Eric Kandel

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Eric Kandel in Wien bei der Langen Nacht der Forschung

Eric Richard Kandel (* 7. November 1929 in Wien) ist ein US-amerikanischer Psychiater, Physiologe, Neurowissenschaftler, Verhaltensbiologe und Biochemiker österreichischer Herkunft. Er wurde im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet.

Leben

Gedenktafel für NS-Opfer am Haus Wien 9., Severingasse 8, darunter auch die Familie Kandel (enthüllt am 26. April 2018)

Eric Kandel wurde 1929 als zweiter Sohn des Spielwarenhändlers Hermann Kandel und dessen Frau Charlotte, geb. Zimels, in Wien geboren. Die Familie wohnte am Alsergrund, im 9. Bezirk der Stadt, in der Severingasse 8 unweit des Technologischen Gewerbemuseums, einer höheren technischen Schule.[1] Nach dem „Anschluss“ Österreichs durch die Nationalsozialisten 1938 hatte Eric massive Probleme im Alltag: In der Schulklasse sprach kein Kind mehr mit ihm, dem Juden. 1939 musste Kandel mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten emigrieren, da der Antisemitismus in Österreich lebensbedrohlich geworden war. „Ich hatte Furcht davor, die Straße zu überqueren, aber ich ging mit meinem 14-jährigen Bruder über den Atlantik!“, berichtete er 2009 im deutschen Fernsehen.

Den Rest seiner Grundschulzeit verbrachte er auf der Jeschiwa in Flatbush, einem Stadtteil von New York, bis er 1944 auf die Erasmus Hall High School in Brooklyn übertrat, wo er begann, sich für Geschichte und Literatur zu interessieren. Dort wurde ihm als einem von zwei Schülern, die unter mehr als 1.400 Bewerbern ausgewählt wurden, ein Stipendium für ein Studium an der Harvard University bewilligt. 1945 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Zu den Neurowissenschaften kam Kandel über eine befreundete Kommilitonin, deren Eltern überzeugte Anhänger der Freudschen Theorie zur Psychoanalyse waren. So war Sigmund Freud die Ursache für Kandels Interesse an der Biologie der Motivation sowie des bewussten und unbewussten Gedächtnisses. Er war schon als Psychoanalytiker, wie Freud selbst, der Auffassung, dass alle psychischen Vorgänge und Symptome letztlich physiologische Vorgänge im Gehirn sind. Entsprechend beschäftigt er sich unter anderem auch schon immer mit der Frage, wie eine erfolgreiche psychoanalytische Behandlung das Gehirn verändert.

Forschung

Im Herbst 1952 wechselte Kandel auf die New York University, um dort Medizin zu studieren und schließlich Psychiater und Psychoanalytiker zu werden. Gegen Ende seiner Studienzeit entschied er sich jedoch, anders als die meisten anderen Psychiater seiner Zeit, nicht die psychologischen, sondern die biologischen Vorgänge des Gehirns genauer zu untersuchen und zu erforschen. In dieser Zeit lernte er seine zukünftige Frau Denise Bystryn kennen.

Wenige Zeit später begann er, an der Columbia University im Labor des Neurobiologen Harry Grundfest zu forschen. Die anderen Forscher, mit denen Kandel dort zusammenarbeitete, waren mit Überlegungen über die technisch sehr komplizierte Aufzeichnung elektrischer Aktivität der relativ kleinen Neuronen der Gehirne von Wirbeltieren beschäftigt.

Nachdem er angefangen hatte, sich durch das schwierige Gebiet der Elektrophysiologie der Großhirnrinde zu arbeiten, war er von dem Fortschritt, den Stephen W. Kuffler mit einem durch Experimente zugänglicheren System machte, sehr beeindruckt. Dieser isolierte Neuronen von marinen Wirbellosen, um sie dann weiterzuverwenden.

1957 wechselte Kandel zum Laboratory of Neurophysiology des National Institutes of Health und fuhr dort mit seinen Arbeiten zu elektrophysiologischen Aufzeichnungen bei Neuronen aus der Region des Hippocampus fort, speziell, um herauszufinden, ob der Hippocampus am Prozess des Speicherns von Erinnerungen im Gehirn und des Sich-Erinnerns direkt beteiligt ist. Allerdings konnte er keine Anhaltspunkte dafür finden, dass der Hippocampus für die Erinnerungsfähigkeit des Menschen verantwortlich ist. Er erkannte, dass das Gedächtnis mit den synaptischen Verbindungen zwischen den Neuronen zusammenhängen musste und dass der Hippocampus mit seinen komplexen Verflechtungen nicht gut dazu geeignet war, die genaue Funktion der Synapsen zu erforschen. Er wusste außerdem aus vergleichbaren Verhaltensstudien beispielsweise von Konrad Lorenz, Nikolaas Tinbergen und Karl von Frisch, dass alle Tiere über eine zumindest geringe Lernfähigkeit verfügten. So entschied er sich, seine Versuche an einer weniger komplexen Tierart durchzuführen, um so seine elektrophysiologischen Analysen an Synapsen zu vereinfachen. Er glaubte, die Ergebnisse seiner Studien dann auf den Menschen und sein Gehirn übertragen zu können. Diese Entscheidung war nicht risikolos, da viele – vor allem ältere – Biologen meinten, dass durch das Studium der Physiologie der Wirbellosen nicht viel über die menschliche Erinnerungsfähigkeit herausgefunden werden könne.

Von 1960 bis 1965 arbeitete Kandel an der Harvard Medical School in Boston in der Psychiatrie.[2]

Aplysia californica

Aplysia, eine Meeresschnecke, mit der Kandel Forschungen betrieb

1962 ging Kandel nach Paris, um sich dort mit dem Kalifornischen Seehasen (Aplysia californica), einer Meeresschnecke, zu beschäftigen. Er hatte festgestellt, dass einfache Formen des Lernens wie beispielsweise die Sensitivierung sowie klassische und operante Konditionierung auch an einzelnen Ganglia der Aplysia untersucht werden können.

Während das Verhalten einer einzelnen Ganglienzelle beobachtet wird, könnte ein Axon, das zum Ganglion führt, leicht stimuliert werden und so als taktiler Stimulus agieren, während ein anderes Axon als Schmerz-Stimulus verwendet werden könnte. Dabei müsste der sonst bei natürlichen Stimulationen bei Wirbeltieren befolgte Ablauf eingehalten werden.

Elektrophysiologische Veränderungen, die von den zusammenwirkenden Stimuli ausgelöst werden, könnten dann auf spezifische Synapsen zurückgeführt werden. 1965 veröffentlichte Kandel die Ergebnisse seiner Studien.

New York Medical School

Später übernahm Kandel einen Posten im Department of Physiology and Psychiatry der New York Medical School, wo er mithalf, die Abteilung für Neurobiologie und Verhaltenswissenschaften aufzubauen. Hier begann er mit einigen Kollegen Forschungen zu Kurz- und Langzeitgedächtnis.

1981 gelang es den Mitgliedern der Forschergruppe, das Aplysia-System auf eine Studie über klassische Konditionierung auszuweiten, was letztendlich half, die Lücke, welche sich zwischen den einfachen Formen des Lernens, die mit weniger entwickelten Tieren wie den Wirbellosen in Verbindung gebracht wurde, und den komplexeren Lernvorgängen der Wirbeltiere aufgetan hatte, zu schließen.

Neben der fundamentalen Verhaltensforschung beobachteten die Forscher auch die Vernetzung der verschiedenen Nervenzellenarten, die in den Lernprozess verwickelt sind. Dies erlaubte eine genaue Analyse der Synapsen, die durch das Lernen bei Tieren verändert werden. Die Laborergebnisse unterstützten die These, dass Lernen eine funktionale Veränderung der Effektivität bereits zuvor vorhandener Verknüpfungen sei.

Molekulare Veränderungen beim Lernprozess

Seit 1966 arbeitete James Schwartz mit Kandel an einer biochemischen Analyse von Veränderungen in Nervenzellen, die mit dem Lernen und der Erinnerung zu tun haben. Zu dieser Zeit war bekannt, dass eine Speicherung von Dingen im Langzeitgedächtnis, anders als im Kurzzeitgedächtnis, die Herstellung von speziellen Eiweißen voraussetzt. 1972 kamen sie zu der Erkenntnis, dass in den Ganglien der Aplysia unter Bedingungen, die die Speicherung im Kurzzeitgedächtnis hervorrufen, der Second Messenger cAMP hergestellt wird. 1974 wurde herausgefunden, dass der Neurotransmitter Serotonin, der an der Herstellung von cAMP beteiligt ist, molekular direkt zu einer Sensibilisierung gegen einen bestimmten Reflex führen kann.

1983 half Kandel, das Howard Hughes Medical Institute für molekulare Neurowissenschaften der Columbia University aufzubauen. Mit seinen Laborkollegen fuhr er fort, die Proteine zu identifizieren, die herzustellen sind, um Kurzzeitgedächtnis in Langzeitgedächtnis umzuwandeln. In Zusammenarbeit mit anderen Forschern wurde der Transkriptionsfaktor CREB (engl. cAMP response element binding protein) entdeckt und seine Rolle als ein zum Langzeitgedächtnis beitragendes Protein erwiesen. Eine Folge der Aktivierung von CREB ist eine Steigerung der Zahl synaptischer Verbindungen. Daraus wurde gefolgert, dass das Kurzzeitgedächtnis eine Folge von funktionalen Veränderungen in bereits existierenden Synapsen ist und das Langzeitgedächtnis aus einer Änderung in der Gesamtzahl der Synapsen hervorgeht.

Einige der synaptischen Veränderungen, die in Kandels Labor entdeckt wurden, sind Beispiele für Lernvorgänge nach der Hebbschen Regel. So beschreibt eine der Publikationen (Activity-dependent presynaptic facilitation and hebbian LTP are both required and interact during classical conditioning in Aplysia) die Rolle Hebbschen Lernens beim Aplysia siphon-withdrawal reflex.

Außerdem wurden in dem Labor bedeutende Versuche mit künstlich genmutierten Mäusen zur Suche nach der molekularen Basis für Erinnerungsfähigkeit im Hippocampus von Wirbeltieren durchgeführt. Kandels ursprüngliche Vermutung, dass bestimmte Lernmechanismen sich bei allen Lebewesen zeigen, hat sich als richtig erwiesen. Es wurde festgestellt, dass Neurotransmitter, Second Messenger, Proteinkinasen, Ionenkanäle und Transkriptionsfaktoren wie CREB sowohl bei Wirbeltieren als auch bei Wirbellosen an Lern- und Speicherungsvorgängen beteiligt sind.

Schriften

  • Cellular basis of behavior: an introduction to behavioral neurobiology. Freeman, San Francisco 1976.
  • Behavioral biology of Aplysia: A Contribution to the Comparative Study of Opisthobranch Molluses. Freeman, San Francisco 1979.
  • Hrsg. mit James H. Schwartz, Thomas M. Jessell, Steven A. Siegelbaum, and A. J. Hudspeth: Principles of neural science. 5. Auflage, 1760 Seiten, McGraw-Hill, New York 2013, ISBN 978-0-07-139011-8. (Zuerst erschienen 1981 bei Elsevier.)
  • Molecular neurobiology in neurology and psychiatry. Raven, New York 1987.
  • Hrsg. mit James H. Schwartz, Thomas M. Jessel: Essentials of neural science and behavior. Appleton & Lange, Norwalk 1995.
    • Neurowissenschaften: eine Einführung. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin/Oxford 1996, ISBN 3-86025-391-3.
  • Mit Larry R. Squire: Memory. From Mind to Molecules. Scientific American Library, New York 1999.
    • Gedächtnis. Die Natur des Erinnerns. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin/Oxford 1999, ISBN 3-8274-0522-X.
  • In search of memory: the emergence of a new science of mind. Norton, New York 2006.
    • Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. Siedler, München 2006, ISBN 3-88680-842-4.
  • Psychiatry, psychoanalysis and the new biology of mind. American Psychiatric Publishing, Washington 2005.
    • Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-518-58451-0.
  • The age of insight: the quest to understand the unconscious in art, mind, and brain, from Vienna 1900 to the present. Random House, New York 2012.
    • Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. Siedler, München 2012, ISBN 3-88680-945-5.

Literatur

  • Gerhard Danzer: Eric Kandel. In: Ders.: Wer sind wir? Auf der Suche nach der Formel des Menschen: Anthropologie für das 21. Jahrhundert – Mediziner Philosophen und ihre Theorien, Ideen und Konzepte. Springer, Berlin/Heidelberg/New York 2011, ISBN 978-3-642-16992-2, S. 475–486.
  • The arts, sciences, and literature (= International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945. Bd. 2). Hrsg. v. Herbert A. Straus, Werner Röder. Saur, München 1983, ISBN 3-598-10089-2, Tl. 1, S. 590.

Filmografie

Weblinks

Commons: Eric Kandel - Weitere Bilder oder Audiodateien zum Thema
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Einzelnachweise

  1. Oona Kroisleitner: Ein Andenken an Leid und Unrecht am Alsergrund, in: Tageszeitung Der Standard, Wien, 22. August 2016, S. 9
  2. Nobelprize.org: Curriculum vitae.
  3. Filmfonds-Wien (Memento vom 6. Juni 2008 im Internet Archive) Petra Seeger: Auf der Suche nach dem Gedächtnis – Der Hirnforscher Eric Kandel, TV-Dokumentation 2008.
Dieser Artikel basiert (teilweise) auf dem Artikel Eric Kandel aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Lizenz Creative Commons Attribution/Share Alike. In Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.