Politik und Anthroposophie

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"In Punkt 4 der "Prinzipien" der Anthroposophischen Gesellschaft heißt es:

"Die Gesellschaft lehnt jedes sektiererische Bestreben ab. Die Politik betrachtet sie nicht als in ihren Aufgaben liegend."

In den Erläuterungen auf der Weihnachtstagung wird das begründet mit den Worten: "Anthroposophie ist vielfach zu dem Ansehen gekommen, als ob sie sich in die politischen Angelegenheiten der Welt hineinmischen wollte - was sie nie getan hat, nie tun kann."

In diesen Sätzen wird gesagt, daß die Gesellschaft es ist, die die Politik nicht als in ihren Aufgaben liegend betrachtet. Es wird nicht gesagt, daß der Anthroposoph es nicht als seine Aufgabe betrachtet, Politik zu treiben. Und wenn es von der Anthroposophie heißt, daß sie sich nicht in die politischen Angelegenheiten der Welt hineinmischen sollte, so ist das nur der abgekürzte Ausdruck für die Anthroposophische Gesellschaft. Die Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der sich nur im einzelnen Menschen beziehungsweise in deren gesellschaftlichem Zusammenleben vollziehen kann. Das bleibt auf der Erkenntnisebene. Sektiererei entsteht, wenn sich Gruppen bilden, die bestimmte Weltanschauungen pflegen in dem Bestreben, sie der Umwelt aufzudrängen. Das können auch politische Inhalte sein.

Politik treiben bedeutet, daß man sich willensmäßig in das politische Leben hineinbegibt, um auf dasselbe einzuwirken. Das kann geschehen durch Gründung einer politischen Partei, durch Mitwirkung in einer solchen, durch parteipolitische Reden in der Öffentlichkeit sowie durch Propaganda und Werbung in Schriften und Reden für politische Ziele im gegenwärtigen Staatsleben. Das ist das Gebiet, von dem die Anthroposophische Gesellschaft sich fernzuhalten hat. Das individuelle Mitglied derselben kann jedoch auf diesem Felde tätig werden.

Unter welchen Bedingungen eine solche Tätigkeit steht, wird noch zu untersuchen sein.

Politik erkennen ist etwas anderes. Wenn man die Politik zum Gegenstand der Erkenntnis macht, so konzentriert man sich beobachtend und ideenbildend auf das Rechts- und Staatsleben. Das kann in grundsätzlicher Weise geschehen oder in historischen Betrachtungen, und es kann sich auch richten auf eine Stellungnahme zu den politischen Vorgängen, wie sie sich aktuell in der Gegenwart abspielen. Eine solche Erkenntnis kann nur durch Einzelne vollzogen werden. Und wenn das Anthroposophen sind, so werden sie die Urteilsgrundlagen aus dem schöpfen, was Rudolf Steiner als die Dreigliederung des sozialen Organismus der neuzeitlichen Menschheit geoffenbart hat. Die Gesellschaft ist kein Subjekt, das Erkenntnisse vollziehen könnte. Das können nur deren Mitglieder als Individualitäten. Dabei kommt in Betracht, daß die Gemeinschaft der Anthroposophen, also die Anthroposophische Gesellschaft, wenn sie vom Geiste ihres Gründers beseelt sein wird, eine geistige Macht darstellt, welche als Kraft und Inspirationsquelle in dem wirkt, was der einzelne Anthroposoph erstrebt, vollbringt und erkennt. Als Mitglied der Hochschule kann er politische Erkenntnis treiben und veröffentlichen, was sich seinen Erkenntnisbemühungen ergeben hat. Damit greift er nicht ein in das politische Leben, treibt also nicht Politik. Diejenigen, die Politik treiben, können sich solcher Erkenntnisse bemächtigen und mit ihnen praktisch wirken.

Was ein Anthroposoph an politischen Erkenntnissen in die Öffentlichkeit hineinstellt, das hat er zu verantworten und nicht die Gesellschaft. Wenn ein Vertreter der praktischen Politik zu ihm kommt, sein politisches Programm vorlegt und ihn um Rat frägt, so kann er aus seiner Erkenntnis heraus Rat erteilen und ihm richtige Formulierungen seiner Programmpunkte zeigen. Was der Frager dann aus der Sache macht, das ist seine Sache, das hat der den Rat Gebende nicht zu verantworten. Der Rat bleibt in der Erkenntnissphäre. Die Ausführung trifft allein den Mann der Praxis, der den Rat erbeten hatte. Der Anthroposoph kann also einem Politiker das Programm machen. Für dessen Durchführung ist er nicht mehr verantwortlich.

Um diese Feststellung nicht mißzuverstehen, gilt es eine feine Unterscheidung zu treffen. Es macht einen Unterschied, ob der Rat darin besteht, nur die Idee eines anzustrebenden Zieles zu formulieren, oder ob er sich auf das Verfahren erstreckt, welches den praktischen Weg zur Erreichung des Zieles zum Inhalte hat. Gebe ich einem Politiker den Rat, eine Eigentumsordnung zu schaffen, die einen egoistischen Mißbrauch des Eigentums zu Machtstellungen ausschließt, so habe ich die Wahrheit dieser sozialen Idee zu verantworten, nicht aber das Verfahren, das der Empfänger dieses Rates nun einschlägt. Rate ich ihm aber, den Weg einzuschlagen, daß er die Kapitalbesitzer gewaltsam enteignet, so bin ich für den Schaden, der durch ein solches Verfahren angerichtet wird, mitverantwortlich. - Wenn die Raterteilung im Bereich des Ideenhaften bleibt, so hat der Empfänger eines solchen Rates die Freiheit, den Weg zu wählen, wie er diese Idee verwirklichen will. Erstreckt der Rat sich jedoch auf die Kennzeichnung des praktischen Weges selbst, auf dem die Idee in die Wirklichkeit übergeführt werden soll, so wird der sie Ausführende zum Vollstrecker meines Rates, obwohl er noch die Freiheit hat, ihn nicht zu befolgen. Als der Impulsgeber dieses Rates bin ich für die Folgen seiner Ausführung mitverantwortlich. Insoweit ein Rat den Empfänger desselben der Freiheit der Entscheidung über die Verwirklichung desselben beraubt, insoweit liegt die Verantwortung nicht bei ihm, sondern bei dem Rat-erteilenden. Beschränkt sich die Raterteilung allein auf die ideenhafte Formulierung des Zieles, so trägt der nach der Idee desselben Handelnde die volle Verantwortung. So hat Karl Marx nicht nur die Idee der sozialistischen Gesellschaft formuliert und propagiert, sondern auch deren Verwirklichung durch die Expropriation der Expropriateure. Dafür trifft ihn die Mitverantwortung.

Alle diese Überlegungen wären in den frühen Stadien der Menschheitsentwicklung gegenstandslos gewesen. In der urindischen und urpersischen Theokratie wurde die gesamte gesellschaftliche Ordnung aus dem göttlichen Geiste heraus vollzogen. Die politische Ordnung war ein Bestandteil des Geisteslebens und wurde innerhalb desselben und durch dasselbe verwirklicht. Im Grunde bestand die Theokratie nur aus einem Geistesleben, in welchem die göttlichen Welten unmittelbar tätig waren. Seit dem IV. Kulturzeitraum strebt das Geistesleben in die Selbständigkeit und muß von den Einflüssen der Politik freigehalten werden. Mischen andererseits geistige Institutionen sich in die Staatspolitik tätig ein, dann mischt sich auch die Staatspolitik in die geistigen Institutionen ein. Diese Problematik konnte es in der Theokratie nicht geben, da die sogenannte Politik nur eine Erscheinung des Geisteslebens war, und nicht nur das, sondern sie gehörte auch zu den von ihm zu bewältigenden Aufgaben. Es war praktische Politik als Willenstat des Geisteslebens.

Auch heute müßte alle Politik aus geistig inspirierten Intuitionen der Staatslenker hervorgehen. Das ist in neuerer Zeit fast nirgends der Fall. Die Staatsmacht bedient sich der bis ins Untersinnliche hinein entwickelten materiellen Gewalten, wenn sie es für richtig hält. Wer praktische Politik treibt, ist genötigt, mehr oder weniger in diese Sphären herunterzusteigen. Das kann eine esoterische geistige Gesellschaft niemals tun, ohne sich selbst aufzugeben. Sie kann nur darnach trachten, sich von diesen Welten fernzuhalten. Aber in diesem Bestreben gerät sie oftmals in Schwierigkeiten. Das heutige Staatswesen verkörpert das, was Goethe den gemischten König genannt hat. Es erstreckt seine Macht weit in die Gebiete des Geisteslebens und des Wirtschaftslebens hinein.

In der Führung eines Staatswesens, welches den gemischten König verkörpert, kann ein Mensch, der das anthroposophische Wesen in sich verwirklichen will, kaum mitwirken. Er weiß, was die Dreigliederung des sozialen Lebens fordert. Er weiß, daß das Parteiwesen in der gegenwärtigen Gestalt eine überlebte Sozialgestalt darstellt, da es mit seinem Fraktionszwang eine unzeitgemäße Gruppenseelenhaftigkeit galvanisiert. Er weiß, daß man nur Individualitäten wählen kann, nicht Parteien. Ein wahres Parlament würde sich aus lauter Individualitäten zusammensetzen, die je nach Lage des Falles sich vorübergehend gesellschaftlich zusammenschließen würden oder könnten, um dann wieder auseinanderzutreten. Rudolf Steiner spricht von der notwendigen Auflösung der Parteigruppierungen als Vorbedingung für eine Gesundung des öffentlichen Lebens.

Die Anthroposophische Gesellschaft, wenn sie in ihrer wahren Gestalt verwirklicht wird, verkörpert das Wesen Anthroposophie und erschafft eine machtvolle Gruppenseele, in der sich die hohe Geistwesenheit verkörpern kann, welche das Antlitz des Christus geworden ist. Die irdische Gestalt dieser Gesellschaft verlangt eine irdische Konstitution. In diesem Gewand stellt sie sich als irdische Institution in das öffentliche Leben hinein. In ihrer Rechtsgestalt kann sie klagen und verklagt werden, kann sie wirtschaftlich, politisch und kulturschaffend tätig werden. Das können Tätigkeiten sein, die ihrem inneren Wesen widersprechen. Der einzelne Anthroposoph kann diese Tätigkeiten ausüben, insofern er sie in Einklang bringen kann mit dem Geistwesen Anthroposophie, d.h. insoweit er sie als Anthroposoph verantworten kann. Wenn jedoch der Anthroposoph in seinen Erkenntnissen irrt, so ist er zwar auch nicht für den Schaden verantwortlich, den die Verwirklichung dieser Irrtümer verursacht, aber es schlagen diese Irrtümer doch zurück: auf ihn selbst nicht nur, sondern auch indirekt auf die Gesellschaft. Sie schaden der Gesellschaft durch die Beurteilung, die sie in der Öffentlichkeit erfährt. Aber das gilt nur für Erkenntnisse, die dem Wesen der Anthroposophie zuwiderlaufen." (Folkert Wilken: Die anthroposophische Gesellschaft und die Politik. Der Anthroposoph und die Politik. In: Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus, April 1965, Jahrgang 10, Heft 1-2, Seite 16 - 20)