Geistigen zu verwechseln. Solche vermeinen, daß ein physisches Mittel der Lebensverlängerung oder ähnliches ein höchstes Gut sei, und vergessen darüber, daß das Physische nur solange Wert hat, als es durch sein Dasein sich als rechtmäßiger Offenbarer des ihm zu Grund liegenden Geistigen erweist." (Lit.: GA 35, S. 383f)
Die Initiation durch Manes
Die Initiation des Christian Rosenkreutz im Jahre 1459 erfolgte durch Manes und war mit einer tieferen Einsicht in das Wesen und die Aufgabe des Bösen in der Welt verbunden:
„Als ein «höherer Grad» wird innerhalb dieser ganzen Strömung die Initiation des Manes angesehen, der 1459 auch Christian Rosenkreutz initiierte: sie besteht in der wahren Erkenntnis von der Funktion des Bösen. Diese Initiation muss mit ihren Hintergründen noch für lange vor der Menge ganz verborgen bleiben. Denn wo von ihr auch nur ein ganz kleiner Lichtstrahl in die Literatur eingeflossen ist, da hat er Unheil angerichtet, wie durch den edlen Guyau, dessen Schüler Friedrich Nietzsche geworden ist.“ (Lit.: GA 262, S. 24)
Der Unterschied zwischen chymischer und mystischer Hochzeit
Christian Rosenkreutz bricht auf zu einem Einweihungsweg, der aber nicht, wie der Weg des Mystikers, nach innen geht und zur Mystischen Hochzeit mit dem eigenen geistigen Wesen führt, sondern er wandelt den Pfad des Alchemisten, der primär nach der Vereinigung mit dem Geistigen der Außenwelt strebt, das sich hinter der Sinneswelt verbirgt, und erst dadurch sekundär die eigenen Geistigkeit erkennen will. Er geht gleichsam einen objektiveren - und damit sichereren - Weg als der Mystiker.
"Die Forschungswege des Mystikers und des Alchimisten liegen nach entgegengesetzten Richtungen. Der Mystiker geht unmittelbar in das eigene Geistwesen des Menschen hinein. Sein Ziel ist, was die Mystische Hochzeit genannt werden kann, die Vereinigung der bewußten Seele mit der eigenen geistigen Wesenheit. Der Alchimist will das Geistgebiet der Natur durchwandeln, um nach der erfolgten Wanderung mit den in diesem Gebiet erworbenen Erkenntniskräften das Geistwesen des Menschen zu schauen. Sein Ziel ist die «Chymische Hochzeit», die Vereinigung mit dem Geistgebiet der Natur. Nach dieser Vereinigung erst will er die Anschauung der Menschenwesenheit erleben." (Lit.: GA 35, S. 341)
Die mystische Versenkung in das eigene Innere, die in der mystischen Hochzeit kulminiert, gibt zunächst nur etwas für das subjektive Erleben des Menschen. Sie gibt im besten Sinn etwas für die moralische, für die geistige Entwicklung des einzelnen Menschen. Der Weg des Alchemisten führt weiter, indem die chymische Hochzeit zugleich ein objektives Ereignis in der geistigen Außenwelt ist. Sie arbeitet unmittelbar mit an der geistigen Erneuerung der Welt.
"Was ist denn der ganze Sinn der menschlichen Erdenentwickelung? Das ist der ganze Sinn der menschlichen Erdenentwickelung, daß sich der Mensch an die Erde anpaßt, daß er die Bedingungen der Erdenentwickelung in sich aufnimmt; daß er hineinträgt in die Zukunft seiner Entwickelung dasjenige, was die Erde ihm geben kann - ich meine jetzt nicht bloß in einer Inkarnation, sondern durch alle Inkarnationen hindurch -, für die spätere Entwickelung ihm geben kann. Das ist der Sinn der Erdenentwickelung. Dieser Sinn der Erdenentwickelung, er kann nur verwirklicht werden dadurch, daß der Mensch gewissermaßen auf der Erde nach und nach vergessen lernte seinen Zusammenhang mit den kosmischen, mit den himmlischen Mächten. Der Mensch lernte vergessen seinen Zusammenhang mit den himmlischen Mächten. Wir wissen ja, daß in alten Zeiten die Menschen ein atavistisches Hellsehen hatten, aber gerade innerhalb dieses atavistischen Hellsehens wirkten ja die himmlischen Mächte in die Menschen hinein. Da hatte der Mensch noch seinen Zusammenhang mit den himmlischen Mächten; da ragte gewissermaßen das Himmelreich in das menschliche Gemüt hinein. Das mußte anders werden, damit der Mensch seine Freiheit entwickeln kann. Der Mensch mußte in seiner Anschauung, in seiner unmittelbaren Wahrnehmung nichts mehr haben von dem himmlischen Reich, damit er der Erde verwandt werde. Aus diesem Grunde aber ist auch die Möglichkeit allein gegeben gewesen, daß der Mensch in der extremsten Zeit der Erdenverwandtschaft eben materialistisch wurde, im fünften Zeitraum, in dem wir selber drinnenstehen. Der Materialismus ist nur der radikalste, extremste Ausdruck der Verwandtschaft des Menschen mit der Erde. Das aber würde bedingen, daß der Mensch wirklich der Erde verfiele, wenn nichts anderes eintreten würde. Der Mensch mußte der Erde verwandt werden, nach und nach ganz das Schicksal der Erde teilen. Er mußte die Wege nehmen, die die Erde selber nimmt, er mußte sich ganz einfügen der Erdenentwickelung, wenn nichts anderes eintreten würde. Er mußte gleichsam mit der Erde sich losreißen vom ganzen Kosmos und sein Schicksal ganz mit dem Schicksal der Erde verbinden.
Das war aber nicht so gemeint für die Menschheit, sondern es war für die Menschheit anders gemeint. Der Mensch sollte auf der einen Seite sich richtig mit der Erde verbinden, aber es sollte Botschaft aus der himmlischen, geistigen Welt herunterkommen, die ihn, trotzdem er durch seine Natur erdenverwandt wird, wiederum hinwegträgt über diese Erdenverwandtschaft. Und dieses Herunterbringen der Himmelsbotschaft, das geschah durch das Mysterium von Golgatha. Daher mußte auf der einen Seite das Wesen, das durch das Mysterium von Golgatha ging, Menschenwesenheit annehmen, aber auf der anderen Seite in sich Himmelswesenheit tragen. Das heißt aber: Wir dürfen uns den Christus Jesus nicht bloß so vorstellen, daß er innerhalb der Menschheitsentwickelung nicht als auch einer sich entwickelt, und sei er auch der Höchste, sondern daß er sich als einer entwickelt, der aufnimmt himmlische Wesenheit, der nicht bloß eine Lehre verbreitet, sondern der in die Erde hereinträgt dasjenige, was aus dem Himmel kommt. Daher ist es wichtig, zu verstehen, was eigentlich die Johannes-Taufe im Jordan ist: daß das nicht bloß eine moralische Handlung ist - ich sage nicht «nicht» eine moralische Handlung ist, sondern «nicht bloß» eine moralische Handlung ist -, sondern eine reale Handlung ist; daß da etwas geschieht, das so wirklich ist, wie die Naturereignisse wirklich sind, das so wirklich ist, wie wenn ich mit irgendeinem Wärmequell etwas erwärme und die Wärme übergeht in das Erwärmte, daß die Christus-Wesenheit übergeht in den Menschen Jesus von Nazareth bei der Johannes-Taufe. Das ist gewiß im höchsten Grade ein Moralisches, aber auch im Naturlaufe ein Wirkliches, wie die Naturerscheinungen wirklich sind. Und darauf kommt es an, daß das verstanden wird, daß man es nicht nur mit irgend etwas zu tun hat, was aus rationalistischen menschlichen Begriffen heraus stammt, die immer nur übereinstimmen mit dem mechanischen, dem physischen oder chemischen Naturlaufe, sondern daß es etwas ist, was als Idee zu gleicher Zeit so in der realen Wirklichkeit drinnensteht, wie die Naturgesetze in der realen Wirklichkeit oder eigentlich die Naturkräfte in der realen Wirklichkeit drinnenstehen.
Von da aus, wenn man das erfaßt, werden dann auch andere Begriffe viel realer werden, als sie in der Gegenwart sind. Sehen Sie, der alte Alchimist - wir wollen uns jetzt nicht über Alchimie unterhalten, aber wir wollen auf das, was der Alchimist im Auge hatte, blicken; ob das berechtigt oder unberechtigt ist, darüber wollen wir uns nicht unterhalten, das kann vielleicht Gegenstand einer anderen Betrachtung sein -, er hatte im Auge, daß durch seine Vorstellungen nicht bloß etwas vorgestellt wird, sondern etwas geschieht. Sagen wir: Er räucherte. Und hatte er dann die Vorstellung oder sprach sie aus, so versuchte er, in diese Vorstellung eine solche Kraft hineinzubringen, daß die Räuchersubstanz wirklich Formen annahm. Er suchte solche Begriffe, die die Macht haben, in die äußere Naturrealität einzugreifen, nicht bloß innerhalb des Egoistischen des Menschen zu bleiben, sondern in die Naturrealität einzugreifen. Warum? Weil er auch noch von dem Mysterium von Golgatha die Vorstellung hatte, daß da etwas geschah, was in den Naturlauf der Erde eingreift, das ebenso eine Tatsache ist, wie ein Naturvorgang eine Naturtatsache ist.
Sehen Sie, auf diesem beruht ein bedeutungsvoller Unterschied, der in der zweiten Hälfte des Mittelalters und gegen die neuere Zeit, gegen unsere fünfte, auf die griechisch-lateinische folgende Weltenperiode eintrat. In der Kreuzzugszeit, der Zeit des 12., 13., 14., 15., ja 16. Jahrhunderts gab es insbesondere Frauennaturen, welche ihr Gemüt in eine solche Mystik brachten, daß sie dieses innere Erlebnis, das ihnen die Mystik brachte, wie eine Hochzeit empfanden mit dem Geistigen, sei es mit dem Christus, oder sonst etwas. Mystische Hochzeiten feierten zahlreiche asketische Nonnen und so weiter. Ich will mich heute nicht über das Wesen dieser innerlichen mystischen Vereinigungen ergehen; aber es war eben ein innerhalb des Gemüts Verlaufendes, das dann nur mit Worten ausgesprochen werden konnte, das gewissermaßen innerhalb der Vorstellungen, der Empfindungen und noch des Wortes, in das die Empfindungen gekleidet werden können, verlief. Dem setzte dann aus gewissen Vorstellungen und geisteswissenschaftlichen Zusammenhängen heraus Valentin Andreae seine «Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz» entgegen. Diese chymische Hochzeit, wir würden heute sagen chemische Hochzeit, sie ist auch ein menschliches Erlebnis. Aber wenn Sie sie durchlesen, diese Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz, so werden Sie sehen, daß es sich da nicht bloß um ein Gemütserlebnis handelt, sondern um etwas, was den ganzen Menschen ergreift, nicht bloß sich in Worten ausspricht; was nicht bloß hereingestellt ist wie ein Gemütserlebnis in die Welt, sondern wie ein realer Vorgang, ein Naturvorgang, wo der Mensch mit sich etwas macht, das wie ein Naturvorgang wird. Also etwas, was mehr von Wirklichkeit durchtränkt ist, meint Valentin Andreae mit seiner «Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz», als eine bloß mystische Hochzeit etwa der Mechthild von Magdeburg, die eine Mystikerin war. Durch die mystische Hochzeit der Nonnen wurde nur etwas getan für die Subjektivität des Menschen; durch die chymische Hochzeit gab sich der Mensch der Welt hin, durch ihn sollte etwas für die ganze Welt geleistet werden, so wie durch die Naturvorgänge etwas für die ganze Welt geleistet wird. Dies ist nun wiederum im eminent christlichen Sinne gedacht. Begriffe wollten die Menschen, die realer dachten - sei es nun selbst in dem einseitigen Sinne der alten Alchimisten -, Begriffe wollten sie, durch die sie die Wirklichkeit in richtiger Art meistern könnten, durch die sie in die Wirklichkeit richtiger eingreifen könnten, solche Begriffe, die nun wirklich etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben. Die materialistische Zeit hat zunächst über solche Begriffe einen Schleier geworfen. Und die Menschen, während sie heute meinen, gerade recht über die Wirklichkeit zu denken, leben viel mehr in Illusionen als die von ihnen verachteten Menschen zum Beispiel der Alchimistenzeit, welche Begriffe anstrebten, durch die die Wirklichkeit gemeistert werden kann." (Lit.: GA 175, S. 80ff)
Literatur
- John Dee: Monas Hieroglyphica, Mathematicè, Magicè, Cabalisticè, Anagogicique explicata ad Sapientissimum Romanorum Bohemiae et Hungariae regem, Maximilianum, Antwerpen 1564
- John Dee: Die Monas-Hieroglyphe von John Dee aus London mit Einführung und Anmerkungen von Agnes Klein., Interlaken, Ansata 1982
- Johann Valentin Andreae: Die Chymische Hochzeit des Christian Rosencreutz, gedeutet und kommentiert von Bastiaan Baan, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2001
- Johann Valentin Andreae, Walter Weber (Übers.): Die chymische Hochzeit des Christian Rosenkreuz anno 1459: Mit einem Aufsatz von Rudolf Steiner, 5. Auflage, Zbinden Verlag 2004, ISBN 978-3859891937
- Gerhard Wehr: Die Bruderschaft der Rosenkreuzer: Die Originaltexte, Edition Pleroma 2014, ISBN 978-3939647225; eBook ASIN B00NFFGXIK
- Rudolf Steiner: Philosophie und Anthroposophie, GA 35 (1984)
- Rudolf Steiner: Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha, GA 175 (1996)
- Rudolf Steiner: Mysteriengestaltungen, GA 232 (1998)
- Rudolf Steiner, Marie Steiner Briefwechsel und Dokumente 1901–1925, 2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage, GA 262 (2002)
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
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Weblinks
- Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz (ins Neuhochdeutsche übertragen von Lorenzo Ravagli)
- Johann Valentin Andreae, Chymische Hochzeit: Christiani Rosencreütz - der gesamte Text bei www.zeno.org
- Johann Valentin Andreae: Chymische Hochzeit des Christiani Rosencreutz Anno 1459
- Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz anno 1459 (Faksimile)
- Rudolf Steiner: Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz