Sibyllen

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Michelangelos Cumäische Sibylle in der Sixtinischen Kapelle.

Die Sibyllen (griech. σίβυλλα) waren Seherinnen, die ihre meist rätselhaften und doppeldeutigen Prophezeiungen im Zustand einer unwillentlich und unkontroliert auftretenden Ekstase aus tief unterbewussten Quellen schöpften. Sie standen damit in schroffem Gegensatz zu der ruhigen, besonnen Geistesart der jüdischen Propheten. Die Orakelstätten, aus denen sie ihre naturhaften geistigen Kräfte schöpften, waren Felsenhöhlen, die sogenannten Sibyllengrotten. Meist sollen sie ein sehr hohes Alter erreicht haben. Oft wurden die Sibyllen mit dem Apollon- und Artemis-Kult und dem Mithras-Kult in enge Verbindung gebracht.

Der geistige Hintergrund des Sibyllentums

Nach Rudolf Steiner war das chaotische Sibyllentum, das aus den irdisch-elementarischen Kräften schöpfte, selbst in seiner Blütezeit nur mehr ein atavistisches Relikt vorangegangener Epochen.

„Merkwürdige Erscheinungen mit einem höchst eigentümlichen Prophetencharakter sind diese Sibyllen. Die äußere Wissenschaft kann nicht einmal angeben, aus welcher Sprache das Wort Sibylle stammt. Wenn wir zunächst auf das blicken, was durch äußerliche Dokumente eigentlich ziemlich ausführlich über die Sibyllen bekannt ist, so können wir sagen, daß wir gleich im Beginne des Sibyllenlebens eine höchst merkwürdige Erscheinung zu verzeichnen haben. So etwa vom achten Jahrhundert an und dann weiter fortgehend begegnet uns in Erythräa in lonien der erste Sibyllenort, wo sozusagen die ersten Sibyllen ihre mannigfaltigsten Prophezeiungen in die Welt hinausschickten, Prophezeiungen, die, schon wie sie äußerlich überliefert sind, uns anzeigen, daß diese Aussprüche der Sibyllen aus merkwürdigen Untergründen des menschlichen Wesens und Seelenlebens herrühren. Wie aus chaotischen Untergründen des Seelenlebens pressen diese Sibyllen allerlei hervor, was sie über die Zukunft der Erdenentwickelung diesem oder jenem Volk zu sagen haben; namentlich zunächst, was sie zu sagen haben an Grauenvollem, aber zuweilen auch an Gutem. Entfernt von alledem, was man geordnetes Denken nennt, wie aus den chaotischen Untergründen der Seele hervorgehend, preßt sich aus den Sibyllen heraus dasjenige, was sie so sagen, daß man fast jeder Sibylle anhört - wenn man sie jetzt nachträglich prüft mit den Mitteln der Geisteswissenschaft —, daß sie mit einem durchgeistigten Fanatismus vor die Menschheit hintritt und den Menschen aufdrängen will, was sie zu sagen hat. Sie wartet nicht, bis sie gefragt wird, wie etwa die Pythia Griechenlands mit ihren Prophezeiungen, sondern sie tritt heraus, das Volk versammelt sich, und wie gewaltsam sich aufdrängend klingen die Aussprüche der Sibylle über Menschen, Völker, Erdenzyklen. Daß sie in lonien auftreten, ist eine merkwürdige Erscheinung, sagte ich; denn in lonien nimmt zugleich ihren Anfang die griechische Philosophie, jene Weisheit, die von Thaies und Aristoteles her bis in die römische Zeit hinein so ganz aus dem geordneten Seelenleben des Menschen hervorgeht, aus dem, was dem Chaos entgegengesetzt ist, was heraussucht aus dem Seelenleben alles das, was an klaren, hellen, lichtvollen Begriffen zu erreichen ist. Von lonien geht sie aus, die Philosophie der Klarheit, des Lichtvollen, man möchte sagen des Himmlischen, das sie angenommen hat dann in Plato. Und wie ihr Schatten erscheinen die Sibyllen mit ihren Geistprodukten, die aus dem Seelenchaos hervorkommen, manchmal lichtvoll ankündigend solches, das sich dann erfüllt, manchmal auch solches, das gefälscht werden muß von Anhängern des Sibyllentums, um von einer Erfüllung sprechen zu können. Und dann sehen wir weiter, wie der Schatten der Weisheit die vierte Kulturepoche eben begleitend, dieses Sibyllentum sich über Griechenland, über Italien ausbreiten. Von den mannigfaltigsten Arten der Sibyllen wird uns gesprochen, und wir sehen, wie bis herein nach Italien sich das Sibyllentum ausbreitet. Allmählich kommt es herauf in die Zeit, in der das Mysterium von Golgatha erscheint. Wir sehen dann, wie es Einfluß gewinnt auf die römischen Dichter, wie es selbst in die Dichtungen Virgils hineinspielt, wie das Leben gerade durch geistvolle Leute zu gestalten versucht wird, indem man sich beruft auf die Aussprüche der Sibyllen.

Wieviel auf das gegeben wird, was in Sibyllenaussprüchen gegeben ist, sieht man an den sogenannten Sibyllinischen Büchern, die man um Rat anspricht. Und wir sehen da wiederum auch in der äußeren Welt in bezug auf die Sibyllenaussprüche merkwürdig chaotisch sich mischen Geistvollstes mit vollständig Humbugartigem. Und dann sehen wir dieses Sibyllentum selbst in das Christentum hereingreifen. Es klingt uns ja noch aus dem Gesang des Thomas von Celano entgegen:

Dies irae, dies illa
solvet saeclum in f avilla
teste David cum Sibylla!

Tag des Zornes, o Tag, der zunichte führt dies Weltalter nach dem Zeugnis des David wie auch der Sibylle!

Also bis in die Zeit der Entwickelung des Christentums herein steht mancherlei Geistern die Sibylle vor Augen mit ihren Aussprüchen, namentlich auf das gehend, was sich auf die Vernichtung der bisherigen und auf das Kommen einer neuen Weltenordnung bezieht. So kann man sagen, daß durch viele, viele Jahrhunderte, ja durch den ganzen vierten nachatlantischen Zeitraum hindurch, und ihre Strahlen, wenn auch nur noch spärlich, bis in den fünften Zeiträum hereinwerfend, die Sibylle uns gegenübertritt in der Menschheitsentwickelung.“ (Lit.:GA 149, S. 31ff)

Sibyllen und Propheten

Siehe auch: Prophet

Die Sehergabe der jüdischen Propheten unterschied sich durch ihre besonnene Art sehr deutlich von der der Sibyllen, die ihre Prophezeiungen in unkontrollierter Ekstase unmittelbar aus der elementarischen Erdenumgebung schöpften. Sie konnten dies, weil sich ihr Ich, in dem das Volks-Ich lebte, unmittelbar mit den Kräften der Erde, mit der Geologie, verband.

„Was strebten denn diese Propheten eigentlich an? Wollen wir einmal versuchen, gewissermaßen in das Innerste dieser Prophetenseelen, Jesaias, Jeremias, Hesekiel, Daniel, Joel, Jonas und Zacharias, hineinzuschauen: Was strebten sie an? Ja, wenn man nur wirklich unbefangen diese Prophetenseelen studiert, dann findet man: Sie sind bemüht, im Grunde genommen, eine besondere menschliche Seelenkraft in den Vordergrund des Seelenlebens zu stellen und eine andere zurückzudrängen, gleichsam in die Tiefen des Seelenlebens hinunterzudrangen. Aufmerksam habe ich Sie schon gemacht, wie auf den Michelangeloschen Schöpfungen, auf die ich hingewiesen habe, die Propheten immer so gebildet werden, daß sie in tiefem Sinnen dasitzen, wie getragen von innerlicher Seelenruhe, so daß man sieht: Dasjenige, dem ihre Seele hingegeben ist, hängt zusammen in ihren unterirdischen Gründen mit dem Ewigen. Als den Gegensatz stellt Michelangelo hin die Sibyllen, in die hereinwirken die Elemente der Erde, hereinwirken so, wie es bei der einen ist, daß das Haar vom Winde getrieben wird, daß selbst in das bläuliche Obergewand der Wind hineinzieht; unter diesem Einfluß des Windes tut sie ihre Prophezeiung. Die andere sehen wir von innerer Glut ergriffen: In der eigentümlichen Beweisgeste der Hand sehen wir das Feuer, das irdische Element. Und so könnten wir noch einmal die Sibyllen durchgehen: Sie leben mit den Seelenkräften, die unmittelbar in die Seelen hereinziehen aus der elementarischen Erdenumgebung. Diese Sibyllenkräfte, die sozusagen hereinsaugen in die Seele den Geist der Erdenelemente und ihn zum Ausdruck bringen, diese Sibyllenkräfte wollten die Propheten des alten Judentums zurückdrängen. Wenn Sie wirklich vorurteilslos die ganze Prophetengeschkhte lesen, so werden Sie finden: Der Prophet ist bemüht — darin besteht seine Schulung —, den Sibyllenzug in sich zu unterdrücken, ihn nicht aufkommen zu lassen.

Apollo verwandelt den Sibyllenzug der Pythia dadurch, daß er selber in diesen untertaucht und durch die Sibylle spricht. Die Propheten wollen auch das Pythienhafte ihrer Seele unterdrücken und einzig und allein das kultivieren, was in der klaren Kraft des Ich wirkt, jenes Ich, das mit der Erde verbunden ist, das zur Erde gehört, das das geistige Gegenbild des geologischen Elementes ist. Wie das Ewige im Ich sich kundgibt in gelassener Ruhe, wenn die sibyllinischen Elemente schweigen, wenn alles innere Rasen aufhört, wenn das alles unterdrückt wird, wenn nur Gelassenheit waltet und in die Gründe des Ewigen hineinschaut, das wollten die jüdischen Prophetennaturen entwickeln, und ihre Verkündigungen sollten aus solcher Seelenstimmung hervorgehen, die in der Seele sucht, was in höchstem Maße der Geologie entspricht. So tönt uns das, was bei diesen Propheten hinreißend ist, entgegen wie ein Ausfluß des geologischen Elementes, und selbst dasjenige, was dann anders gekommen ist, als die Propheten es prophezeit haben, zeigt uns gerade, wie das Element der Propheten das geologische ist. Ein zukünftiges Reich, das aber mit äußeren Gebärden an die Erde gebunden sein soll und das diesmalige Reich ablösen soll, ein Himmel auf Erden, das ist, was die Propheten zunächst verkünden, — so eng sind sie verbunden mit Geologie.“ (Lit.:GA 149, S. 69f)

Die Sibyllen in der antiken Überlieferung

Die Sibyllinischen Orakel, die Oracula sibyllina, genossen in der Antike, namentlich im Römischen Reich, hohes Ansehen. Der römische Historiker Marcus Terentius Varro (116 - 27 v. Chr.) nennt zehn Sibyllen, wobei er schon im Namen auf den jeweiligen Ort ihres Wirkens hinweist. Der Originaltext ist zwar verloren gegangen, doch zitiert der Kirchenvater Lactantius, der auch der Erzieher des Sohnes von Kaiser Konstantin war, den Text in seinen Göttlichen Unterweisungen.

Die Sibylle von Erythrai, die berühmteste hellenische Sibylle, soll nach der Überlieferung des Apollodorus den Trojanischen Krieg vorhergesagt haben.

Die bedeutendste Sibylle im Römischen Reich war die Sibylle von Cumae, die im 6. Jahrhundert v. Chr. das Orakel von Cumae bei Neapel leitete. Vergil nennt sie in seinen Eklogen und in der Aeneis) und Petronius spricht von ihr in seinem Satyricon. Nach Maurus Servius Honoratius, dem Kommentator des Vergil, soll sie identisch mit Deiphobe sein, einer Tochter des Meergottes Glaukos, die als Priesterin des Apollon und der Artemis in einer Höhle bei Cumae wirkte und dort den Äneas in die Unterwelt geleitete. Apollon selbst soll sich in sie verliebt haben und versprach ihr alles, was sie wollte, wenn sie seine Geliebte würde. Da wünschte sie sich so viele Lebensjahre, wie ein Sandhaufen an Körnern enthält, doch vergaß sie, zugleich um ewige Jugend zu bitten. So alterte sie immer weiter, wurde immer kraftloser und schwand wie ein Schatten dahin, ohne jede Hoffnung, durch den baldigen Tod erlöst zu werden. Zuletzt war sie so eingeschrumpft, dass sie in eine von der Höhlendecke herabhängende Flasche passte. Der Legende nach soll sie neun Bücher mit Prophezeiungen, die berühmten Sibyllinische Bücher, besessen haben, die sie um 520 v. Chr. dem römischen König Tarquinius Superbus für einen unverschämt hohen Preis zum Kauf anbot. Als der König ablehnte, verbrannte sie drei Bücher und bot ihm die sechs verbliebenen zum gleichen Preis. Wieder lehnte der König ab, da verbrannte sie drei weitere Bücher und bot dem König die letzten drei wieder zum gleichen Preis an - und diesmal kaufte sie Tarquinius, um nicht noch die letzten der wertvollen Prophezeiungen zu verlieren und verwahrte sie in einem Gewölbe des Jupitertempels auf dem Kapitol in Rom.

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks