Geisteswissenschaft

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Rudolf Steiner hat die von ihm entwickelte Anthroposophie vielfach auch als anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft bezeichnet, verwendet diesen Begriff aber anders, als das heute allgemein üblich ist, wo man unter den Geisteswissenschaften all jene Wissenschaften versteht, die sich mit den kulturell-geistigen Schöpfungen des Menschen wie Philosophie, Geschichte, Kunst, Religion, Staat, Recht usw. befassen. Mit dem Ausdruck Geisteswissenschaft meint Rudolf Steiner die genaue methodisch geleitete empirische Beobachtung und exakte wissenschaftliche Beschreibung des Geistigen, die sich vollgültig neben die Naturwissenschaft hinstellt, die sich ihrerseits die wissenschaftliche Erforschung der Natur zur Aufgabe gemacht hat. Steiner gebraucht für seine Forschungsmethode auch den Ausdruck Initiationswissenschaft, weil sie eine gewisse Initiation in die inneren Zusammenhänge der geistigen Welt voraussetzt, d.h. den Zugang zu dem besonderen Gebiet, auf dem geforscht wird, voraussetzt. Die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft gründet sich auf eine rein geistige Beobachtung, der sich nur einzelne geistige Tatsachen, sondern auch deren innerer geistiger Zusammenhang unmittelbar erschließt. Ähnlich wie bei der goetheanistischen Forschung wird dabei auf jegliche Art von Hypothesenbildung verzichtet, da diese für die geistige Erkenntnis weder notwendig noch förderlich ist.

Die Bezeichnung als Wissenschaft wollen viele Kritiker nicht gelten lassen, da geisteswissenschaftliche Erkenntnis nicht mit den Mitteln der modernen Wissenschaft errungen werden könne, sondern als Forschungswerkzeug die genannte Geistesschau angibt, die von der äußeren Wissenschaft nicht anerkannt wird. Zudem erfordere die anthroposophische Geisteswissenschaft ein langjähriges Studium und eine anstrengende Arbeit an sich selbst und sei damit nur subjektiv erlebbar, also nur vom einzelnen Menschen durch unmittelbare Erfahrung zu verifizieren. Die Erkenntnisse der anthroposophischen Geisteswissenschaft seien daher weder objektivierbar noch intersubjektiv nachprüfbar. Übersehen wird dabei, dass die Fähigkeiten zur geistigen Erfahrung in jedem Menschen schlummern und durch gezielte Übungen auch geweckt werden könnnen. Darüber hinaus werden die Ergebnisse der anthroposophischen Geisteswissenschaft in klare Gedanken gefasst, die von jedem nachvollzogen werden können, der über ein klares Denken verfügt und dessen Urteilsvermögen nicht durch überkommene Vorurteile geblendet ist. Weiters können die Erkenntnisse der anthroposophischen Geisteswissenschaft auch jederzeit an der Lebenspraxis geprüft werden. Rudolf Steiner ließ zu diesem Zweck systematische Forschung betreiben und gab hierzu in seinen Vorträgen viele Anregungen, um seine Wissenschaft auf vielen Lebensgebieten praktisch anwendbar zu machen.

Unterschiede zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und anthroposophischer Geisteswissenschaft

Während sich die Philosophie spätestens seit Aristoteles vornehmlich auf das spekulative bzw. diskursive Denken gründet, beruht die Anthroposphie unmittelbar auf gedankenklarer, vollbewusster geistiger Wahrnehmung. Das bereits in Rudolf Steiners erkenntnistheoretischen Grundlagenwerken angesprochene intuitive Denken stellt eine elementare Form einer solchen geistigen Wahrnehmung dar.

„Man verleumdet Anthroposophie, wenn man sie bloss eine Philosophie nennt. Sie beruht nicht auf einer philosophischen Spekulation, sondern sie beruht auf einer Anschauung, die ebenso lebendig ist, wie nur je eine sinnliche Anschauung sein kann, die aber eben errungen werden muss, indem der Mensch die Kräfte, die in seiner Seele sonst nur schlummern, so ausbildet, wie ich sie im Prinzip angedeutet habe...“ (Lit.: R. Steiner: Anthroposophie und die Rätsel der Seele, Vortrag in Bern, 20. März 1922 pdf)

Christian Clement weist in seiner Einleitung zu SKA 5 darauf hin, dass Rudolf Steiner stets betont habe,

„... dass eine wirklichkeitsgemäße Erkenntnis nicht allein durch gedankliche Verarbeitung und Deutung sinnlicher Beobachtungen erworben werden könne, sondern dass zu diesem „sinnlichen“ Erkennen eine völlig andere Art des Denkens und Wahrnehmens hinzukommen müsse. Ein „höheres“, „übersinnliches“ Bewusstsein müsse entfaltet, ein neues „Organ“ erschlossen werden, dessen Inhalt nicht einfach „gegeben“ seien, wie diejenigen der sinnlichen Wahrnehmung, sondern die in energischer geistig-seelischer Selbsterziehung erst innerlich hervorgebracht werden müssten. Zu diesem höheren Bewusstsein sei die Menschheit insgesamt derzeit erst noch unterwegs, doch könne es durch seelisches und geistiges Üben vom Philosophen bzw. Mystiker schon jetzt, gewissermaßen als bewusstseinsevolutive Frühgeburt, bewusst hervorgebracht werden. Dieses grundlegende Postulat eines im Menschen als Potenzial schlummernden, nicht auf sinnlichen Inhalten beruhenden ‚höheren‘ Bewusstseins verbindet nach Steiners Auffassung seine eigene Philosophie mit so disparaten Geistesströmungen wie Platonismus und Neuplatonismus, der mittelalterlichen Mystik, mit Cusanus, Paracelsus und Böhme, mit den Anschauungen Goethes und Schillers und dem Idealismus eines Fichte, Schelling und Hegel.“ (Lit.: Christian Clement, SKA 5, XXXV)

Die anthroposophische Geisteswissenschaft im Sinne Rudolf Steiners versteht sich, wie schon oben bemerkt, nicht als spekulative, sondern als streng empirische Wissenschaft, die sich methodisch an der Naturwissenschaft orientiert, anders als diese aber nicht vordringlich die äußere physische Natur zum Gegenstand hat, sondern sich der Erforschung der geistigen Welt widmet, in der sie eine eigenständige, der physischen Welt übergeordnete und letztere bedingende Wirklichkeit erblickt, die durch die gezielte Entwicklung entsprechender seelischer Wahrnehmungsorgane der Erfahrung zugänglich ist und durch das Denken in ihrem inneren Zusammenhang begriffen werden kann.

„Geisteswissenschaft ist die wahre Fortsetzerin der naturwissenschaftlichen Forschung dadurch, daß sie das Gebiet des Geistes mit denjenigen Mitteln zu erkennen strebt, welche für dieses Gebiet tauglich sind. Als Fortsetzerin der Naturwissenschaft kann sie nicht selbst bloße Naturwissenschaft sein. Denn diejenigen Mittel, welche dieser Wissenschaft so gewaltige Triumphe gebracht haben, vermochten dies eben aus dem Grunde, weil sie der Erforschung der Natur im höchsten Maße angepaßt waren, und weil diese Forschung sie nicht durch andre - nicht für das Naturgebiet geeignete - beeinträchtigt hat. Um auf dem Gebiete des Geistes ein Ähnliches zu leisten, wie Naturwissenschaft auf dem der Natur geleistet hat, muß Geisteswissenschaft andre Erkenntnisfähigkeiten zur Entwickelung bringen, als die in der Naturforschung anwendbaren sind. Damit muß sie allerdings einen Gesichtspunkt geltend machen, der begreiflicherweise in der Gegenwart vielseitigem Zweifel begegnen kann. Man betrachte doch nur einmal unbefangen, was über diese «andern Erkenntnisfähigkeiten» gesagt wird. Es sind Fähigkeiten, welche durchaus in der Entwickelungslinie der gewöhnlichen menschlichen Seelenkräfte liegen. Wie muß die Geisteswissenschaft ihren Unterschied von der Naturwissenschaft auffassen? Die Erforschung der Natur kann nur mit den Erkenntniskräften gepflegt werden, welche der Mensch im naturgemäßen Verlauf seines Lebens erlangt und die zum Zwecke dieser Erforschung durch geregelte Beobachtung und wissenschaftliche Versuchswerkzeuge unterstützt werden. Um in die geistige Welt einzudringen, muß sie der Mensch durch geistig-seelische Übungen über den Punkt hinaus weiterentwickeln, bis zu dem sie ohne solche Übungen sich - gleichsam von selbst - bilden.“ (Lit.:GA 35, S. 159)

Die fruchtbare Zusammenarbeit von Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft vergleicht Rudolf Steiner gelegentlich mit dem Bau eines Tunnels, der von zwei Seiten her gegraben wird, um in der Mitte zusammenzutreffen:

„So stellt sich heute die Geisteswissenschaft neben die Naturwissenschaft hin, nicht der Naturwissenschaft widersprechend, sondern sie voll anerkennend. Ja, gerade aus derselben Gesinnung, wie die Naturwissenschaft sie der Natur gegenüber hat, möchte die Geistesforschung zu einer Wissenschaft des Geistes kommen. Sie möchte so eindringen in die inneren Kräfte des Daseins, wie die Naturwissenschaft eindringt in die äußeren Kräfte des Daseins. Und zeigen wird sich, wenn einmal diese Geisteswissenschaft Platz greift im Geistesleben unserer Zeit, wie das volle Dasein, die volle Wirklichkeit nur dadurch erfaßt werden kann, daß man von zwei Seiten her sich dieser Wirklichkeit nähert, auf der einen Seite naturforscherisch, indem man die Welt von außen betrachtet, auf der anderen Seite geisteswissenschaftlich, indem man sie vom Geiste aus betrachtet, bis man von beiden Seiten kommend, [wie bei einem Tunnelbau,] in der richtigen Richtung bohrend, in der Mitte zusammentrifft. So findet man die wahre Wirklichkeit, indem man von der Natur und vom Geiste her in entgegengesetzter Linie zusammenarbeitet, bis die zwei Richtungen zusammenkommen.“ (Lit.:GA 69a, S. 268f)

„Denn Geistesforschung und Naturwissenschaft werden einander begegnen, die Geistesforschung von der geistigen Seite her, die Naturwissenschaft von der materiellen Seite her. Sie werden sich treffen, wie Arbeiter, die einen Tunnel graben, wenn sie richtig orientiert sind, von beiden Seiten her in der Mitte zusammentreffen.“ (Lit.:GA 72, S. 130)

Die Naturwissenschaft vermag uns nicht über das ganze Wesen des Menschen aufzuklären. Sie kann uns nur eine Erkenntnis dessen vermitteln, was mit der Zeugung bzw. Geburt in der sinnliche Welt erscheint und mit dem Tod wieder vergeht. Das wahre Wesen des Menschen reicht jedoch weit über diese Grenzen hinaus.

„Daher kann man sagen: Wirkliche Erkenntnis bietet heute dem, der sie sucht, eigentlich nur die Naturwissenschaft. Aber was lehrt die Naturwissenschaft vom Menschen? Sie lehrt das, was am Menschen mit der Geburt oder Empfängnis entsteht und mit dem Tode vergeht. Nichts anderes! Wenn man ehrlich sein will, so hat sie nichts anderes. Daher ist es für den, der auf diesem Gebiete ehrlich sein will, nicht anders möglich, als seinen Blick auf das zu richten, was heute nicht mit den üblichen naturwissenschaftlichen Mitteln erreicht werden kann, das heißt, eine wirkliche Seelen- und Geisteswissenschaft zu begründen, die wiederum auf einer Erfahrung und Beobachtung von Geistigem beruht, wie die alte Geisteserkenntnis. Und das kann nicht anders geschehen als mit den Mitteln, die Sie angegeben finden in meinen Büchern «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», «Die Geheimwissenschaft» und anderen, indem sich der Mensch dadurch in die Möglichkeit versetzt, das Geistige wirklich zu schauen und darüber so zu sprechen, wie er über das spricht, was im Sinnlich-Materiellen vorliegt und zu einer gediegenen Naturwissenschaft geführt hat. Alles, was auf der Erde den Sinnen gegeben ist, was herangebracht werden kann an das Experiment, das ist natürlich noch nicht abgeschlossen, aber es ist auf gutem Wege. Doch das alles liefert nur Erkenntnisse über den vergänglichen, den sinnlichen, den zeitlichen Menschen. Daher können wir gar nicht über das Irdische hinausschauen, wenn wir mit diesen Mitteln den Menschen erfassen wollen. Denn schauen wir bloß auf das Irdische, so schauen wir nur auf das, was vom Menschen vergänglich ist.“ (Lit.:GA 231, S. 61f)

„Sie will eine Eröffnung der Tore zu einer übersinnlichen Welt sein. Und sie will diese Welt nicht durch bloßes spekulatives Denken finden, sondern durch wirkliche Wahrnehmung, welche der menschlichen Seele ebenso zugänglich ist wie die Wahrnehmung der physischen Sinne. Man ist gewöhnlich der Ansicht, daß eine solche Wahrnehmung in geistiger Art nur in Zuständen der Vision, der Ekstase in der Seele auftritt, und daß sie bei den mit ihr begnadeten Menschen keiner wissenschaftlichen Kontrolle unterliege. Deshalb will man ihr auch keinen anderen Wert beilegen als einen solchen persönlicher Erlebnisse der einzelnen menschlichen Individuen. Mit dieser Art von Seelenerlebnissen hat die moderne Theosophie nichts gemein. Sie zeigt, daß in der menschlichen Seele Erkenntniskräfte schlummern, welche im gewöhnlichen Leben und auch in der äußeren Wissenschaft nicht zutage treten. Diese Kräfte können durch Meditation und durch eine energische Konzentration des inneren Empfindungs- und Willenslebens wachgerufen werden. Es muß die Seele, um dazu zu kommen, sich abschließen können gegenüber allen äußeren Eindrücken und auch gegenüber allem, was das Gedächtnis von solchen äußeren Eindrücken aufbewahrt. Meditation ist die intensive Hingabe der Seele an Vorstellungen, Empfindungen und Gefühle, so, daß man kein Bewußtsein davon entwickelt, was diese Vorstellungen oder Gefühle für die physische Welt bedeuten, sondern so, daß diese sich innerhalb des Seelenlebens als Kräfte erweisen, welche die Seele gleichsam durchstrahlen und so aus deren Tiefen Mächte herausholen, deren sich der Mensch im gewöhnlichen Leben nicht bewußt ist. Die Wirkung dieser inneren Versenkung ist eine solche, daß sich durch sie der Mensch als einer geistigen Realität seines eigenen Wesens bewußt wird, von welcher er sonst keine Wahrnehmung hat. Bevor er solche Übungen anstellt, erkennt er sich als eine Wesenheit, welche durch körperliche Organe von sich und von der Welt etwas weiß. Nach solchen Übungen weiß er, daß er ein Leben in sich entfalten kann, auch ohne daß ihm seine körperlichen Organe ein solches Leben vermitteln. Er weiß, daß er sich geistig abtrennen kann von seinem physischen Körper und daß er durch diese Abtrennung nicht in den Zustand der Bewußtlosigkeit versinken muß. Und er erlangt nicht nur von sich selbst eine solche Erkenntnis, sondern auch von einer übersinnlichen Welt, welche sich für die gewöhnliche Erkenntnis hinter der physisch-sinnlichen Welt verbirgt und in welcher die wahren Ursachen dieser letzteren liegen.“ (Lit.:GA 35, S. 145ff)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.