Normative Wissenschaft

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Eine normative Wissenschaft strebt danach, klare Normen für bestimmte Lebensbereiche vorzugeben, namentlich im Bereich der Ethik und des sozialen Lebens, des Rechts, der Politik, der Pädagogik, der Ökonomie usw. Sie beschäftigt sich ihrem Grundprinzip nach nicht mit dem was ist, hat also in diesem Sinn keinen empirischen Charakter, sonden deklariert was sein soll. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob eine so verstandene Normwissenschaft überhaupt möglich ist. Rudolf Steiner hat in seiner «Philosophie der Freiheit» sehr deutlich dargestellt, dass das für den Bereich der Ethik nicht der Fall ist. Ethisches Handeln kann letztlich nur aus einem moralischen Ideenvermögen entspringen, das durch moralische Phantasie konkretisiert und durch eine entsprechende moralische Technik verwirklicht werden. Was in der Vergangenheit einzelne Menschheitsführer an moralischen Ideen aus der Ideenwelt geschöpft haben, legten sie dann als Norm dem sozialen Leben zugrunde. Je mehr der Mensch die Freiheit entwickeln wird, indem er die wahren Gründe seines Handelns erkennen und gegeneinander abwägen kann und durch moralische Intuition Gewissheit darüber erlangt, was er als dieses besondere, einzigartige Individuum, das er ist, in einer konkret gegebenen Situation tun kann, umso weniger wird er einer vorgegebenen ethischen Norm bedürfen, sondern einen mit den Anforderungen des Weltgeschehens im Einklang stehenden ethischen Individualismus entwickeln können.

„Der freie Geist handelt nach seinen Impulsen, das sind Intuitionen, die aus dem Ganzen seiner Ideenwelt durch das Denken ausgewählt sind. Für den unfreien Geist liegt der Grund, warum er aus seiner Ideenwelt eine bestimmte Intuition aussondert, um sie einer Handlung zugrunde zu legen, in der ihm gegebenen Wahrnehmungswelt, das heißt in seinen bisherigen Erlebnissen. Er erinnert sich, bevor er zu einem Entschluß kommt, daran, was jemand in einem dem seinigen analogen Falle getan oder zu tun für gut geheißen hat, oder was Gott für diesen Fall befohlen hat und so weiter, und danach handelt er. Dem freien Geist sind diese Vorbedingungen nicht einzige Antriebe des Handelns. Er faßt einen schlechthin ersten Entschluß. Es kümmert ihn dabei ebensowenig, was andere in diesem Falle getan, noch was sie dafür befohlen haben. Er hat rein ideelle Gründe, die ihn bewegen, aus der Summe seiner Begriffe gerade einen bestimmten herauszuheben und ihn in Handlung umzusetzen. Seine Handlung wird aber der wahrnehmbaren Wirklichkeit angehören. Was er vollbringt, wird also mit einem ganz bestimmten Wahrnehmungsinhalte identisch sein. Der Begriff wird sich in einem konkreten Einzelgeschehnis zu verwirklichen haben. Er wird als Begriff diesen Einzelfall nicht enthalten können. Er wird sich darauf nur in der Art beziehen können, wie überhaupt ein Begriff sich auf eine Wahrnehmung bezieht, zum Beispiel wie der Begriff des Löwen auf einen einzelnen Löwen. Das Mittelglied zwischen Begriff und Wahrnehmung ist die Vorstellung (vgl. S. 106 ff.) Dem unfreien Geist ist dieses Mittelglied von vornherein gegeben. Die Motive sind von vornherein als Vorstellungen in seinem Bewußtsein vorhanden. Wenn er etwas ausführen will, so macht er das so, wie er es gesehen hat, oder wie es ihm für den einzelnen Fall befohlen wird. Die Autorität wirkt daher am besten durch Beispiele, das heißt durch Überlieferung ganz bestimmter Einzelhandlungen an das Bewußtsein des unfreien Geistes. Der Christ handelt weniger nach den Lehren als nach dem Vorbilde des Erlösers. Regeln haben für das positive Handeln weniger Wert als für das Unterlassen bestimmter Handlungen. Gesetze treten nur dann in die allgemeine Begriffsform, wenn sie Handlungen verbieten, nicht aber wenn sie sie zu tun gebieten. Gesetze über das, was er tun soll, müssen dem unfreien Geiste in ganz konkreter Form gegeben werden: Reinige die Straße vor deinem Haustore! Zahle deine Steuern in dieser bestimmten Höhe bei dem Steueramte X! und so weiter. Begriffsform haben die Gesetze zur Verhinderung von Handlungen: Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht ehebrechen! Diese Gesetze wirken auf den unfreien Geist aber auch nur durch den Hinweis auf eine konkrete Vorstellung, zum Beispiel die der entsprechenden zeitlichen Strafen, oder der Gewissensqual, oder der ewigen Verdammnis, und so weiter.

Sobald der Antrieb zu einer Handlung in der allgemeinbegrifflichen Form vorhanden ist (zum Beispiel: du sollst deinen Mitmenschen Gutes tun! du sollst so leben, daß du dein Wohlsein am besten beförderst!), dann muß in jedem einzelnen Fall die konkrete Vorstellung des Handelns (die Beziehung des Begriffes auf einen Wahrnehmungsinhalt) erst gefunden werden. Bei dem freien Geiste, den kein Vorbild und keine Furcht vor Strafe usw. treibt, ist diese Umsetzung des Begriffes in die Vorstellung immer notwendig.

Konkrete Vorstellungen aus der Summe seiner Ideen heraus produziert der Mensch zunächst durch die Phantasie. Was der freie Geist nötig hat, um seine Ideen zu verwirklichen, um sich durchzusetzen, ist also die moralische Phantasie. Sie ist die Quelle für das Handeln des freien Geistes. Deshalb sind auch nur Menschen mit moralischer Phantasie eigentlich sittlich produktiv. Die bloßen Moralprediger, das ist: die Leute, die sittliche Regeln ausspinnen, ohne sie zu konkreten Vorstellungen verdichten zu können, sind moralisch unproduktiv. Sie gleichen den Kritikern, die verständig auseinanderzusetzen wissen, wie ein Kunstwerk beschaffen sein soll, selbst aber auch nicht das geringste zustande bringen können.

Die moralische Phantasie muß, um ihre Vorstellung zu verwirklichen, in ein bestimmtes Gebiet von Wahrnehmungen eingreifen. Die Handlung des Menschen schafft keine Wahrnehmungen, sondern prägt die Wahrnehmungen, die bereits vorhanden sind, um, erteilt ihnen eine neue Gestalt. Um ein bestimmtes Wahrnehmungsobjekt oder eine Summe von solchen, einer moralischen Vorstellung gemäß, umbilden zu können, muß man den gesetzmäßigen Inhalt (die bisherige Wirkungsweise, die man neu gestalten oder der man eine neue Richtung geben will) dieses Wahrnehmungsbildes begriffen haben. Man muß ferner den Modus finden, nach dem sich diese Gesetzmäßigkeit in eine neue verwandeln läßt. Dieser Teil der moralischen Wirksamkeit beruht auf Kenntnis der Erscheinungswelt, mit der man es zu tun hat. Er ist also zu suchen in einem Zweige der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt. Das moralische Handeln setzt also voraus neben dem moralischen Ideen vermögen[1] und der moralischen Phantasie die Fähigkeit, die Welt der Wahrnehmungen umzuformen, ohne ihren naturgesetzlichen Zusammenhang zu durchbrechen. Diese Fähigkeit ist moralische Technik. Sie ist in dem Sinne lernbar, wie Wissenschaft überhaupt lernbar ist. Im allgemeinen sind Menschen nämlich geeigneter, die Begriffe für die schon fertige Welt zu finden, als produktiv aus der Phantasie die noch nicht vorhandenen zukünftigen Handlungen zu bestimmen. Deshalb ist es sehr wohl möglich, daß Menschen ohne moralische Phantasie die moralischen Vorstellungen von andern empfangen und diese geschickt der Wirklichkeit einprägen. Auch der umgekehrte Fall kann vorkommen, daß Menschen mit moralischer Phantasie ohne die technische Geschicklichkeit sind und sich dann anderer Menschen zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen bedienen müssen.

Insofern zum moralischen Handeln die Kenntnis der Objekte unseres Handelnsgebietes notwendig ist, beruht unser Handeln auf dieser Kenntnis. Was hier in Betracht kommt, sind Naturgesetze. Wir haben es mit Naturwissenschaft zu tun, nicht mit Ethik.

Die moralische Phantasie und das moralische Ideenvermögen können erst Gegenstand des Wissens werden, nachdem sie vom Individuum produziert sind. Dann aber regeln sie nicht mehr das Leben, sondern haben es bereits geregelt. Sie sind als wirkende Ursachen wie alle andern aufzufassen (Zwecke sind sie bloß für das Subjekt). Wir beschäftigen uns mit ihnen als mit einer Naturlehre der moralischen Vorstellungen.

Eine Ethik als Normwissenschaft kann es daneben nicht geben.

Man hat den normativen Charakter der moralischen Gesetze wenigstens insofern halten wollen, daß man die Ethik im Sinne der Diätetik auffaßte, welche aus den Lebensbedingungen des Organismus allgemeine Regeln ableitet, um auf Grund derselben dann den Körper im besonderen zu beeinflussen (Paulsen, System der Ethik). Dieser Vergleich ist falsch, weil unser moralisches Leben sich nicht mit dem Leben des Organismus vergleichen läßt. Die Wirksamkeit des Organismus ist ohne unser Zutun da; wir finden dessen Gesetze in der Welt fertig vor, können sie also suchen, und dann die gefundenen anwenden. Die moralischen Gesetze werden aber von uns erst geschaffen. Wir können sie nicht anwenden, bevor sie geschaffen sind. Der Irrtum entsteht dadurch, daß die moralischen Gesetze nicht in jedem Momente inhaltlich neu geschaffen werden, sondern sich forterben. Die von den Vorfahren übernommenen erscheinen dann gegeben wie die Naturgesetze des Organismus. Sie werden aber durchaus nicht mit demselben Rechte von einer späteren Generation wie diätetische Regeln angewendet. Denn sie gehen auf das Individuum und nicht wie das Naturgesetz auf das Exemplar einer Gattung. Als Organismus bin ich ein solches Gattungsexemplar, und ich werde naturgemäß leben, wenn ich die Naturgesetze der Gattung in meinem besonderen Falle anwende; als sittliches Wesen bin ich Individuum und habe meine ganz eigenen Gesetze[2].“ (Lit.:GA 4, S. 191ff)

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit, GA 4 (1995), ISBN 3-7274-0040-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  2. Rudolf Steiner: Schriften. Kritische Ausgabe / Band 2: Philosophische Schriften: Wahrheit und Wissenschaft. Die Philosophie der Freiheit, frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 2016, ISBN 978-3772826320
  3. Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit, Mit beiden Ausgaben (1894 u. 1918) im Vergleich, Rudolf Steiner Ausgaben, 3. Aufl. 2015, ISBN 978-3-86772-072-4

Einzelnachweise

  1. Nur Oberflächlichkeit könnte im Gebrauch des Wortes Vermögen an dieser und andern Stellen dieser Schrift einen Rückfall in die Lehre der alten Psychologie von den Seelenvermögen erblicken. Der Zusammenhang mit dem S. 95 f. Gesagten ergibt genau die Bedeutung des Wortes.
  2. Wenn Paulsen (S. 15 des angeführten Buches) sagt: «Verschiedene Naturanlagen und Lebensbedingungen erfordern wie eine verschiedene leibliche so auch eine verschiedene geistig-moralische Diät», so ist er der richtigen Erkenntnis ganz nahe, trifft aber den entscheidenden Punkt doch nicht. Insofern ich Individuum bin, brauche ich keine Diät. Diätetik heißt die Kunst, das besondere Exemplar mit den allgemeinen Gesetzen der Gattung in Einklang zu bringen. Als Individuum bin ich aber kein Exemplar der Gattung.