Wirklichkeit: Unterschied zwischen den Versionen

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Als '''Wirklichkeit''' ({{ELSalt|ἐνέργεια}}, ''[[Akt und Potenz|energeia]]''; [[Latein|lat.]] ''[[actualitas]]'', ''[[realitas]]''; {{EnS|reality}}; {{FrS|réalité}}) wird im Sinne der [[Metaphysik]] die [[Aktualität]] des tatsächlich gegenwärtig gegebenen [[Sein]]s bezeichnet. Sie unterscheidet sich damit von der [[Möglichkeit]], als einem nur potentiell gegebenen Sein, wie auch vom bloßen wirkungslosen [[Schein]], aber insbesondere auch von der ausschließlich räumlich ausgedehnt gedachten dinglichen [[Realität]]. Indem [[Meister Eckhart]] den lateinischen Begriff ins Deutsche übertrug, wurde die für den rechten Begriff der Wirklichkeit wesentliche Komponente des ''Wirkens'' deutlicher hervorgestrichen: ''wirklich'' ist, was ''wirkt'', d.h. ''[[Wirkung]]en'' hervorruft.
{{Textbox|Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser<br>
Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges.|[[Goethe]]: ''Zur Farbenlehre'', Vorwort [https://www.odysseetheater.org/ftp/odyssee/Goethe/Goethe_Zur_Farbenlehre.doc doc]}}
Als '''Wirklichkeit''' ({{ELSalt|ἐνέργεια}}, ''[[Akt und Potenz|energeia]]''; [[Latein|lat.]] ''[[actualitas]]'', ''[[realitas]]''; {{EnS|''[[a:reality|reality]]'', ''[[a:actuality|actuality]]''}}; {{FrS|''réalité'', ''l'actualité''}}<ref>{{EnS|''[[a:actuality|actuality]]''}} bzw. {{FrS|''l'actualité''}} sind zutreffendere Übersetzungen des deutschen Wortes „Wirklichkeit“, mit der eine aktive (geistige) [[Tätigkeit]] gemeint ist und eben gerade keine dinghaft-gegenständliche [[Realität]].</ref>) wird im Sinne der [[Metaphysik]] das bezeichnet, was die [[Aktualität]] des tatsächlich gegenwärtig gegebenen [[Sein]]s ''bewirkt''. Sie unterscheidet sich von der bloßen [[Möglichkeit]], als einem nur potentiell gegebenen Sein, wie auch vom bloßen wirkungslosen [[Schein]] bzw. der völligen '''Unwirklichkeit''', aber insbesondere auch von der ausschließlich räumlich ausgedehnt gedachten dinglichen [[Realität]]. Indem [[Meister Eckhart]] den lateinischen Begriff der [[actualitas]] ins Deutsche übertrug, wurde die für den rechten Begriff der Wirklichkeit wesentliche Komponente des ''Wirkens'' deutlicher hervorgestrichen: ''wirklich'' ist, was ''wirkt'', d.h. ''[[Wirkung]]en'' hervorruft. Alle Realität ist ein Ergebnis dieser Wirkungen, gleichsam ihr selbst nicht mehr aktives, abgestorbenes, dinghaft erscheinendes erstarrtes Produkt. Als solches ist es nur mehr ein scheinhaftes Bild der Wirklichkeit, die es hervorgebracht hat, aber nicht mehr diese selbst. Als passiv gewordenes, im [[physik]]alischen Sinn ''[[Trägheit|träges]]'' „[[Ding]]“ mangelt ihm die Fähigkeit, ''von sich aus'' die Zukunft zu ''bewirken'', d.&nbsp;h. aktiv [[schöpferisch]] zu [[gestalten]]. Was wir gewöhlich als Realität ansehen, ist daher nur die sichtbar oder messbar gewordene Wirkung der eigentlichen, nicht dinghaften Wirklichkeit.


== Schein und Wirklichkeit ==
== Schein und Wirklichkeit ==


Ein Grundirrtum des [[Philosophie|Philosophierens]] besteht nach [[Rudolf Steiner]] darin, die [[Sinneswelt]] bereits als fertige Wirklichkeit anzusehen. Erst das [[Denken]], das die [[Wahrnehmungen]] durchdringt, enthüllt auch ihre inneren Gesetzmäßigkeiten, ohne die sie nicht bestehen könnte, und führt damit erst zur vollen Wirklichkeit.
Ein Grundirrtum des [[Philosophie|Philosophierens]] besteht nach [[Rudolf Steiner]] darin, die [[Sinneswelt]] bereits als fertige Wirklichkeit anzusehen. Erst das [[Denken]], das die [[Wahrnehmungen]] durchdringt, enthüllt ihre [[Gestalt]] und [[Struktur]] und bei entsprechender Begriffsbildung auch ihre inneren Gesetzmäßigkeiten, ohne die sie nicht bestehen könnte, und führt damit erst zur vollen Wirklichkeit. Ohne Denken bliebe die Wahrnehmung ein nicht weiter fassbares zusammenhangloses diffuses Aggregat von [[Empfindungsobjekt]]en.


{{GZ|Das ist der Grundfehler des Philosophierens des 19. Jahrhunderts,
{{GZ|Das ist der Grundfehler des Philosophierens des 19. Jahrhunderts,
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Die Wirklichkeit ist dem [[Mensch]]en gemäß [[Rudolf Steiner]]s [[Philosophie der Freiheit]] nicht unmittelbar gegeben, sondern fließt ihm von zwei Seiten her zu, nämlich durch [[Beobachtung]] und [[Denken]]. Dadurch wird im menschlichen Bewusstsein zunächst eine unüberbrückbar scheinende Kluft (→ [[Chorismos]]) aufgerissen. Erst indem der Mensch beiden Hälften, die in der Wirklichkeit zwar stets untrennbar miteinander verbunden, dem menschlichen [[Bewusstsein]] aber zunächst nur getrennt gegeben sind, im [[Erkenntnis]]akt miteinander verbindet, d.h. die [[Wahrnehmung]] mit dem zugehörigen [[Begriff]] durchdringt, stößt er zur vollen Wirklichkeit vor.  
Die Wirklichkeit ist dem [[Mensch]]en gemäß [[Rudolf Steiner]]s [[Philosophie der Freiheit]] nicht unmittelbar gegeben, sondern fließt ihm von zwei Seiten her zu, nämlich durch [[Beobachtung]] und [[Denken]]. Dadurch wird im menschlichen Bewusstsein zunächst eine unüberbrückbar scheinende Kluft (→ [[Chorismos]]) aufgerissen. Erst indem der Mensch beiden Hälften, die in der Wirklichkeit zwar stets untrennbar miteinander verbunden, dem menschlichen [[Bewusstsein]] aber zunächst nur getrennt gegeben sind, im [[Erkenntnis]]akt miteinander verbindet, d.h. die [[Wahrnehmung]] mit dem zugehörigen [[Begriff]] durchdringt, stößt er zur vollen Wirklichkeit vor.  


<div style="margin-left:20px">
{{GZ|Das objektiv Gegebene
"Nicht an den Gegenständen liegt es, dass sie uns zunächst ohne die entsprechenden Begriffe gegeben werden, sondern an unserer geistigen Organisation. Unsere totale Wesenheit funktioniert in der Weise, dass ihr bei jedem Dinge der Wirklichkeit von zwei Seiten her die Elemente zufließen, die für die Sache in Betracht kommen: von seiten des Wahrnehmens und des Denkens." {{Lit|{{G|4|90}}}}
deckt sich durchaus nicht mit dem sinnlich Gegebenen, wie die
mechanische Weltauffassung glaubt. Das letztere ist nur die
Hälfte des Gegebenen. Die andere Hälfte desselben sind die
Ideen, die ebenso Gegenstand der Erfahrung sind, freilich einer
höheren, deren Organ das Denken ist. Auch die Ideen sind für
eine induktive Methode erreichbar.|1|126|121}}


"Der Begriff des Baumes ist für das Erkennen durch die Wahrnehmung des Baumes bedingt. Ich kann der bestimmten Wahrnehmung gegenüber nur einen ganz bestimmten Begriff aus dem allgemeinen Begriffssystem herausheben. Der Zusammenhang von Begriff und Wahrnehmung wird durch das Denken an der Wahrnehmung mittelbar und objektiv bestimmt Die Verbindung der Wahrnehmung mit ihrem Begriffe wird nach dem Wahrnehmungsakte erkannt; die Zusammengehörigkeit ist aber in der Sache selbst bestimmt." {{Lit|{{G|4|145}}}}
Die [[Wahrheit]] ist nach [[Rudolf Steiner]] nichts fertig in der Welt Vorhandenes, sondern etwas [[Freiheit|frei]] und [[Individualität|individuell]] durch das [[Ich]] zu Schaffendes, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt:
</div>
 
{{GZ|Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass die Wahrheit
nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle
Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies
Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends
existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die
Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts
Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern
die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der
sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle
Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des
Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem
allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese
Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich
abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem
Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger
Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich
wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht,
sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das
Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des
Universums.|3|11f|11}}
 
{{GZ|Nicht an den Gegenständen liegt es, dass sie uns zunächst ohne die entsprechenden Begriffe gegeben werden, sondern an unserer geistigen Organisation. Unsere totale Wesenheit funktioniert in der Weise, dass ihr bei jedem Dinge der Wirklichkeit von zwei Seiten her die Elemente zufließen, die für die Sache in Betracht kommen: von seiten des Wahrnehmens und des Denkens.|4|90}}
 
{{GZ|Der Begriff des Baumes ist für das Erkennen durch die Wahrnehmung des Baumes bedingt. Ich kann der bestimmten Wahrnehmung gegenüber nur einen ganz bestimmten Begriff aus dem allgemeinen Begriffssystem herausheben. Der Zusammenhang von Begriff und Wahrnehmung wird durch das Denken an der Wahrnehmung mittelbar und objektiv bestimmt Die Verbindung der Wahrnehmung mit ihrem Begriffe wird nach dem Wahrnehmungsakte erkannt; die Zusammengehörigkeit ist aber in der Sache selbst bestimmt.|4|145}}


Dass dem Menschen die Wirklichkeit nicht unmittelbar, sondern zunächst nur in Form zweier unwirklicher Hälften gegeben ist, die er aktiv verbinden muss, begründet die Möglichkeit seiner [[Freiheit]].
Dass dem Menschen die Wirklichkeit nicht unmittelbar, sondern zunächst nur in Form zweier unwirklicher Hälften gegeben ist, die er aktiv verbinden muss, begründet die Möglichkeit seiner [[Freiheit]].


== Realität und Wirklichkeit ==
Besonders schwierig ist die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit, wenn sich das Bewusstsein für die [[geistige Welt]] öffnet.


Die Begriffe Realität ([[lat.]] ''realitas'', von ''res'' „Ding“) und Wirklichkeit werden manchmal explizit unterschieden, oft aber auch synonym verwendet. Der Begriff Wirklichkeit beinhaltet eine Komponente "wirken", was als allgemeiner Vorgang dann auch als "[[Werden]]" verstanden werden kann. Weder "Realität" noch "Wirklichkeit" können das Werden adäquat fassen, weil sie von ihrer Begrifflichkeit her das Zuständliche betonen. Vorgänge oder Bewegungen sind aber mitgemeint, wenn von Wirklichkeit oder Realität gesprochen wird, oder es sind diese sogar eigentlich gemeint.
{{GZ|Bitte stellen Sie sich einmal vor, meine lieben Freunde, Sie gingen durch das
gewöhnliche sinnliche Leben, das Sie durchmachen zwischen der Geburt und dem
Tode, so, daß Sie richtig niemals recht wissen könnten, ob irgend etwas, was Ihnen
entgegentritt, Wahrheit oder Illusion ist. Sie könnten nicht kontrollieren, ob ein
Mensch, der Ihnen gegenübersteht, der Ihnen etwas sagt, nun ein wirklicher Mensch
ist oder ob er ein Scheingebilde ist. Sie könnten nicht unterscheiden, ob irgendein
Ereignis, das Ihnen begegnet, von Ihnen bloß geträumt ist oder ob es in dem
Tatsachenzusammenhang der Welt darinnensteht. Denken Sie nur, welche Unsicherheit,
welche furchtbare Unsicherheit in das Leben hineinkäme!


== Geistige Wesenheiten als primäre Wirklichkeit ==
Aber so, wie Sie sich fühlen würden, wenn Ihnen das Leben auf Schritt und
Tritt die genaue Kontrolle entzöge, ob Sie träumen oder ob Sie der Wirklichkeit
gegenüberstehen, so ist es, wenn zunächst der Schüler an der Pforte, an der Schwelle
der geistigen Welt steht. Das ist das allererste bedeutsame Erlebnis, daß er, wenn
er an der Schwelle der geistigen Welt steht, merkt: jenseits dieser Schwelle ist die
geistige Welt.


Alle [[Wirkung]]en gehen letztendlich von [[Geistige Wesenheiten|geistigen Wesenheiten]] aus, die in verschiedenen [[Bewusstseinszustände]]n leben. Sie sind die eigentliche Wirklichkeit. In ihrem [[Bewusstsein]] liegt der Ursprungsquell und die eigentliche [[Substanz]], aus der die Wirklichkeit gewoben ist:
Wir haben ja gesehen: zunächst strömt da nur Finsternis aus dieser geistigen
Welt heraus. Aber dasjenige, was da oder dort herauswellend, herausleuchtend
erscheint, das ist bei der ersten Erfahrung - in die noch der Hüter der Schwelle
seine Worte hineintönen läßt, wie wir sie das letzte Mal gehört haben -, bei der
ersten Erfahrung so, daß Sie niemals zunächst mit all dem, was Sie sich errungen
haben in der physischen Welt an Sinneserkenntnis, an Verstandeserkenntnis, daß
Sie mit all dem, was Sie sich da errungen haben, niemals unterscheiden können,
ob Sie ein wirkliches geistiges Wesen, eine wirkliche geistige Tatsache, oder aber
vor sich haben ein Traumgebilde.


<div style="margin-left:20px">
Das ist die allererste Erfahrung, die man macht gegenüber der geistigen Welt,
"Es ist gut, festzuhalten, daß es im Grunde genommen im Weltenall doch nichts anderes gibt als Bewußtseine. Außer dem Bewußtsein irgendwelcher Wesenheiten ist letzten Endes alles übrige dem Gebiete der Maja oder der großen Illusion angehörig. Diese Tatsache können Sie besonders aus zwei Stellen in meinen Schriften entnehmen, auch noch aus anderen, besonders aber aus zwei Stellen: zunächst aus der Darstellung der Gesamtevolution der Erde von Saturn bis Vulkan in der «Geheimwissenschaft im Umriß», wo geschildert wird das Fortschreiten vom Saturn zur Sonne, von der Sonne zum Mond, vom Mond zur Erde und so weiter, zunächst nur in Bewußtseinszuständen. Das heißt, will man zu diesen großen Tatsachen aufsteigen, so muß man so weit aufsteigen im Weltengeschehen, daß man es zu tun hat mit Bewußtseinszuständen. Also man kann eigentlich nur Bewußtseine schildern, wenn man die Realitäten schildert. Aus einer anderen Stelle in einem Buche, das in diesem Sommer erschienen ist, «Die Schwelle der geistigen Welt», ist das gleiche zu entnehmen. Da ist gezeigt, wie durch allmähliches Aufsteigen der Seherblick sich erhebt von dem, was sich um uns herum ausbreitet als Dinge, als Vorgänge in den Dingen, wie das alles sozusagen als ein Nichtiges entschwindet und schmilzt, vernichtet wird und zuletzt die Region erreicht wird, wo nur noch Wesen in irgendwelchen Bewußtseinszuständen sind. Also, die wirklichen Realitäten der Welt sind Wesen in den verschiedenen Bewußtseinszuständen." {{Lit|{{G|148|305f}}}}
daß sich ineinandermischen Schein und Wirklichkeit und die Unterscheidung zwi-
</div>
schen Schein und Wirklichkeit zunächst ganz problematisch ist. Das ist auch
dasjenige, das gar sehr berücksichtigen sollte derjenige, welcher nicht in regelmäßigem
Schülergange, sondern wie durch elementarische Kräfte, die aus allem Möglichen
heraus kommen können, aus erschütternden Ereignissen, aus Krankheit und
so weiter - das ist, was der, der durch solche elementarischen Kräfte erlebt diese
oder jene Impressionen aus der geistigen Welt, wohl berücksichtigen sollte. Er
sollte sich nicht von vornherein vormachen: Nun hast du die geistige Welt; denn
es könnte sehr wohl sein, daß dasjenige, was sich ihm da oder dort aufblitzend
zeigt aus der geistigen Welt, eben eine bloße Illusion ist. Daher ist das erste, was
man lernen muß, um in die geistige Welt eintreten zu können in rechter Weise,
das von allem, was man in der physischen Welt erfährt, unabhängige Unterscheidungsvermögen
für Wahrheit und Irrtum, für Wirklichkeit und Illusion. Man
muß sich ein ganz neues Unterscheidungsvermögen aneignen für Wirklichkeit und
Illusion.|270a|59f}}


== Dialektische Bestimmung des Begriffs Wirklichkeit ==
=== Unsere Alltags-Wirklichkeit ===


In der [[Hegel]]schen Logik hat der Begriff Wirklichkeit einen ganz bestimmten Platz, er ergibt sich dialektisch aus den Begriffen [[Wesen]] und [[Erscheinung]]:
Bei den uns aus dem Alltagsleben gut vertrauten [[Ding]]en fließen [[Wahrnehmung]] und [[Begriff]] so selbstverständlich und rasch zusammen, dass wir uns dieses Vorgangs gar nicht bewusst werden. Der zugehörige Begriff ist längst in uns vorgebildet und muss nicht erst mühsam suchend der Wahrnehmung entgegengebracht werden. Für die rasche routinierte Orientierung im Alltagsleben sind solche Begriffe unerlässlich. Allerdings beziehen sie sich heute, wo wir durch eine stark [[Materialismus|materialistische]] [[Denken|Denkweise]] geprägt sind, meist nur auf das rein [[Gegenstand|gegenständlich]]e [[Raum|räumlich]]-[[Materie|materielle]] Dasein. Wir erkennen auf diese Weise eine bestimmte Gruppe sinnlicher Wahrnehmungen sofort als Eiche, als Buche, als Bergkristall, als Löwe usw. Diese „Dinge“ erscheinen uns derart ganz unmittelbar als gegebene gegenständliche materielle Wirklichkeit und wir glauben ihr ganzes [[Wesen]] darin erschöpft. Das ist aber nicht der Fall. Ihr eigentliches, tieferes Wesen erschließt sich nur, wenn es gelingt, diesen „Erkenntnisautomatismus“ zu durchbrechen. Dazu muss einerseits die Wahrnehmung von den begrifflichen Elementen befreit und zu einer möglichst [[Reine Wahrnehmung|reinen Wahrnehmung]] geläutert werden und andererseits der Begriff geistig vertieft werden, was nur durch eine entsprechende [[geistige Schulung]] möglich ist.


<div style="margin-left:20px">
== Realität und Wirklichkeit ==
"Das «Sein» läßt Begriffe nach zwei Seiten aus sich herauswachsen. Es ist etwas sehr
Fruchtbares. Es ist etwas da, was vor dem Hineinschießen des Seins
in die Realität schon da ist. Es ist der reine Gedanke des Seins schon
gegeben, bevor das Sein aus dem Gedanken hinausgeschossen ist in
die Realität. In dem Augenblick, wo das Sein in sich selbst wird, in
sich selbst Inhalt wird, in dem Augenblick müssen wir das, was wir
dann erfassen, als das «Wesen» bezeichnen, so daß wir auf diese
Weise aus dem Begriff «Sein» den Begriff «Wesen» gebildet haben.
Wir haben also auf der einen Seite aus dem Begriff «Sein» die Begriffe
«Nichts», «Werden», «Dasein» gebildet, und auf der anderen Seite
aus dem Begriff «Sein» den Begriff «Wesen».


Sein —> Wesen
Die Begriffe Realität ([[lat.]] ''realitas'', von ''res'' „Ding“) und Wirklichkeit werden manchmal explizit unterschieden, oft aber auch synonym verwendet. Der Begriff Wirklichkeit beinhaltet eine Komponente "wirken", was als allgemeiner Vorgang dann auch als "[[Werden]]" verstanden werden kann. Weder "Realität" noch "Wirklichkeit" können das Werden adäquat fassen, weil sie von ihrer Begrifflichkeit her das Zuständliche betonen. Vorgänge oder Bewegungen sind aber mitgemeint, wenn von Wirklichkeit oder Realität gesprochen wird, oder es sind diese sogar eigentlich gemeint.


Das Wesen ist das in sich aufgehaltene Sein, das sich selber durchdringende
== Geistige Wesenheiten als primäre Wirklichkeit ==
Sein. Sie bekommen am leichtesten einen Begriff vom
«Wesen» einer Sache, wenn Sie nachdenken, was wesentlich und was
unwesentlich an der Sache ist. Das Wesen ist das im Inneren arbeitende
Sein, daß überhaupt durch Arbeit sich erhärtende Sein. Das
bezeichnen wir als das «Wesen». Wir sprechen vom «Wesen» des
Menschen, wenn wir seine höheren Glieder mit den niederen zusammen
anführen, und wir betrachten den Begriff des «Wesens» als
den sich unmittelbar an das «Sein» angliedernden Begriff.
Aus dem Begriff «Wesen» gewinnen Sie [organisch als nächsten]
den Begriff der «Erscheinung», das Sich-nach-außen-hin-Manifestieren,
das Gegenteil des «Wesens», das Gegenteil dessen, was das Wesen in sich hat. «Wesen» und «Erscheinung» sind zwei kontradiktorische
Begriffe, die sich ähnlich zueinander verhalten wie die Begriffe
«Sein» und «Nichts». Wenn wir nun die beiden Begriffe «Wesen
» und «Erscheinung» miteinander verbinden, so bekommen wir
die Erscheinung, die das Wesen wiederum selbst in sich enthält.
[Lücke in der Nachschrift.] Es ist in gewisser Beziehung ein Widerspruch
zwischen innerem Wesen und äußerer Erscheinung. Wenn
aber inneres Wesen überfließt in Erscheinung, so daß die Erscheinung
selbst das Wesen enthält, so sprechen wir von «Wirklichkeit».


[Sein ->] Wesen -> Erscheinung -> Wirklichkeit
Alle [[Wirkung]]en gehen letztendlich von [[Geistige Wesenheiten|geistigen Wesenheiten]] aus, die in verschiedenen [[Bewusstseinszustände]]n leben. Sie sind die eigentliche Wirklichkeit. In ihrem [[Bewusstsein]] liegt der Ursprungsquell und die eigentliche [[Substanz]], aus der die Wirklichkeit gewoben ist:


Kein dialektisch geschulter Mensch wird vom Begriff der «Wirklichkeit» anders sprechen, als daß er sagt:
{{GZ|Es ist gut, festzuhalten, daß es im Grunde genommen im Weltenall doch nichts anderes gibt als Bewußtseine. Außer dem Bewußtsein irgendwelcher Wesenheiten ist letzten Endes alles übrige dem Gebiete der Maja oder der großen Illusion angehörig. Diese Tatsache können Sie besonders aus zwei Stellen in meinen Schriften entnehmen, auch noch aus anderen, besonders aber aus zwei Stellen: zunächst aus der Darstellung der Gesamtevolution der Erde von Saturn bis Vulkan in der «Geheimwissenschaft im Umriß», wo geschildert wird das Fortschreiten vom Saturn zur Sonne, von der Sonne zum Mond, vom Mond zur Erde und so weiter, zunächst nur in Bewußtseinszuständen. Das heißt, will man zu diesen großen Tatsachen aufsteigen, so muß man so weit aufsteigen im Weltengeschehen, daß man es zu tun hat mit Bewußtseinszuständen. Also man kann eigentlich nur Bewußtseine schildern, wenn man die Realitäten schildert. Aus einer anderen Stelle in einem Buche, das in diesem Sommer erschienen ist, «Die Schwelle der geistigen Welt», ist das gleiche zu entnehmen. Da ist gezeigt, wie durch allmähliches Aufsteigen der Seherblick sich erhebt von dem, was sich um uns herum ausbreitet als Dinge, als Vorgänge in den Dingen, wie das alles sozusagen als ein Nichtiges entschwindet und schmilzt, vernichtet wird und zuletzt die Region erreicht wird, wo nur noch Wesen in irgendwelchen Bewußtseinszuständen sind. Also, die wirklichen Realitäten der Welt sind Wesen in den verschiedenen Bewußtseinszuständen.|148|305f}}
In dem Begriff der Wirklichkeit lebt Erscheinung, die durchdrungen ist vom Wesen. -
Das Zusammenfließen von «Wesen» und «Erscheinung» ergibt den Begriff«Wirklichkeit».
So muß also alles Sprechen über die Wirklichkeit
durchdrungen sein von jenen Begriffen.[Lückenhafte Nachschrift]." {{Lit|{{G|108|251f}}}}
</div>


Dasein <- Werden <- Nichts  <- Sein -> Wesen -> Erscheinung -> Wirklichkeit
{{GZ|Denn die Wirklichkeit besteht ja überall im Wesenhaften;
und was in ihr nicht Wesenhaftes ist, das ist die Tätigkeit,
die sich im Verhältnisse von Wesen zu Wesen abspielt. Es
kann nur begriffen werden, wenn man den Blick auf die tätigen
Wesen werfen kann.|26|120}}


== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
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== Literatur ==
== Literatur ==


 
* [[Rudolf Steiner]]: ''Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften'', [[GA 1]] (1987), ISBN 3-7274-0011-0 {{Schriften|001}}
#Rudolf Steiner: ''Die Philosophie der Freiheit'', [[GA 4]] (1962)
* [[Rudolf Steiner]]: ''Wahrheit und Wissenschaft''. 5. Auflage. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1980, ISBN 3-7274-0030-7; '''Tb 628''', ISBN 978-3-7274-6280-1 {{Schriften|003}}
#Rudolf Steiner: ''Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie'', [[GA 108]] (1986), ISBN 3-7274-1081-7 {{Vorträge|108}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Philosophie der Freiheit'', [[GA 4]] (1995), ISBN 3-7274-0040-4 {{Schriften|004}}
#Rudolf Steiner: ''Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium'', [[GA 148]] (1992)
* [[Rudolf Steiner]]: ''Anthroposophische Leitsätze'', [[GA 26]] (1998), ISBN 3-7274-0260-1 {{Schriften|026}}
#Rudolf Steiner: ''Die Anthroposophie und ihre Gegner 1919 – 1921'', [[GA 255b]] (2003), ISBN 3-7274-2555-5 {{Geschichte|255b}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Beantwortung von Welt- und Lebensfragen durch Anthroposophie'', [[GA 108]] (1986), ISBN 3-7274-1081-7 {{Vorträge|108}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium'', [[GA 148]] (1992) {{Vorträge|148}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Die Anthroposophie und ihre Gegner 1919 – 1921'', [[GA 255b]] (2003), ISBN 3-7274-2555-5 {{Geschichte|255b}}
* [[Rudolf Steiner]]: ''Esoterische Unterweisungen für die erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum 1924'', [[GA 270/1]] (1999),  ISBN 3-7274-2700-0 {{Vorträge|270a}}
* [[Joachim Stiller]]: [http://joachimstiller.de/download/philosophie_realitaet.pdf Realität und Wirklichkeit] PDF


{{GA}}
{{GA}}
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* [http://www.youtube.com/watch?v=36-04IttSD4 Hans-Peter Dürr. "Wirklichkeit"]
* [http://www.youtube.com/watch?v=36-04IttSD4 Hans-Peter Dürr. "Wirklichkeit"]
* [https://www.youtube.com/watch?v=MbV4wjkYtYc Werner Heisenberg und die Frage nach der Wirklichkeit]
== Einzelnachweise ==
<references />


[[Kategorie:Grundbegriffe]] [[Kategorie:Philosophie]] [[Kategorie:Metaphysik]]
[[Kategorie:Erkenntnistheorie]]
[[en:Reality]]

Version vom 26. November 2022, 09:50 Uhr

Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser
Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges.
Goethe: Zur Farbenlehre, Vorwort doc

Als Wirklichkeit (griech. ἐνέργεια, energeia; lat. actualitas, realitas; eng. reality, actuality; franz. réalité, l'actualité[1]) wird im Sinne der Metaphysik das bezeichnet, was die Aktualität des tatsächlich gegenwärtig gegebenen Seins bewirkt. Sie unterscheidet sich von der bloßen Möglichkeit, als einem nur potentiell gegebenen Sein, wie auch vom bloßen wirkungslosen Schein bzw. der völligen Unwirklichkeit, aber insbesondere auch von der ausschließlich räumlich ausgedehnt gedachten dinglichen Realität. Indem Meister Eckhart den lateinischen Begriff der actualitas ins Deutsche übertrug, wurde die für den rechten Begriff der Wirklichkeit wesentliche Komponente des Wirkens deutlicher hervorgestrichen: wirklich ist, was wirkt, d.h. Wirkungen hervorruft. Alle Realität ist ein Ergebnis dieser Wirkungen, gleichsam ihr selbst nicht mehr aktives, abgestorbenes, dinghaft erscheinendes erstarrtes Produkt. Als solches ist es nur mehr ein scheinhaftes Bild der Wirklichkeit, die es hervorgebracht hat, aber nicht mehr diese selbst. Als passiv gewordenes, im physikalischen Sinn trägesDing“ mangelt ihm die Fähigkeit, von sich aus die Zukunft zu bewirken, d. h. aktiv schöpferisch zu gestalten. Was wir gewöhlich als Realität ansehen, ist daher nur die sichtbar oder messbar gewordene Wirkung der eigentlichen, nicht dinghaften Wirklichkeit.

Schein und Wirklichkeit

Ein Grundirrtum des Philosophierens besteht nach Rudolf Steiner darin, die Sinneswelt bereits als fertige Wirklichkeit anzusehen. Erst das Denken, das die Wahrnehmungen durchdringt, enthüllt ihre Gestalt und Struktur und bei entsprechender Begriffsbildung auch ihre inneren Gesetzmäßigkeiten, ohne die sie nicht bestehen könnte, und führt damit erst zur vollen Wirklichkeit. Ohne Denken bliebe die Wahrnehmung ein nicht weiter fassbares zusammenhangloses diffuses Aggregat von Empfindungsobjekten.

„Das ist der Grundfehler des Philosophierens des 19. Jahrhunderts, daß immer einfach die Sinneswelt als fertige genommen wird. Man ist sich nicht bewußt geworden, daß zur wahren Wirklichkeit der Mensch dazugehört, daß dasjenige, was im Menschen namentlich an Gedanken auftritt, sich abspaltet von der Wirklichkeit, indem der Mensch in die Wirklichkeit hineingeboren wird, daß die Wirklichkeit zunächst verborgen ist, so daß sie uns als eine Scheinwirklichkeit entgegentritt; und erst wenn wir diese Scheinwirklichkeit durchdringen mit dem, was in uns aufleben kann, haben wir die volle Wirklichkeit vor uns. Damit aber würde von vornherein philosophisch, vom Gesichtspunkt einer gewissen Erkenntnistheorie, alles dasjenige charakterisiert sein, was später wiederum meiner Anthroposophie zugrundeliegt. Denn es ist vom Anfang an versucht worden nachzuweisen, daß die Sinneswelt nicht eine Wirklichkeit ist, sondern daß sie eine Scheinwirklichkeit ist, zu der erst hinzukommen muß dasjenige, was der Mensch zu ihr hinzubringt, was dem Menschen in seinem Inneren aufleuchtet und was er dann erarbeitet. Die ganze kantische und nach-kantische Philosophie geht im Grunde genommen davon aus, daß man eine fertige Wirklichkeit vor sich habe und daß man dann die Frage aufstellen könne: Ja, kann man denn diese fertige Wirklichkeit erkennen oder kann man sie nicht erkennen? - Sie ist aber keine fertige Wirklichkeit, sie ist nur eine halbe Wirklichkeit, und die ganze Wirklichkeit entsteht erst, wenn der Mensch dazukommt und dasjenige in die Wirklichkeit hineingießt, was ihm in seinem Innersten aufgeht.“ (Lit.:GA 255b, S. 41f)

Die Wirklichkeit ist dem Menschen gemäß Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit nicht unmittelbar gegeben, sondern fließt ihm von zwei Seiten her zu, nämlich durch Beobachtung und Denken. Dadurch wird im menschlichen Bewusstsein zunächst eine unüberbrückbar scheinende Kluft (→ Chorismos) aufgerissen. Erst indem der Mensch beiden Hälften, die in der Wirklichkeit zwar stets untrennbar miteinander verbunden, dem menschlichen Bewusstsein aber zunächst nur getrennt gegeben sind, im Erkenntnisakt miteinander verbindet, d.h. die Wahrnehmung mit dem zugehörigen Begriff durchdringt, stößt er zur vollen Wirklichkeit vor.

„Das objektiv Gegebene deckt sich durchaus nicht mit dem sinnlich Gegebenen, wie die mechanische Weltauffassung glaubt. Das letztere ist nur die Hälfte des Gegebenen. Die andere Hälfte desselben sind die Ideen, die ebenso Gegenstand der Erfahrung sind, freilich einer höheren, deren Organ das Denken ist. Auch die Ideen sind für eine induktive Methode erreichbar.“ (Lit.:GA 1, S. 126)

Die Wahrheit ist nach Rudolf Steiner nichts fertig in der Welt Vorhandenes, sondern etwas frei und individuell durch das Ich zu Schaffendes, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt:

„Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass die Wahrheit nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abspiegelung von irgendeinem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt. Damit ist die höchste Tätigkeit des Menschen, sein geistiges Schaffen, organisch dem allgemeinen Weltgeschehen eingegliedert. Ohne diese Tätigkeit wäre das Weltgeschehen gar nicht als in sich abgeschlossene Ganzheit zu denken. Der Mensch ist dem Weltlauf gegenüber nicht ein müßiger Zuschauer, der innerhalb seines Geistes das bildlich wiederholt, was sich ohne sein Zutun im Kosmos vollzieht, sondern der tätige Mitschöpfer des Weltprozesses; und das Erkennen ist das vollendetste Glied im Organismus des Universums.“ (Lit.:GA 3, S. 11f)

„Nicht an den Gegenständen liegt es, dass sie uns zunächst ohne die entsprechenden Begriffe gegeben werden, sondern an unserer geistigen Organisation. Unsere totale Wesenheit funktioniert in der Weise, dass ihr bei jedem Dinge der Wirklichkeit von zwei Seiten her die Elemente zufließen, die für die Sache in Betracht kommen: von seiten des Wahrnehmens und des Denkens.“ (Lit.:GA 4, S. 90)

„Der Begriff des Baumes ist für das Erkennen durch die Wahrnehmung des Baumes bedingt. Ich kann der bestimmten Wahrnehmung gegenüber nur einen ganz bestimmten Begriff aus dem allgemeinen Begriffssystem herausheben. Der Zusammenhang von Begriff und Wahrnehmung wird durch das Denken an der Wahrnehmung mittelbar und objektiv bestimmt Die Verbindung der Wahrnehmung mit ihrem Begriffe wird nach dem Wahrnehmungsakte erkannt; die Zusammengehörigkeit ist aber in der Sache selbst bestimmt.“ (Lit.:GA 4, S. 145)

Dass dem Menschen die Wirklichkeit nicht unmittelbar, sondern zunächst nur in Form zweier unwirklicher Hälften gegeben ist, die er aktiv verbinden muss, begründet die Möglichkeit seiner Freiheit.

Besonders schwierig ist die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit, wenn sich das Bewusstsein für die geistige Welt öffnet.

„Bitte stellen Sie sich einmal vor, meine lieben Freunde, Sie gingen durch das gewöhnliche sinnliche Leben, das Sie durchmachen zwischen der Geburt und dem Tode, so, daß Sie richtig niemals recht wissen könnten, ob irgend etwas, was Ihnen entgegentritt, Wahrheit oder Illusion ist. Sie könnten nicht kontrollieren, ob ein Mensch, der Ihnen gegenübersteht, der Ihnen etwas sagt, nun ein wirklicher Mensch ist oder ob er ein Scheingebilde ist. Sie könnten nicht unterscheiden, ob irgendein Ereignis, das Ihnen begegnet, von Ihnen bloß geträumt ist oder ob es in dem Tatsachenzusammenhang der Welt darinnensteht. Denken Sie nur, welche Unsicherheit, welche furchtbare Unsicherheit in das Leben hineinkäme!

Aber so, wie Sie sich fühlen würden, wenn Ihnen das Leben auf Schritt und Tritt die genaue Kontrolle entzöge, ob Sie träumen oder ob Sie der Wirklichkeit gegenüberstehen, so ist es, wenn zunächst der Schüler an der Pforte, an der Schwelle der geistigen Welt steht. Das ist das allererste bedeutsame Erlebnis, daß er, wenn er an der Schwelle der geistigen Welt steht, merkt: jenseits dieser Schwelle ist die geistige Welt.

Wir haben ja gesehen: zunächst strömt da nur Finsternis aus dieser geistigen Welt heraus. Aber dasjenige, was da oder dort herauswellend, herausleuchtend erscheint, das ist bei der ersten Erfahrung - in die noch der Hüter der Schwelle seine Worte hineintönen läßt, wie wir sie das letzte Mal gehört haben -, bei der ersten Erfahrung so, daß Sie niemals zunächst mit all dem, was Sie sich errungen haben in der physischen Welt an Sinneserkenntnis, an Verstandeserkenntnis, daß Sie mit all dem, was Sie sich da errungen haben, niemals unterscheiden können, ob Sie ein wirkliches geistiges Wesen, eine wirkliche geistige Tatsache, oder aber vor sich haben ein Traumgebilde.

Das ist die allererste Erfahrung, die man macht gegenüber der geistigen Welt, daß sich ineinandermischen Schein und Wirklichkeit und die Unterscheidung zwi- schen Schein und Wirklichkeit zunächst ganz problematisch ist. Das ist auch dasjenige, das gar sehr berücksichtigen sollte derjenige, welcher nicht in regelmäßigem Schülergange, sondern wie durch elementarische Kräfte, die aus allem Möglichen heraus kommen können, aus erschütternden Ereignissen, aus Krankheit und so weiter - das ist, was der, der durch solche elementarischen Kräfte erlebt diese oder jene Impressionen aus der geistigen Welt, wohl berücksichtigen sollte. Er sollte sich nicht von vornherein vormachen: Nun hast du die geistige Welt; denn es könnte sehr wohl sein, daß dasjenige, was sich ihm da oder dort aufblitzend zeigt aus der geistigen Welt, eben eine bloße Illusion ist. Daher ist das erste, was man lernen muß, um in die geistige Welt eintreten zu können in rechter Weise, das von allem, was man in der physischen Welt erfährt, unabhängige Unterscheidungsvermögen für Wahrheit und Irrtum, für Wirklichkeit und Illusion. Man muß sich ein ganz neues Unterscheidungsvermögen aneignen für Wirklichkeit und Illusion.“ (Lit.:GA 270a, S. 59f)

Unsere Alltags-Wirklichkeit

Bei den uns aus dem Alltagsleben gut vertrauten Dingen fließen Wahrnehmung und Begriff so selbstverständlich und rasch zusammen, dass wir uns dieses Vorgangs gar nicht bewusst werden. Der zugehörige Begriff ist längst in uns vorgebildet und muss nicht erst mühsam suchend der Wahrnehmung entgegengebracht werden. Für die rasche routinierte Orientierung im Alltagsleben sind solche Begriffe unerlässlich. Allerdings beziehen sie sich heute, wo wir durch eine stark materialistische Denkweise geprägt sind, meist nur auf das rein gegenständliche räumlich-materielle Dasein. Wir erkennen auf diese Weise eine bestimmte Gruppe sinnlicher Wahrnehmungen sofort als Eiche, als Buche, als Bergkristall, als Löwe usw. Diese „Dinge“ erscheinen uns derart ganz unmittelbar als gegebene gegenständliche materielle Wirklichkeit und wir glauben ihr ganzes Wesen darin erschöpft. Das ist aber nicht der Fall. Ihr eigentliches, tieferes Wesen erschließt sich nur, wenn es gelingt, diesen „Erkenntnisautomatismus“ zu durchbrechen. Dazu muss einerseits die Wahrnehmung von den begrifflichen Elementen befreit und zu einer möglichst reinen Wahrnehmung geläutert werden und andererseits der Begriff geistig vertieft werden, was nur durch eine entsprechende geistige Schulung möglich ist.

Realität und Wirklichkeit

Die Begriffe Realität (lat. realitas, von res „Ding“) und Wirklichkeit werden manchmal explizit unterschieden, oft aber auch synonym verwendet. Der Begriff Wirklichkeit beinhaltet eine Komponente "wirken", was als allgemeiner Vorgang dann auch als "Werden" verstanden werden kann. Weder "Realität" noch "Wirklichkeit" können das Werden adäquat fassen, weil sie von ihrer Begrifflichkeit her das Zuständliche betonen. Vorgänge oder Bewegungen sind aber mitgemeint, wenn von Wirklichkeit oder Realität gesprochen wird, oder es sind diese sogar eigentlich gemeint.

Geistige Wesenheiten als primäre Wirklichkeit

Alle Wirkungen gehen letztendlich von geistigen Wesenheiten aus, die in verschiedenen Bewusstseinszuständen leben. Sie sind die eigentliche Wirklichkeit. In ihrem Bewusstsein liegt der Ursprungsquell und die eigentliche Substanz, aus der die Wirklichkeit gewoben ist:

„Es ist gut, festzuhalten, daß es im Grunde genommen im Weltenall doch nichts anderes gibt als Bewußtseine. Außer dem Bewußtsein irgendwelcher Wesenheiten ist letzten Endes alles übrige dem Gebiete der Maja oder der großen Illusion angehörig. Diese Tatsache können Sie besonders aus zwei Stellen in meinen Schriften entnehmen, auch noch aus anderen, besonders aber aus zwei Stellen: zunächst aus der Darstellung der Gesamtevolution der Erde von Saturn bis Vulkan in der «Geheimwissenschaft im Umriß», wo geschildert wird das Fortschreiten vom Saturn zur Sonne, von der Sonne zum Mond, vom Mond zur Erde und so weiter, zunächst nur in Bewußtseinszuständen. Das heißt, will man zu diesen großen Tatsachen aufsteigen, so muß man so weit aufsteigen im Weltengeschehen, daß man es zu tun hat mit Bewußtseinszuständen. Also man kann eigentlich nur Bewußtseine schildern, wenn man die Realitäten schildert. Aus einer anderen Stelle in einem Buche, das in diesem Sommer erschienen ist, «Die Schwelle der geistigen Welt», ist das gleiche zu entnehmen. Da ist gezeigt, wie durch allmähliches Aufsteigen der Seherblick sich erhebt von dem, was sich um uns herum ausbreitet als Dinge, als Vorgänge in den Dingen, wie das alles sozusagen als ein Nichtiges entschwindet und schmilzt, vernichtet wird und zuletzt die Region erreicht wird, wo nur noch Wesen in irgendwelchen Bewußtseinszuständen sind. Also, die wirklichen Realitäten der Welt sind Wesen in den verschiedenen Bewußtseinszuständen.“ (Lit.:GA 148, S. 305f)

„Denn die Wirklichkeit besteht ja überall im Wesenhaften; und was in ihr nicht Wesenhaftes ist, das ist die Tätigkeit, die sich im Verhältnisse von Wesen zu Wesen abspielt. Es kann nur begriffen werden, wenn man den Blick auf die tätigen Wesen werfen kann.“ (Lit.:GA 26, S. 120)

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

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Videos

Einzelnachweise

  1. eng. actuality bzw. franz. l'actualité sind zutreffendere Übersetzungen des deutschen Wortes „Wirklichkeit“, mit der eine aktive (geistige) Tätigkeit gemeint ist und eben gerade keine dinghaft-gegenständliche Realität.