Nerthus

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Nerthus oder Hertha ist eine germanische Gottheit.

Nach Tacitus, Germania Kap. 40, wurde die Gottheit Nerthus von den germanischen Stämmen der Avionen, Anglier, Variner, Eudosen, Suardonen, nördlichen Sueben und Nuitonen verehrt. Tacitus beschreibt Nerthus als Terra Mater (Mutter Erde), nennt sie aber nicht dea (Göttin), sondern numen (göttliches Wesen).

Auf einer Insel des Ozeans (wohl der Ostsee) gab es in einem heiligen Hain einen bedeckten Wagen, der nur von einem Priester berührt werden durfte. Mit diesem von Kühen gezogenen Wagen soll Nerthus durch das Land gefahren sein. Während dieser Fahrt herrschte bei den Stämmen ein heiliger Friede, der an den ebenfalls von Tacitus überlieferten Frieden bei den Suionen erinnert. Nach der Fahrt wurde der Wagen mit den ihn bedeckenden Tüchern in einem See von Sklaven gewaschen, die anschließend dort ertränkt wurden.

Der Name der offensichtlich mehr oder weniger geschlechtslosen Gottheit wird seit Jacob Grimm oft als mit dem des nordgermanischen Gottes Njörðr (Nerður) für identisch gehalten, weshalb man in Nerthus eine Frühform des Njörð zu sehen pflegt. Außerdem war ja Njörð ein Schiffsgott, was gut zu dem heiligen See bei Tacitus passt. Nerthus wird aber auch gleichzeitig als Schwester und Gattin des Njörd angesehen und gilt als Mutter des Göttergeschlechts der Wanen.

Neuerdings wird die Identifikation von Nerthus mit Njörð stark angezweifelt. (Lit.: Simek, S. 148; Motz). Hier wird die Göttin Nerthus mit ihrer Umfahrt durch das Land mehr im Zusammenhang mit den häuslichen Angelegenheiten gesehen, Frau Holle und Frau Perchta seien die nächsten Parallelen und die eigentlichen Spätformen der Nerthus.

Ungeklärt ist auch, wo das Heiligtum der Nerthus lag. Neben anderen Orten wird Rügen vermutet, wie es etwa Ludwig Bechstein schildert:

"Im Eiland Rügen war das Heiligtum der Mutter Erde, als Göttin gedacht von den alten Urvölkern des germanischen Nordens und Hertha geheißen. Ein geheiligter Buchenwald, die Stubbnitz genannt, umgab einen tiefen See. Im Walde stand der mit einem Gewand bedeckte Wagen der Göttin, darin sie alljährlich einmal das Land durchfuhr, im Geleite eines einzigen Priesters, dem ihr Wille offenbart ward. Zwei heilige Kühe zogen den Wagen der Göttin, und wohin derselbe kam, da war Freude und Fülle und eitel Friedensfest. Niemand durfte da streiten, keine Waffe durfte ergriffen werden. Das währte so lange, als die Göttin an einem Orte verweilte, und wenn sie nicht mehr weilen wollte, da führte der Priester sie zurück in ihr Heiligtum. Dann wurde in dem düstern See ihr Wagen, Gewande und ihr Bildnis gereinigt, und die Sklaven, welche dabei dienten, wurden in dem See geopfert, damit ihrer keiner je erzählte, was er geschaut. Die Sage geht, daß die Insel Rügen weder Wölfe noch Katzen dulde." (Lit.: Ludwig Bechstein, S 63, Der Herthasee)

Der geistige Hintergrund des Nerthus-Kults

Im Nerthus-Kult kommt die Tatsache zum Ausdruck, dass es einen Übergangszustand von der ungeschlechtlichen zur geschlechtlichen Fortpflanzung gab. Die Fortpflanzung wurde unbewusst vollzogen und deutete sich den Menschen nur ganz zart in Träumen an, solange sie noch im paradiesische Zustand waren. Diejenigen aber, die den Zeugungsakt schon bewusst erlebten, waren früher heruntergestiegen und gehörten damit zu den tieferstehenden Menschen. Im Nerthus-Kult entsprechen ihnen die den Zug der Nerthus begleitenden Sklaven, die nachher getötet werden.

Originaltext von Tacitus:

XL. Contra Langobardos paucitas nobilitat: plurimis ac valentissimis
nationibus cincti non per obsequium, sed proeliis ac periclitando tuti sunt.
Reudigni deinde et Aviones et Anglii et Varini et Eudoses et Suardones et
Nuithones fluminibus aut silvis muniuntur.
Nec quicquam notabile in singulis, nisi quod in commune Nerthum, id est terram
matrem, colunt, eamque intervenire rebus hominum, invehi populus arbitrantur.
Est in insula Oceani castum nemus, dicatumque in eo vehiculum, veste
contectum. Attingere uni sacerdoti concessum. Is adesse penetrali deam
intellegit vectamque bubus feminis multa cum veneratione prosequitur.
Laeti tunc dies, festa loca, quaecumque adventu hospitioque dignatur.
Non bella ineunt, non arma sumunt; clausum omne ferrum; pax et quies tunc
tantum nota, tunc tantum amata, donec idem sacerdos satiatam conversatione
mortalium deam templo reddat. Mox vehiculum et vestes et, si credere velis,
numen ipsum secreto lacu abluitur. Servi ministrant, quos statim idem lacus
haurit. Arcanus hinc terror sanctaque ignorantia, quid sit illud, quod
tantum perituri vident. (Lit.: Tacitus, Kap.40)

40 Dagegen macht die Langobarden ihre geringe Zahl berühmt: umgeben von zahlreichen sehr starken Völkern sind sie doch nicht durch Gehorsam, sondern durch Kämpfe und Wagnisse sicher. Von den Reudignern, Avionen, Anghern, Varinern, Eudosen, Suardonen und Nuitonen sind sie durch Flüsse und Wälder getrennt. Im Einzelnen ist von ihnen nichts bemerkenswertes, außer dass sie gemeinsam die Nerthus, die Mutter Erde, verehren und glauben, dass sie sich um die Angelegenheiten der Menschen kümmert, und sie meinen, dass sie zum Volk auf einem Wagen daher gefahren kommt. Auf einer Insel im Weltmeer ist ein heiliger Hain und auf diesem ein Wagen, der mit einem Tuch überdeckt ist; nur einem Priester ist es erlaubt, ihn zu berühren. Dieser erkennt, wenn die Göttin im Inneren ist, und begleitet sie, deren Wagen von Kühen gezogen wird, mit großer Ehrfurcht. Dann sind frohe Tage, alle Stätten sind festlicht geschmückt, die die Göttin mit ihrer Ankunft und ihrer Einkehr würdigt. Sie fangen keinen Krieg an und greifen nicht zu den Waffen; alles Eisen wird weggeschlossen; Ruhe und Frieden sind dann bekannt und beliebt, bis schließlich der selbe Priester die vom Umgang mit den Sterblichen müde Göttin dem Tempel zurück gibt. Bald werden der Wagen, das Tuch und, man möge es glauben, die Göttin selbst in einem entlegenen See gebadet. Dabei sind Sklaven behilflich, die dann der selbe See verschlingt. Ein geheimnisvoller Schrecken und heilige Unwissenheit herrschen, was dies für ein Wesen sei, das nur die Todgeweihten sehen dürfen.

„Nun gab es Zeiten der Menschheitsentwickelung, in denen wir eine Übergangsstufe sehen müssen. Da war das Bewußtsein für die physische Welt noch herabgedämpft. Und es war in diesem herabgedämpften Bewußtseinszustande, wo die Befruchtung eintrat. In den Zeiten des herabgedämmerten Bewußtseins, wenn der Mensch herausstieg aus der physischen Welt in die geistige Welt, da fand die Befruchtung statt, und der Mensch merkte sie nur durch einen symbolischen Traumesakt. In einer zarten, edlen Weise empfand er, daß Befruchtung eingetreten war im Schlafe, und nur ein zarter, wundersamer Traum, wie der Mensch zum Beispiel einen Stein warf und der Stein in die Erde fiel und dann aus der Erde eine Blume entstand, war im Bewußtsein des Menschen.

In dieser Zeit muß uns besonders interessieren, daß auch in Betracht kamen diejenigen, die schon früher eine spätere Stufe erreicht hatten. Wenn wir sagen, daß gewisse Wesen auf der Stierstufe stehen blieben, andere auf der Löwenstufe, andere auf der Adlerstufe und so weiter, was heißt denn das? Das heißt, wenn die Wesen hätten warten können und ihre ganze volle Liebe zur physischen Welt erst viel später hätten ausbilden wollen, dann würden sie Menschen geworden sein. Wenn der Löwe nicht zu früh hätte hineingewollt in die irdische Sphäre - er wäre Mensch geworden, ebenso die anderen bis dahin abgespaltenen Tiere. Sagen wir das noch einmal so: Alles das, was Mensch war zu der Zeit, als der Löwe sich bildete, sagte sich entweder: Nein, ich will die niederen Substanzen noch nicht aufnehmen, ich will nicht hinunter in die physische Menschheit - oder: Herunter will ich; ich will, daß das wird, was entwickelt ist.

Wir denken uns also zwei Wesenheiten; die eine bleibt noch oben im Luftätherreich und reicht nur in den irdischen Teilen herunter auf die Erde, die andere strebt danach, ganz auf die Erde hinunterzusteigen. Diese letztere wurde vielleicht Löwe, die erstere wurde Mensch. So wie die Tiere stehenblieben, so blieben nun auch Menschen stehen. Das waren nicht die besten Menschen, die zu früh Mensch wurden; die besseren haben warten können. Sie sind lange dabeigeblieben, nicht hinunterzusteigen auf die Erde, um da in Bewußtheit den Befruchtungsakt zu vollziehen; sie blieben in dem Erkennen, wo der Befruchtungsakt ein Traum war. Diese Menschen lebten, wie man sagt, im Paradiese. Und die Menschen, die am frühesten auf die Erde stiegen, würden wir finden mit besonders stark ausgebildeter Körperlichkeit, mit rohem, brutalem Gesichtsausdruck, während wir die Menschen, die erst die edleren Teile gestalten wollten, auch in einer viel menschlicheren Gestalt finden würden.

Das, was jetzt beschrieben worden ist, das hat sich in einer wundersamen Sage und einem Ritus erhalten. Bekannt ist der Ritus, der erwähnt wird bei Tacitus; die Sage von der Göttin Nerthus oder Hertha, die jedes Jahr hinuntertaucht in die Meeresnuten in einem Wagen. Diejenigen aber, die sie ziehen, müssen getötet werden. Nerthus wurde aufgefaßt, wie man das eben auffaßt, als irgendein aus der Phantasie heraus gestaltetes Phantom, als irgendeine Göttin, der man einen Kultus auf irgendeiner Insel errichtet haben soll. Die Nerthus-Stätte hat man zu erkennen geglaubt in dem Hertha-See auf Rügen. Dort glaubte man die Stelle, wo der Wagen eingetaucht sei, gefunden zu haben. Eine merkwürdige Phantasie. Der Name Hertha- See ist nämlich eine ganz neue Erfindung. Er hieß früher der schwarze See wegen seiner Färbung, und keinem Menschen fiel es ein, ihn Hertha-See zu nennen und ihn auf die Göttin zu beziehen. In Wahrheit liegt viel Tieferes in dieser Sage. Nerthus ist die Übergangsstufe der jungfräulichen Befruchtung zu der späteren Menschenfortpflanzung. Nerthus, die untertaucht in ein dämmerhaftes Bewußtsein, nimmt, wenn sie in das Meer der Leidenschaft versenkt wird, das nur in einem zarten, symbolischen Akt wahr; sie nimmt nur einen Abglanz davon wahr. Diejenigen aber, die in der Zeit, als die höhere Menschheit noch so empfand, heruntergestiegen waren, die waren schon der ursprünglichen Naivität verlustig gegangen; die sahen schon diesen Akt und waren für das höhere Menschheitsbewußtsein verloren, die waren todeswürdig.

Die Erinnerung an dieses Ereignis der Urzeit wurde im Ritus bewahrt in zahlreichen Gegenden Europas. Man vollzog zu gewissen Zeiten bei Erinnerungsfesten eine Zeremonie. Das war der Wagen des Nerthus-Bildes, das untertauchte in das Meer der Leidenschaft. Und man hatte sogar den grausamen Gebrauch: diejenigen, die dienen durften, die ziehen mußten, die da sehen konnten, die mußten Sklaven sein und wurden bei dem Ritus getötet, zum Zeichen, daß das die sterbliche Menschheit war, die diesen Akt sah. Nur die Priester, die eingeweiht waren, durften der Zeremonie unbeschadet beiwohnen. So sehen wir an diesem Beispiel, daß in jener Zeit, als man das, was hier erzählt wurde, in gewissen Gegenden kannte, in diesen Gegenden der Nerthus-Kult war. In diesen Gegenden war ein Bewußtsein vorhanden, das diese Sage und den Ritus gestaltete.“ (Lit.:GA 106, S. 105ff)

Literatur

  • Ludwig Bechstein: Deutsche Sagen, Werner Dausien, Hanau 1987
  • Publius Cornelius Tacitus: de origine et situ germanorum liber.
  • Rudolf Simek: Religion und Mythologie der Germanen. Darmstadt 2003.
  • Lotte Motz: The Godess Nerthus. A New Approach. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik. 1992. Bd. 36, S. 1 - 19.
  • A. Hultgård: Nerthus und Nerthuskult. In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Berlin 2002.
  • Rudolf Steiner: Ägyptische Mythen und Mysterien, GA 106 (1992)
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