Einzig mögliche Kritik der atomistischen Begriffe

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Einzig mögliche Kritik der atomistischen Begriffe ist der Titel eines Aufsatzes, den Rudolf Steiner schon als 21-jähriger Student geschrieben und im Juni 1882 an Friedrich Theodor Vischer gesandt hat. Steiner äußert darin seine fundamentale Kritik an dem ihm in sich widersprüchlich erscheinenden Atom-Begriff.

„Wie auch die Meinungen im einzelnen auseinandergehen mögen, zuletzt kommt doch der Atomismus darauf hinaus, alle sinnlichen Qualitäten als: Ton, Wärme, Licht, Geruch usw., ja, wenn man auf die Art und Weise sieht, wie die mechanische Wärmetheorie das Mariottesche Gesetz ableitet, sogar den Druck als bloßen Schein, bloße Funktion der Atomenwelt anzusehen. Das Atom allein gilt als letzter Wirklichkeitsfaktor. Diesem muß man nun folgerichtig jede sinnliche Qualität absprechen, weil sonst ein Ding aus sich selbst erklärt würde. Man hat zwar, wenn man daran ging, ein atomistisches Weltsystem aufzubauen[1], dem Atome allerlei sinnliche Qualitäten, obwohl nur in ganz spärlicher Abstraktion, beigelegt. Bald betrachtet man dasselbe als ausgedehnt und undurchdringlich, bald als bloßes Kraftzentrum usw. Damit beging man aber die größte Inkonsequenz und zeigte, daß man das Obige, welches ganz klar zeigt, daß überhaupt gar keine sinnlichen Merkmale dem Atome beigelegt werden dürfen, nicht bedacht hat. Die Atome müssen eine der sinnlichen Erfahrung unzugängliche Existenz haben. Andrerseits sollen aber auch sie selbst und auch die in der Atomwelt vor sich gehenden Prozesse, speziell Bewegungen, nichts bloß Begriffliches sein. Der Begriff ist ja bloß Allgemeines, das ohne räumliches Dasein ist. Das Atom soll aber, wenn auch nicht selbst räumlich, doch im Raume da sein, doch etwas Besonderes darstellen. Es soll in seinem Begriffe noch nicht erschöpft sein, sondern über denselben hinaus eine Form der Existenz im Raume haben. Damit ist in den Begriff des Atomes eine Eigenschaft aufgenommen, die ihn vernichtet. Es soll analog den Gegenständen der äußeren Wahrnehmung existieren, doch nicht wahrgenommen werden können. In seinem Begriffe ist die Anschaulichkeit zugleich bejaht und verneint.

Außerdem kündigt sich das Atom sofort als ein bloßes Produkt der Spekulation an. Wenn man von den vorhin erwähnten, demselben ganz ungerechtfertigterweise beigelegten sinnlichen Qualitäten absieht, so bleibt für dasselbe nichts mehr übrig als das bloße «Etwas», das natürlich unveränderlich ist, weil an ihm nichts ist, also auch nichts zerstört werden kann. Der Gedanke des bloßen Seins, der in den Raum versetzt wird, ein bloßer Gedankenpunkt, im Grunde nur das beliebig vervielfachte Kantische «Ding an sich» tritt uns entgegen.

Man könnte dagegen etwa einwenden, daß es denn doch ganz gleichgültig sei, was unter Atom verstanden wird, man solle den Naturhistoriker ruhig damit operieren lassen - denn zu vielen Aufgaben der mathematischen Physik sind ja atomistische Vorstellungen doch vom Vorteile - ; der Philosoph wisse ja schließlich doch, daß man es nicht mit einer räumlichen Realität zu tun hat, sondern mit einer Abstraktion gleich andern mathematischen Vorstellungen. Gegen die Annahme des Atomes in dieser Hinsicht sich zu wenden, wäre allerdings verfehlt. Aber darum handelt es sich nicht. Es ist den Philosophen um jenen Atomismus zu tun, dem Atom und Kausalität[2] die einzig möglichen Triebfedern der Welt sind, der entweder alles nicht Mechanische leugnet oder doch als über unser Erkenntnisvermögen hinausgehend für unerklärlich hält[3]. Es ist ein anderes, das Atom als bloßen Gedankenpunkt anzusehen, ein anderes, darinnen das Grundprinzip alles Daseins sehen zu wollen. Der erstere Standpunkt geht mit demselben nie über die mechanische Natur hinaus, der zweite hält alles für eine mechanische Funktion. Wer von der Unschädlichkeit der atomistischen Vorstellungen sprechen wollte, dem könnte man ruhig die Konsequenzen, welche aus denselben gezogen worden sind, vorhalten, um ihn zu widerlegen. Es sind vorzüglich zwei notwendige Konsequenzen: erstens, daß das Prädikat der ursprünglichen Existenz an weiter ganz unbestimmte, gegeneinander schlechthin gleichgültige geistlose Einzelsubstanzen verschwendet wird, in deren Wechselwirkung nur mechanische Notwendigkeit herrscht, so daß die ganze übrige Erscheinungswelt als leerer Dunst derselben besteht und dem bloßenZufall das Entstehen verdankt; zweitens ergeben sich daraus unüberschreitbare Grenzen unseres Erkennens. Für den menschlichen Verstand ist, wie wir gezeigt haben, der Begriff des Atomes etwas ganz Leeres, das bloße «Etwas». Da aber mit diesem Inhalte die Atomisten sich nicht zufrieden geben können, sondern einen tatsächlichen Gehalt verlangen, diesen aber so bestimmen, wie er nirgends gegeben werden kann, so müssen sie die Unerkennbarkeit des eigentlichen Wesens des Atomes proklamieren.

Bezüglich der anderen Grenze des Wissens ist folgendes zu bemerken. Wenn man das Denken auch als eine Funktion der Wechselwirkung gleichgültig gegeneinander bleibender Atomkomplexe ansieht, so ist durchaus nicht zu verwundern, warum der Zusammenhang zwischen Bewegung der Atome einer-, Denken und Empfindung andrerseits nicht zu begreifen ist[4], welches der Atomismus daher als eine Grenze unserer Erkenntnis ansieht. Allein zu begreifen ist nur da etwas, wo ein begrifflicher Übergang besteht. Wenn man aber vorher die Begriffe so begrenzt, daß in der Sphäre des einen sich nichts findet, was den Übergang in die Sphäre des andern ermöglichen würde, so ist das Begreifen von vorneherein ausgeschlossen. Außerdem müßte dieser Übergang ja nicht bloß spekulativer Natur, sondern er müßte ein realer Prozeß sein, sich also demonstrieren lassen. Dies wird aber wieder durch die Unsinnlichkeit der atomistischen Bewegung verhindert. Mit dem Aufgeben des Atombegriffes fallen diese Spekulationen über die Grenze unseres Wissens von selbst weg. Man muß sich vor nichts mehr als solchen Grenzbestimmungen hüten, denn jenseits der Grenze ist dann für alles mögliche Platz. Der vernunftwidrigste Spiritismus ebensosehr wie das unsinnigste Dogma könnte sich hinter solchen Annahmen verstecken. Dieselben sind in jedem einzelnen Falle ganz leicht zu widerlegen, indem man zeigt, daß immer der Fehler zugrunde liegt, eine bloße Abstraktion für mehr anzusehen als sie ist, oder bloß relative Begriffe für absolute zu halten und ähnliche Irrtümer. Eine große Anzahl falscher Vorstellungen ist namentlich durch die unrichtigen Begriffe von Raum und Zeit in Umlauf gekommen[5].“ (Lit.: Beiträge 63, S. 7ff))

Verfehlt schien Steiner dabei auch, Raum und Zeit als von den sinnlichen Dingen und Prozessen abgesonderte Entitäten zu betrachten:

„Der Raum, abgesehen von den Dingen der Sinnenwelt, ist ein Unding. Wie der Raum nur etwas an den Gegenständen, so ist auch die Zeit nur an und mit den Prozessen der Sinnenwelt gegeben. Sie ist denselben immanent. An sich sind beide bloße Abstraktionen. Konkrete Gebilde der Sinnenwelt sind nur die sinnlichen Dinge und Prozesse. Sie stellen Begriffe und Gesetze in Form äußeren Daseins vor. Daher müssen sie in ihrer einfachsten Form Grundpfeiler der empirischen Naturlehre sein. Die einfache sinnliche Qualität und nicht das Atom, die Grundtatsache und nicht die hinterempirische Bewegung sind die Elemente derselben. Damit ist ihr eine Richtung gegeben, welche die einzig mögliche ist. Wenn man sich darauf stützt, wird man gar nicht versucht werden, von Grenzen des Erkennens zu sprechen, weil man es nicht mit Dingen zu tun hat, denen man willkürliche negative Merkmale wie übersinnlich und dergleichen beilegt, sondern mit wirklich gegebenen konkreten Gegenständen.“ (S. 10))

Noch schärfer hat sich Rudolf Steiner in dem 1890 geschriebenen Aufsatz «Die Atomistik und ihre Widerlegung» gegen die Auffassung gewendet, dass Atome real existierende Objekte seien, wohingegen die unmittelbar erlebbaren Sinnesqualitäten bloß subjektive Erscheinungen wären: In Wahrheit wäre es genau umgekehrt.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. Hierher gehören die Andeutungen, welche Du Bois-Reymond über ein solches System gibt, sowie die ausgeführten Versuche von Wießner, Schrann u. a.
  2. * Vergleiche Vischer, Altes und Neues, 2. Teil.
  3. Diese Ansicht vertritt Du Bois-Reymond in «Über die Grenzen des Naturerkennens» und «Die sieben Welträtsel», Leipzig 1882.
  4. Du Bois-Reymond: «Ober die Grenzen des Naturerkennens (s. S. 7, Fußnote).
  5. Friedrich Theodor Vischer sprach wiederholt von der Notwendigkeit einer Korrektur unseres Zeitbegriffes. So schreibt er etwa in einer Besprechung des Buches „Der alte und der neue Glaube“ von David Friedrich Strauß bezüglich der Evolutionslehre Darwins:

    „Wird die Ansicht Darwins auf alles Werden von Arten im Pflanzen- und Tierreich ausgedehnt, so ist der Begriff der Entwicklung und inneren Zweckmäßigkeit aufgehoben. Denn durch Anpassung, Zuchtwahl und Kampf ums Dasein entsteht Zweckmäßiges nur hinten nach; die Vorstellung ist im Grunde mechanisch, es werden nach ihr nur durch eine Art Reibung Formen hervorgebracht, die sich, nachdem sie da sind, als zweckmäßig erweisen. Von Entwicklung kann man nur dann sprechen, wenn man die Natur als unbewusste Künstlerin betrachtet, welcher ein Bild dessen, was entstehen soll, irgendwie vorschwebt, ehe es entsteht. Soll mit jener Ansicht der Begriff der Entwicklung, der immanenten Zweckmäßigkeit vereinbar sein, so müsste das durch eine ganz neue Untersuchung des Begriffs der Zeit bewiesen, d. h. es müsste auf die zeitlose Zeit rekurriert und daraus abgeleitet werden, dass Vorher und Nachher in dieser Frage ungültige Kategorien seien, dass also, wenn Zweckmäßiges nur aposteriorisch, ohne einen Geist in der Natur entsteht, der durch eine Intuition von vornherein darauf hinarbeitet, dies doch auch ebenso gut apriorisch heißen könne; - eine Untersuchung von höchster Schwierigkeit, von der ich zweifle, ob sie beweisen würde, was zu beweisen ist.“ (Lit.: Friedrich Theodor Vischer: Der alte und der neue Glaube, in: Kritische Gänge, Erster Band, Herausgegeben von Robert Vischer, Zweite, vermehrte Ausgabe, Meyer & Jessen Verlag, München 1922, S. 289f. archive.org)