Hingabe

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Hingabe, etwa im religiösen Erleben, an ein geliebtes Wesen, oder auch nur die passive Hingabe an den Strom des Daseins, ist eine Fähigkeit, die auf dem geistigen Schulungsweg unbegrenzt gesteigert muss. Es gelingt dadurch, die Sprachkraft vom physischen Leib loszulösen. Wenn durch den Verzicht, d.h. durch die Hingabe des Eigenwillens der Geisteswille zu sprechen beginnt, erwacht im sprechenden Hören und hörenden Sprechen das geistige Hören, die Inspiration.

"Wir kennen sie, diese Hingabe. Sie verfließt eigentlich nur zwischen den Zeilen des gewöhnlichen Lebens. Der Geistesforscher muß diese Kraft ins Unendliche steigern; unbegrenzt muß er sie erkraften. Er muß in der Tat dem Strom des Daseins so hingegeben sein können, wie er sonst nur hingegeben ist diesem Strom des Daseins — ohne selbst etwas dazu zu tun zu dem, was er erlebt - im tiefen Schlaf, wenn alle Regsamkeit seiner Glieder ruht, wenn alle Sinne schweigen, wenn der Mensch nur ganz hingegeben ist und nichts tut; aber dann ist er im Schlaf in die Bewußtlosigkeit verfallen. Wenn sich aber der Mensch durch innere Willkür dazu aufraffen kann, immer wieder und wiederum es als Übung seiner Seele zu machen, daß er alle Sinnestätigkeit unterdrückt, daß er alle Regsamkeit der Glieder unterdrückt, daß er sein physisch-sinnliches Leben versetzt in einen Zustand, wie es sonst nur im tiefen Schlafe ist, dabei aber wach bleibt, vollständig sein inneres Bewußtsein licht erhält und das Gefühl, die Empfindung entwickelt, eingegossen zu sein dem Strom des Daseins, nichts zu wollen als das, was die Welt mit einem will: wenn er dieses Gefühl immer wieder und wiederum hervorruft, wenn er es aber hervorruft abgesondert von der Aufmerksamkeit[1], dann erkraftet sich die Seele gerade immer mehr und mehr.

Nur müssen die beiden Übungen - die mit der Aufmerksamkeit und die mit der Hingabe - abgetrennt voneinander gemacht werden; denn sie widersprechen einander. Hat die Aufmerksamkeit erfordert höchste Anspannung, Konzentration nach einem Objekte hin — die vertiefte Meditation -, so erfordert Hingabe, passive Hingabe an den Strom des Daseins, unermeßliche Steigerung desjenigen Gefühls, das wir finden im religiösen Erleben oder in sonstiger Hingabe an ein geliebtes Wesen. Die Früchte, die der Mensch aus solch unermeßlicher Steigerung der Hingabe und der Aufmerksamkeit schöpft, sind eben, daß er sein geistig-seelisches Leben heraussondert aus dem Physisch-Leiblichen. Und so kann die Kraft, die sonst in das Wort sich ausgießt, die dadurch sich betätigt, daß sie nicht in sich stehen bleibt, sondern die Nerven in Bewegung versetzt, diese Kraft kann abgetrennt werden von der äußeren Sprachbetätigung, kann im Seelisch-Geistigen in sich selber bleiben. Da wird die Sprachkraft - so können wir sie nennen - aus ihrem Sinnlich-Physischen herausgerissen, und der Mensch erlebt dasjenige, was man mit einem Goetheschen Wort das geistige Gehör, das geistige Hören nennen kann.

Wiederum ist es so, daß der Mensch sich erlebt außerhalb seines Leibes, aber jetzt so, daß er untertaucht in die Dinge und das innere Wesen der Dinge wahrnimmt; aber auch so wahrnimmt, daß er es in sich selber nachbildet, wie mit einer inneren Gebärde, nicht bloß wie mit einer Miene, sondern mit innerer Gebärde, wie mit einer inneren Geste. Das aus dem Leib herausgerissene Seelisch-Geistige betätigt sich so, wie wenn wir versucht sind, durch eine besondere Anlage in bezug auf unser Nachahmungstalent, das durch unsere Geste auszudrücken, was uns beschäftigt. Was da nur durch besondere Anlagen gemacht wird, das macht die aus dem Leib herausgerissene Seele, um wahrzunehmen. Sie taucht unter in die Dinge, und was für Kräfte da drinnen spielen, das bildet sie aktiv nach. All dieses Wahrnehmen in der geistigen Welt ist ein Sich-Betätigen, und indem man die Tätigkeit wahrnimmt, in die man sich versetzen muß, weil man nachbildet das innere Weben und Wesen der Dinge, nimmt man diese Dinge wahr. In der äußeren sinnlichen Welt ist das Hören passiv, wir hören zu. - Sprechen und Hören fließen wie zusammen im geistigen Hören. Wir tauchen unter in das Wesen der Dinge; wir hören ihr inneres Weben. Was Pythagoras die Sphärenmusik genannt hat, ist etwas, was der Geistesforscher wirklich erreichen kann. Er taucht unter in die Dinge und Wesen der geistigen Welt und hört, aber hört, indem er ausspricht. Ein sprechendes Hören, ein hörendes Sprechen im Untertauchen in das Wesen der Dinge ist das, was man erlebt. Die wahre Inspiration ist es, die sich also ergibt." (Lit.: GA 153, S. 20ff)

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Anmerkungen

  1. Wird die Aufmerksamkeit durch geistige Schulung unbegrenzt gesteigert, bildet sich die Fähigkeit zur Imagination.