Arete

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Arete als Index für das Heldenideal. Statue eines jungen Soldaten, Arch. Museum Agrigent

Der Begriff Arete (griech. ἀρετή) bezeichnete ursprünglich die Eigenschaft, wodurch eine Sache, ein Tier, ein Mensch oder ein Gott hervorragt.[1] Die Bedeutung des Wortes bestimmt sich durch seine Funktion als abstraktes Nomen zum logisch attributiv verwandten agathos (gut).[2] Es handelt sich um die Tüchtigkeit und Tauglichkeit im Sinne eines Qualitätsmerkmals.[3] Sokrates hat den Begriff in der philosophischen Ethik in einer ähnlichen Bedeutung wie Tugend verwendet. Im Gegensatz zum deutschen Begriff der Tugend können auch Dinge Arete haben. Beispiele für areté sind demnach auch die Schnelligkeit eines Pferdes oder die Schärfe eines Messers. Die Arete eines jeden Dinges besteht in dem, wodurch es seine je eigene Aufgabe erfüllt. Das Wort meint damit zunächst jede Vortrefflichkeit. Auf den Menschen bezogen ist Arete die Vollendung seines wahren Wesens, die Vollkommenheit seines Körpers bei gleichzeitiger „Bestform“ seiner Seele.

Ursprung

Arete als Leistungsfähigkeit, ein ritterliches Ideal im antiken Athen. Amphore um 550 v. Chr.

Die Etymologie des Wortes Arete ist bislang ungeklärt.[4] Vermutlich ist Arete sprachlich abgeleitet von areskein, was „gefallen“ bedeutet. Der Begriff umfasst das, was objektiv allgemeines Gefallen hervorruft.[5] Der Ursprung des Wortes Arete wurzelt in den Grundanschauungen des ritterlichen Adels im Athen der Antike, da die überragende Leistungsfähigkeit als notwendige Voraussetzung für die Ausübung von Herrschaft verstanden wurde.[6] Zur Arete eines Helden zählten beispielsweise praktische Klugheit, Stärke, Tapferkeit, Streben nach Ruhm und kriegerischer Erfolg, der letztlich auf dem unbedingten Willen beruhte, besser als die anderen sein zu wollen und Entbehrungen, Schmerzen und Strapazen auf sich zu nehmen.

Bei Homer bezeichnet der Begriff auch die Vorzüglichkeit nichtmenschlicher Wesen wie die Schnelligkeit der Pferde oder die Kraft der Götter. Die Sehkraft ist die Arete des Auges. Auffassungsgabe und Klugheit sind Arete des Geistes, Schönheit, Gesundheit und Stärke sind Arete des Körpers. Arete ist demnach ein dem Träger innewohnendes Vermögen, das seine Vollkommenheit ausmacht.[7] Arete zu haben galt als ein Mittel zum Glück, als eine Bedingung des Glücks oder gar als das Ganze des Glücks.[8]

Sittliche Arete

Sittliche Arete ist die Vollendung dessen, was der Mensch nach seinem wahren Wesen wirklich ist. Die Vollkommenheit des Menschen liegt vor allem in der Schönheit seiner Seele (kalokagathia als Einheit von Schönem, Gutem und Wahrem). Es geht darum, das Schöne sich selbst zu eigen zu machen. In der Ethik bezeichnet Arete deshalb das sittlich Werthafte. Zur sittlichen Arete gehören die besonderen Eigenschaften der Gerechtigkeit, Tapferkeit, Weisheit und Besonnenheit.

Sokrates

Sokrates

Nach Sokrates liegt die Arete in der guten Verfassung der Seele, nicht in der des Körpers. Er vertraute insoweit auf das Wissen: Die sittliche Arete ist lehrbar. Wer das Gute wahrhaft erkannt hat, der handelt auch danach. Niemand verhält sich wissentlich schlecht, da es gegen seine Glückseligkeit wäre. Arete macht glücklich. Die Untersuchungen des Sokrates kreisten deshalb meist um Fragen der Ethik: Was ist Frömmigkeit? Was ist Selbstbeherrschung? Was ist Besonnenheit? Was ist Tapferkeit? Was ist Gerechtigkeit? Diese Aretai verstand Sokrates als Vortrefflichkeiten der Seele, so wie Kraft, Gesundheit und Schönheit Tugenden des Körpers sind. Im Guten erkannte Sokrates das wahrhaft Nützliche, Heilsame und Glückbringende, weil es die Natur des Menschen zur Erfüllung seines Wesens führt. Das Ethische ist der Ausdruck der richtig verstandenen menschlichen Natur. Frei ist der Mensch nur, wenn er nicht der Sklave seiner Begierden ist.[9]

„Und ich für meinen Teil glaube, dass noch nie dem Staat etwas Besseres widerfahren ist als dieser Dienst, den ich dem Gott leiste. Denn nichts anders tue ich, als dass ich umhergehe, um Jung und Alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen mehr zu sorgen als für die Seele, damit diese aufs beste gedeihe. Und ich sage euch, dass nicht aus dem Reichtum die Arete entsteht, sondern aus der Arete der Reichtum und alle anderen guten Dinge für den Menschen insgesamt, individuelle und gemeinschaftliche.“

Apologie des Sokrates[10]

Platon

Platon. Altes Museum, Berlin

Für Platon ist Arete die „Realisation des Wesens einer Sache und Zustand ihres eigentümlichen, bestimmten Selbstseins, in dem sie zu einer spezifischen Aufgabe, Leistung und einem Werk tauglich ist“.[11] Dies gilt zunächst für alle Gegenstände und Lebewesen. Für den Menschen ist sie die aktive Nachahmung Gottes, die durch Vernunftanstrengung vollzogen werden kann.[12] Arete ist sittlich die Tüchtigkeit der Seele zu der ihr eigenen Bestimmung. Sie gliedert sich, je nach den Seelenteilen, in die vier Kardinaltugenden:

  1. Weisheit (sophia)
  2. Tapferkeit (andreia)
  3. Maßhalten bzw. Besonnenheit, Selbstbeherrschung (sôphrosynê)
  4. Gerechtigkeit (dikaiosynê)

Dabei ist Gerechtigkeit die harmonische Ordnung der drei Seelenbereiche und die ausgewogene Realisierung von Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit. Auch die Frömmigkeit (hosiotês) wird von Platon zu den sittlichen Aretai gezählt. Jede Arete existiert selbst als Urbild (Ideenlehre) und ist werthaft und wahrhaft seiend.[1]

Um Gutes zu leisten muss die Seele wie eine Lyra richtig gestimmt sein. Die drei Seelenbereiche logisitikon (Vernunft), thymoeides (das Mutartige, Aggressionstrieb) und epithymêtikon (das Begehrende, Bedürfnis, Begierde) befinden sich dann in einer harmonischen Ordnung. In diesem Sinne ist Arete ein „maßbestimmtes Proportionsgefüge eines komplexen Ganzen, in dem sich die eine Tugend in vielen Gestalten zeigt“.[13] Die einzelnen Aretai sind Gebrauchs- und Verwirklichungsformen des Guten, erst durch die Idee des Guten erhalten sie ihren Nutzen. Das Gute als Relationsharmonie zwischen den seinszerstörenden, konträren Extremen ist in seiner Ordnung aber zugleich das Schöne:

„Jetzt also entflieht uns wieder das Wesen des Guten in die Natur des Schönen. Denn Abgemessenheit und Verhältnismäßigkeit führt doch überall offenbar zu Schönheit und Tugend.“

Platon, Philebos[14]

Für das Hervorbringen der wahren Arete kommt der höchsten Erkenntnis eine besondere Bedeutung zu: der Erkenntnis des Schönen an sich als des Einen, dem alles übrige Schöne seine Schönheit verdankt. In der Wesensschau des Schönen wird dieses selbst als das Göttlich-Schöne[15] erkannt, womit sich der Aufstieg des Erkenntniswegs vollendet. Wer das Göttlich-Schöne schaut, der erzeugt wahre Arete:

„Was sollen wir also wohl gar von dem glauben, dem es zuteil würde, das Schöne selbst, lauter, rein und unvermischt zu erblicken und nicht verunreinigt mit Fleische und Farben und allem übrigen irdischen Tande, sondern der das Göttlich-Schöne selbst in seiner ureigenen Gestalt zu erschauen vermöchte? Meinst du wohl, sprach sie, dass das Leben eines Menschen gering erscheinen könnte, der dorthin blickt und mit ihm umgeht? Oder wirst du vielmehr inne, so schloss sie, dass es ihm hier allein gelingen wird, wenn er das Schöne mit dem geistigen[16] Auge anschaut, welchem es allein wahrhaft sichtbar ist, nicht bloße Schattenbilder der Arete zu gebären, da er ja auch nicht an einem Schattenbilde haftet, sondern die wahre Arete, weil er sich mit der Wahrheit verbunden; wenn er aber die wahre Arete gebiert und auferzieht, dass es ihm dann gelingt, ein Gottgeliebter zu werden, und, wenn irgend einem andern Menschen, so auch ihm unsterblich zu sein?“

Platon, Symposion[17]

Die Schau des Göttlich-Schönen formt den Erkennenden also selbst um. Die Realisierung von Arete und damit die eigene ethische Vervollkommnung ist mit der höchsten Erkenntnis notwendig verbunden. Ziel ist es, die geistige Natur des Menschen zu realisieren und dem Göttlichen gleich zu werden.[18]

Aristoteles

Aristoteles. Palazzo Altaemps, Rom

Aristoteles sieht das glückliche Leben in der „Betätigung der Seele seiner Wertanlage entsprechend”.[19] Dabei soll der Mensch seine Vernunftbegabung realisieren und sich um die Erkenntnis von Wahrheit bemühen (vernunftbezogene Arete). Die widerstrebenden Bedürfnisse und Emotionen sind mit der Vernunft in Einklang zu bringen (charakterbezogene Arete). Dieses werthafte Handeln ist nur das notwendige Element, nicht aber die hinreichende Bedingung für die Glückseligkeit. Um wahrhaft glücklich zu werden müssen noch äußerliche Güter, günstige Umstände und vieles andere hinzukommen. Nur unsere Arete hängt von uns selbst ab, auf die anderen „Rahmenbedingungen“ haben wir nur begrenzt Einfluss. Die äußerlichen Güter sind für das Glück von Bedeutung, sofern und soweit sie ein Leben gemäß der Arete überhaupt erst möglich machen.

Aristoteles bestimmte die den Charakter betreffende Arete als das richtige Verhalten in der Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Sie ist „wählendes Verhalten nach der richtigen Mitte hin“.[20] Durch die Arete wird der Mensch gut und er verrichtet durch sie sein Werk richtig.[21] Die Arete ist nicht außerhalb der Menschen, die nach ihr streben, sie ist in ihnen. Durch die Arete erreichen sie, dass sie agathoi (Gute) und eudaimones (Glückselige) werden. Die auf den Charakter bezogene Arete ist keine dynamis (Potenz im Sinne einer angelegten Möglichkeit, zu der hin man sich verändern kann), sondern eine hexis (feste Grundhaltung). Sie wird nicht primär durch Einsicht sondern durch Gewöhnung erworben.[22]

Die ethischen Aretai, die den Charakter betreffen, sind:

  • Tapferkeit (andreia),
  • Besonnenheit (sôphrosynê),
  • Freigebigkeit (eleutheriotês),
  • Gerechtigkeit (dikaiosyne),
  • Großzügigkeit (megaloprepeia),
  • Hochgesinntheit (megalophyxia) und
  • Wahrhaftigkeit (alêtheutikos).

Die dianoëtischen[23] Aretai, die den Verstand betreffen, sind:

  • Weisheit (sophia), die das theoretische Wissen betrifft, und
  • Klugheit (phronesis), die sich auf das Handeln bezieht.

Der Kluge erkennt, welche Handlungen dem Glück dienen und welche nicht. Er entscheidet sich für die richtige Handlung, weil er „gut über das für ihn Gute und Zuträgliche zu überlegen weiß, nicht unter einem begrenzten Aspekt, etwa dem der Gesundheit oder der Kraft, sondern bezüglich des guten Lebens insgesamt“.[24]

Die Entfaltung des wahren Wesens durch die innerliche Aneignung des Schönen wird bei Aristoteles in dem Hymnus auf die Göttin Areta zum Gedenken an den ermordeten Freund Hermias ins Heroische gesteigert: Arete wird zu kriegerischer Mannesehre und Standhaftigkeit im Schmerz.[25] Wer sein wahres, höheres Selbst liebt wird „lieber ein einziges Jahr für ein hohes Ziel leben als ein langes Leben führen für nichts“:[26]

„O Tugend (Areta), mühvoll dem Staubgebornen,
Der Jagd des Lebens schönster Preis,
Für deine Schönheit, o Jungfrau,
Ist selbst Sterben, in Hellas, beneidet Schicksal,
Und der Arbeit Müh unermüdet ertragen.
Also herrlicher Frucht zu
Lenkst du den Sinn, die unsterblich, besiegt des Goldes
Werth, und edlen Geschlechts und süßer Ruhe…“

Aristoteles, Hymnus auf Areta[27]

Weitere Philosophen

Nach Epikur macht Arete nicht selbst das Glück aus. Aber sie bewirke das, was das Glück ausmache, nämlich die Lust. Diese sei das höchste Gut. Tugend sei ein Instrument, um das Glück zu erlangen, ohne selbst konstitutiv für das Glück zu sein. Dagegen lehrte die Stoa, dass allein die Arete das Glück des Menschen ausmache. Es bedürfe keiner weiteren Bedingungen für das Glück. Tugendhaftes Leben sei natur- und vernunftgemäß.[28] Plotin misst den höheren Aretai eine reinigende Wirkung zu. Sie helfen der Seele, sich vom Körper zu lösen und dem Göttlichen anzugleichen. Dabei gelangt die Seele dann in einen Zustand der apatheia. Sie wird frei von Affekten und kann ihre spezifische Tätigkeit realisieren: das Denken des Intelligiblen.[29] Das Christentum hat die vier Kardinaltugenden aufgenommen und durch die drei spezifisch christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe ergänzt. Am größten unter ihnen ist die Liebe. (1 Kor 13,1-13 EU)

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Ziegler u.a., Der kleine Pauly, Band 1, S. 530
  2. Peter Stemmer, Art. Tugend, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, S. 1532
  3. Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden, S. 12
  4. Vgl. H. Frisk, Griech. etymol. Wb. (1960) s.v.
  5. Karl Kerényi, Der Mythos der Arete, in: ders. Antike Religion, Langen-Müller, München/Wien 1971, S. 244
  6. Vgl. Jäger, Paideia, S. 25 f.
  7. Jäger, Paideia, S. 27
  8. Peter Stemmer, Art. Tugend, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, S. 1533
  9. Vgl. Xenophon, Memorabilien I 5, 5-6; IV 5, 2-5
  10. Platon, Apologie des Sokrates, 30a-b
  11. Dirk Cürsgen, Tugend, in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, 2007, S. 286
  12. Platon, Theaitetos 176 b-c
  13. Dirk Cürsgen, Tugend, in: Christian Schäfer (Hrsg.), Platon-Lexikon, 2007, S. 288
  14. Platon, Philebos, 64e
  15. Platon, Symposion, 211 e 3
  16. Vgl. die Übersetzung von Benjamin Jowett: „Remember how in that communion only, beholding beauty with the eye of the mind, he will be enabled to bring forth, not images of beauty, but realities (for he has hold not of an image but of a reality), and bringing forth and nourishing true virtue to become the friend of God and be immortal, if mortal man may.“ Mit ähnlicher Intention die Übersetzung von Harold N. Fowler: „Do but consider,’ she said, ‘that there only will it befall him, as he sees the beautiful through that which makes it visible, to breed not illusions but true examples of virtue, since his contact is not with illusion but with truth. So when he has begotten a true virtue and has reared it up he is destined to win the friendship of Heaven; he, above all men, is immortal.’“
  17. Platon, Symposion, 211e bis 212a
  18. Plat. Tht. 176a f.
  19. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1097a f.
  20. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1106 b 36
  21. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1106 a 22
  22. Aristoteles, Nikomachische Ethik, II, 2, 1103 a 17 f.
  23. d.h. die Lehre vom Denken betreffenden
  24. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI, 5, 1140 a 25–28
  25. Werner Jaeger, Aristoteles, Georg Olms Verlag 2006, S. 119; griechischer Text des Hymnos auf S. 118.
  26. Werner Jaeger, Paideia, Band 1, S. 36
  27. So der Anfang des Hymnus in der Übersetzung von Adolf Stahr, Aristotelia, 1832, S. 80; der als echt geltende Hymnus findet sich bei Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Meiner 1998, S. 244
  28. Diog. Laert. 7, 87
  29. Vgl. Peter Stemmer, Art. Tugend, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, S. 1544