Freier Religionsunterricht: Unterschied zwischen den Versionen

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Ein '''Freier christlicher Religionsunterricht''' wurde von [[Rudolf Steiner]] an der [[Wikipedia:1919|1919]] in [[Wikipedia:Stuttgart|Stuttgart]] begründeten [[Freie Waldorfschule Stuttgart|Waldorfschule]] für die jene Schüler eingerichtet, deren Eltern für ihre Kinder keinen [[Konfession|konfessionellen]] [[Religion]]sunterricht wünschten.
Ein '''Freier christlicher Religionsunterricht''' wurde von [[Rudolf Steiner]] an der [[Wikipedia:1919|1919]] in [[Wikipedia:Stuttgart|Stuttgart]] begründeten [[Freie Waldorfschule Stuttgart|Waldorfschule]] für die jene Schüler eingerichtet, deren Eltern für ihre Kinder keinen [[Konfession|konfessionellen]] [[Religion]]sunterricht wünschten. Die Bezeichnung stammt allerdings nicht von Steiner selbst, sondern wurde erst 1968 durch das Internationale Religionslehrergremium beschlossen. Rudolf Steiner sprach stets nur von einem  „freien“, d.h. nicht kirchlich-konfessionell gebundenen Religionsunterricht, da die [[Waldorfpädagogik]] nicht auf ein bestimmtes [|Religion|relgigiöses]] [[Bekenntnis]], sondern auf das Allgemein-Menschliche ausgerichtet sei.
 
{{GZ|Dieses Allgemein-Menschliche im Unterrichts- und Erziehungswesen,
das ich für die verschiedensten Unterrichtszweige charakterisieren
mußte, das muß sich im Waldorfschul-Prinzip besonders dadurch ausleben,
daß diese Waldorfschule nach keiner Richtung hin eine Schule
der religiösen oder philosophischen Überzeugung oder eine Schule einer
bestimmten Weltanschauung ist. Und nach dieser Richtung war es ja
natürlich notwendig, gerade für ein Schulwesen, das sich aus der Anthroposophie
heraus entwickelt hat, darauf hinzuarbeiten, daß nun
ja diese Waldorfschule weit, weit davon entfernt sei, etwa eine Anthroposophenschule
zu werden oder eine anthroposophische Schule zu
sein. Das darf sie ganz gewiß nicht sein. Man möchte sagen: jeden
Tag aufs neue strebt man wieder danach, nun ja nicht irgendwie durch
den Übereifer eines Lehrers, oder durch die ehrliche Überzeugung, die
ja selbstverständlich bei den Waldorfschullehrern für die Anthroposophie
vorhanden ist, da sie Anthroposophen sind, irgendwie in eine
anthroposophische Einseitigkeit zu verfallen. Der Mensch, nicht der
Mensch einer bestimmten Weltanschauung, muß in didaktisch-pädagogischer
Beziehung einzig und allein für das Waldorfschul-Prinzip
in Frage kommen.
 
Damit war es geboten, den Religionsgesellschaften gegenüber, ich
möchte sagen, eben ein durch die Zeit gefordertes Kompromiß einzugehen,
gar nicht auf etwas anderes zunächst zu sehen für die Schüler,
als auf das Methodische einer allgemein-menschlichen Erziehung. Der
Religionsunterricht wurde zunächst den Religionslehrern ihrer Konfession
übergeben. Und so wird der katholische Religionsunterricht in
der Waldorfschule von dem katholischen Priester, der evangelische Religionsunterricht
von dem evangelischen Pfarrer erteilt.
 
Aber es gibt eine ganze Menge von Schülern in der Waldorfschule,
die, wie man in Mitteleuropa sagt, eben Dissidentenkinder sind, die
einfach keinen Religionsunterricht nehmen würden, wenn eben nur
katholischer und evangelischer Religionsunterricht da wäre. Dadurch,
daß sich die Waldorfschule zunächst aus dem Proletarierstande herausgebildet
hat - sie war die Schule eines Industrieunternehmens, sie ist
das heute längst nicht mehr, sie ist eine Schule für alle Klassen geworden
- , waren anfangs namentlich überwiegend konfessionslose Kinder
da. Diese Kinder hätten nun, wie es ja in sehr vielen Schulen Mitteleuropas
der Fall ist, gar keinen Religionsunterricht gehabt. So haben
wir gerade für diese Kinder, die sonst gar keinen Religionsunterricht
gehabt hätten, einen sogenannten freien Religionsunterricht eingeführt.
Dieser freie Religionsunterricht, der ist auch nicht darauf abgestellt,
theoretische Anthroposophie in die Waldorfschule hineinzutragen. Das
würde ganz falsch sein. Die anthroposophische Überzeugung ist bis
heute für Erwachsene ausgebildet, und man spricht ja über Anthroposophie
zu Erwachsenen. Man kleidet daher alle Begriffe, alle Empfindungen
in dasjenige, was für Erwachsene gut ist. Dasjenige, was in
unserer anthroposophischen Literatur für Erwachsene bestimmt ist,
einfach zu nehmen und es nun in die Schule hineinzutragen, hieße gerade
dem Pädagogisch-Didaktischen im Waldorfschul-Prinzip schnurstracks
zuwiderhandeln. Da handelt es sich darum, für diejenigen Kinder,
die uns übergeben werden, freiwillig übergeben werden zum freien
religiösen Unterricht, nun auch im strengsten Sinne des Wortes wiederum
das religiöse Element, und was ihnen als Religionsunterricht zu
geben ist, abzulesen von ihrem Lebensalter.
 
So darf man auch nicht unter dem freien Religionsunterricht der
Waldorfschule, der sogar mit einem entsprechenden Kultus verbunden
ist, sich etwas vorstellen wie eine in die Schule hineingetragene anthroposophische
Weltanschauung. Man wird gerade sehen, daß in diesem
freien Religionsunterricht überall dem Lebensalter des Kindes in ausgiebigstem
Maße Rechnung getragen wird. Wir können nichts dafür,
daß dieser freie Religionsunterricht in der Waldorfschule von den meisten
Kindern besucht wird, trotzdem wir es uns zur strengen Regel
machen, nur auf Wunsch der Eltern das Kind zu diesem freien Religionsunterricht
zuzulassen. Allein es spielt ja dabei doch das pädagogisch-
didaktische Element eine außerordentliche Rolle, und da unser
freier Religionsunterricht wiederum im strengsten Sinne ein christlicher
ist, so schicken diejenigen Eltern, die ihre Kinder christlich erzogen,
aber nach dem Schulprinzip, nach der Pädagogik und Didaktik
der Waldorfschule unterrichtet und erzogen wissen wollen, uns
eben ihre Kinder in den freien Religionsunterricht, der ein durch und
durch christlicher ist, der sogar so christlich wirkt, daß die ganze
Schule in eine Atmosphäre von Christlichkeit getaucht ist. Feste, Weihnachtsfest,
Osterfest, werden bei uns von den Kindern aus dem freien
christlichen Religionsunterricht heraus mit einer ganz anderen Innigkeit
empfunden, als das sonst bei diesen Festen heute der Fall ist.
Nun handelt es sich darum, daß gerade im Religionsunterricht das
Lebensalter des Kindes berücksichtigt werden muß. Gerade da ist es
von großem Schaden, wenn irgend etwas zu früh an das Kind herangetragen
wird. Deshalb ist unser freier Religionsunterricht so eingerichtet,
daß das Kind zunächst zur Erfassung des Allgemein-Göttlichen
in der Welt kommt.
 
Sie erinnern sich, wir unterrichten das Kind zunächst, wenn es in
die Schule hereinkommt zwischen dem siebenten und neunten oder
zehnten Jahre so, daß wir die Pflanzen sprechen lassen, die Wolken
sprechen lassen, die Quellen sprechen lassen. Die ganze Umgebung des
Menschenkindes ist belebt. Da läßt sich nun leicht der Unterricht hinführen
zu dem die Welt durchlebenden, allgemeinen göttlichen Vaterprinzip.
Daß alles seinen Ursprung in einem Göttlichen hat, das läßt
sich für das Kind, gerade wenn man den übrigen Unterricht so führt,
wie ich es geschildert habe, in einer vorzüglichen Weise hinstellen.
Und so knüpfen wir an dasjenige an, was das Kind weiß, wissen
lernt auf märchenhafte Weise, auf phantasiemäßige Weise über die
Natur. An das knüpfen wir an, um das Kind zunächst gegenüber
allem, was in der Welt geschieht, zu einer gewissen Dankbarkeit zu
führen. Dankbarkeit gegenüber allem, was Menschen uns tun, aber
gegenüber allem auch, was uns die Natur gewährt, das ist dasjenige,
was das religiöse Empfinden auf den richtigen Weg bringt. Überhaupt
ist die Erziehung zur Dankbarkeit etwas unendlich Wichtiges und Bedeutungsvolles.
Der Mensch sollte sich dazu entwickeln, wirklich auch ein gewisses
Dankesgefühl zu haben, wenn - vielleicht klingt das sogar paradox,
und dennoch ist es tief wahr - zur rechten Zeit, wo er dies oder jenes
zu tun hat, ihm das geeignete Wetter zuteil wird. Gegenüber dem All,
dem Kosmos Dankbarkeit entwickeln zu können, wenn das auch, ich
möchte sagen, in einem imaginativen Welterleben nur geschehen kann,
das ist dasjenige, was unsere ganze Weltempfindung religiös vertiefen
kann.
 
Zu dieser Dankbarkeit brauchen wir dann die Liebe gegenüber
allem. Und wir können wiederum leicht, wenn wir das Kind also bis
gegen das neunte, zehnte Jahr hinführen, wie es angedeutet worden
ist, in all dem Belebten, das wir dem Kind hinstellen, zugleich etwas für
das Kind offenbaren, was das Kind liebgewinnen muß. Liebe zu jeder
Blume, Liebe zu jedem Baum, Liebe zu Sonnenschein und Regen, das ist
dasjenige, was das Weltempfinden wiederum religiös vertiefen kann.
Wenn wir Dankbarkeit und Liebe in dem Kinde vor dem zehnten
Jahre entwickeln, dann können wir auch in der richtigen Weise dasjenige
entwickeln, was wir die Pflicht nennen. Die Pflicht durch Gebote
zu früh entwickeln, führt zu keiner religiösen Innigkeit. Wir müssen
vor allen Dingen in dem Kinde Dankbarkeit und Liebe entwickeln,
dann entfalten wir das Kind sowohl ethisch-moralisch in der richtigen
Weise wie auch religiös.
 
Wer im tiefsten Sinne des Wortes das Kind im christlichen Sinne
erziehen will, der hat nötig, darauf zu sehen, daß dasjenige, was sich
vor die Welt in dem Mysterium von Golgatha hinstellt, in alledem,
was an die Persönlichkeit und Gotteswesenhaftigkeit des Christus Jesus
geknüpft ist, sich vor dem neunten und zehnten Jahre nicht in der
richtigen Weise vor die kindliche Seele hinstellen läßt. Großen Gefahren
setzt man das Kind aus, wenn man es nicht vor diesem Lebensmomente
in das allgemein Göttliche einführt, ich möchte sagen:
in das göttliche Vaterprinzip; ihm zeigt, wie in allem in der Natur das
Göttliche lebt, wie in aller Menschenentwickelung das Göttliche lebt,
wie überall, wo wir hinschauen, in den Steinen, aber auch in dem
Herzen des anderen Menschen, in jeder Tat, die der andere Mensch
dem Kinde tut, überall das Göttliche lebt. Dieses allgemein Göttliche,
das müssen wir in Dankbarkeit empfinden, in Liebe das Kind fühlen
lehren durch die selbstverständliche Autorität des Lehrers. Dann bereiten
wir uns vor, zu diesem Mysterium von Golgatha gerade zwischen
dem neunten und zehnten Jahre die richtige Stellung bekommen
zu können.
 
Da ist es so unendlich wichtig, das Menschenwesen auch hinsichtlich
seiner zeitlichen Entwickelung verstehen zu lernen. Versuchen Sie es
nur einmal, sich den Unterschied klarzumachen, der besteht, wenn
man dem Kinde irgend etwas vom Neuen Testament beibringen will
im siebenten und achten Lebensjahre, oder - nachdem man zunächst
aus jedem Naturwesen das Gottesbewußtsein im allgemeinen hat anregen
wollen - mit diesem Neuen Testament kommt zwischen dem
neunten und zehnten Lebensjahre, um es nachher erst als solches dem
Kinde zu entwickeln. Da ist es in der richtigen Weise vorbereitet, da
lebt es sich in das ganz überweltlich Große hinein, das im Evangelium
enthalten ist. Bringen Sie es ihm vorher bei, dann bleibt es Wort, dann
bleibt es starrer nüchterner Begriff, dann ergreift es nicht den ganzen
Menschen, dann laufen Sie Gefahr, daß das Religiöse im Kinde verhärtet,
und der Mensch es als verhärtetes Element durch das Leben
trägt, nicht in Lebendigkeit als etwas sein ganzes Weltempfinden
Durchsetzendes. Man bereitet das Kind im schönsten Maße vor, die
Glorie des Christus Jesus in sich aufzunehmen vom neunten, zehnten
Jahre an, wenn man es vorher in die allgemeine Göttlichkeit der ganzen
Welt hineinführt.
 
Und das strebt gerade der nun auch auf das rein Menschliche gebaute
Religionsunterricht an, den wir als freien christlichen Religionsunterricht
in der Waldorfschule erteilen für diejenigen Kinder, deren
Eltern dies wünschen, die eigentlich immer mehr werden gegenüber
den anderen, und den wir auch in einen gewissen Kultus gekleidet
haben. Sonntäglich findet für diese Kinder, die diesem freien Religionsunterricht
beiwohnen, eine Kultushandlung statt. Wenn diese Kinder
aus der Schule entlassen werden, wird diese Kultushandlung metamorphosiert.
Auch eine Kultushandlung, die sogar dem Meßopfer sehr
ähnlich ist, aber durchaus dem entsprechenden Lebensalter angemessen
ist, ist verbunden mit diesem auf den freien Religionsunterricht gestützten
religiösen Leben in der Waldorfschule.
 
Es war besonders schwierig, dasjenige in das religiöse Element hineinzubringen,
was wir in der Waldorfschule ausbilden wollen: das
rein menschliche Entwickelungsprinzip. Denn in bezug auf das Religiöse
sind ja heute die Menschen noch am wenigsten geneigt, von
ihrem Speziellen abzugehen. Man redet vielfach von einem allgemeinmenschlich
Religiösen. Das aber ist doch bei dem einzelnen Menschen
so gefärbt, wie seine Spezial-Religionsgemeinschaft es ihm färbt. Wenn
wir die Aufgabe der Menschheit in die Zukunft hinein richtig verstehen,
so wird dieser Aufgabe schon auch im rechten Maße gedient
durch diesen freien religiösen Unterricht, mit dem wir in der Waldorfschule
eigentlich erst begonnen haben.
 
Anthroposophie, so wie diese für Erwachsene heute vorgetragen
wird, wird ganz gewiß nicht in die Waldorfschule hineingetragen;
dagegen dasjenige, wonach der Mensch lechzt: das Ergreifen des Göttlichen
- des Göttlichen in der Natur, des Göttlichen in der Menschheitsgeschichte
- durch das richtige Einstellen auf das Mysterium von
Golgatha. Das ist es, was im rechten Sinne hineinzutragen auch in den
Unterricht wir als unsere Aufgabe betrachten.
 
Damit erreichen wir es aber auch, daß wir dem ganzen Unterricht
dasjenige Kolorit geben können, das er braucht. Ich habe schon gesagt,
der Lehrer muß eigentlich dazu kommen, daß alles Unterrichten für
ihn eine sittliche, eine religiöse Tat werde, daß er sozusagen in dem
Unterrichten selber eine Art Gottesdienst sehe.|307|203ff}}
 
== Literatur ==
 
#Rudolf Steiner: ''Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung'', [[GA 307]] (1986), ISBN 3-7274-3070-2 {{Vorträge|307}}
 
{{GA}}
 
== Weblinks ==
 
* [https://www.forschung-waldorf.de/service/downloadbereich/detail/?tx_news_pi1%5Bnews%5D=546&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=news&cHash=1803d4cfe63e14c0186c9237ff02bd7d Lehrplan für den Freien Religionsunterricht an Waldorfschulen] - [https://www.forschung-waldorf.de Pädagogische Forschungsstelle] beim [[Bund der Freien Waldorfschulen]]


[[Kategorie:Waldorfpädagogik]] [[Kategorie:Waldorfschule]] [[Kategorie:Religion]]
[[Kategorie:Waldorfpädagogik]] [[Kategorie:Waldorfschule]] [[Kategorie:Religion]]

Version vom 27. August 2017, 21:36 Uhr

Ein Freier christlicher Religionsunterricht wurde von Rudolf Steiner an der 1919 in Stuttgart begründeten Waldorfschule für die jene Schüler eingerichtet, deren Eltern für ihre Kinder keinen konfessionellen Religionsunterricht wünschten. Die Bezeichnung stammt allerdings nicht von Steiner selbst, sondern wurde erst 1968 durch das Internationale Religionslehrergremium beschlossen. Rudolf Steiner sprach stets nur von einem „freien“, d.h. nicht kirchlich-konfessionell gebundenen Religionsunterricht, da die Waldorfpädagogik nicht auf ein bestimmtes [|Religion|relgigiöses]] Bekenntnis, sondern auf das Allgemein-Menschliche ausgerichtet sei.

„Dieses Allgemein-Menschliche im Unterrichts- und Erziehungswesen, das ich für die verschiedensten Unterrichtszweige charakterisieren mußte, das muß sich im Waldorfschul-Prinzip besonders dadurch ausleben, daß diese Waldorfschule nach keiner Richtung hin eine Schule der religiösen oder philosophischen Überzeugung oder eine Schule einer bestimmten Weltanschauung ist. Und nach dieser Richtung war es ja natürlich notwendig, gerade für ein Schulwesen, das sich aus der Anthroposophie heraus entwickelt hat, darauf hinzuarbeiten, daß nun ja diese Waldorfschule weit, weit davon entfernt sei, etwa eine Anthroposophenschule zu werden oder eine anthroposophische Schule zu sein. Das darf sie ganz gewiß nicht sein. Man möchte sagen: jeden Tag aufs neue strebt man wieder danach, nun ja nicht irgendwie durch den Übereifer eines Lehrers, oder durch die ehrliche Überzeugung, die ja selbstverständlich bei den Waldorfschullehrern für die Anthroposophie vorhanden ist, da sie Anthroposophen sind, irgendwie in eine anthroposophische Einseitigkeit zu verfallen. Der Mensch, nicht der Mensch einer bestimmten Weltanschauung, muß in didaktisch-pädagogischer Beziehung einzig und allein für das Waldorfschul-Prinzip in Frage kommen.

Damit war es geboten, den Religionsgesellschaften gegenüber, ich möchte sagen, eben ein durch die Zeit gefordertes Kompromiß einzugehen, gar nicht auf etwas anderes zunächst zu sehen für die Schüler, als auf das Methodische einer allgemein-menschlichen Erziehung. Der Religionsunterricht wurde zunächst den Religionslehrern ihrer Konfession übergeben. Und so wird der katholische Religionsunterricht in der Waldorfschule von dem katholischen Priester, der evangelische Religionsunterricht von dem evangelischen Pfarrer erteilt.

Aber es gibt eine ganze Menge von Schülern in der Waldorfschule, die, wie man in Mitteleuropa sagt, eben Dissidentenkinder sind, die einfach keinen Religionsunterricht nehmen würden, wenn eben nur katholischer und evangelischer Religionsunterricht da wäre. Dadurch, daß sich die Waldorfschule zunächst aus dem Proletarierstande herausgebildet hat - sie war die Schule eines Industrieunternehmens, sie ist das heute längst nicht mehr, sie ist eine Schule für alle Klassen geworden - , waren anfangs namentlich überwiegend konfessionslose Kinder da. Diese Kinder hätten nun, wie es ja in sehr vielen Schulen Mitteleuropas der Fall ist, gar keinen Religionsunterricht gehabt. So haben wir gerade für diese Kinder, die sonst gar keinen Religionsunterricht gehabt hätten, einen sogenannten freien Religionsunterricht eingeführt. Dieser freie Religionsunterricht, der ist auch nicht darauf abgestellt, theoretische Anthroposophie in die Waldorfschule hineinzutragen. Das würde ganz falsch sein. Die anthroposophische Überzeugung ist bis heute für Erwachsene ausgebildet, und man spricht ja über Anthroposophie zu Erwachsenen. Man kleidet daher alle Begriffe, alle Empfindungen in dasjenige, was für Erwachsene gut ist. Dasjenige, was in unserer anthroposophischen Literatur für Erwachsene bestimmt ist, einfach zu nehmen und es nun in die Schule hineinzutragen, hieße gerade dem Pädagogisch-Didaktischen im Waldorfschul-Prinzip schnurstracks zuwiderhandeln. Da handelt es sich darum, für diejenigen Kinder, die uns übergeben werden, freiwillig übergeben werden zum freien religiösen Unterricht, nun auch im strengsten Sinne des Wortes wiederum das religiöse Element, und was ihnen als Religionsunterricht zu geben ist, abzulesen von ihrem Lebensalter.

So darf man auch nicht unter dem freien Religionsunterricht der Waldorfschule, der sogar mit einem entsprechenden Kultus verbunden ist, sich etwas vorstellen wie eine in die Schule hineingetragene anthroposophische Weltanschauung. Man wird gerade sehen, daß in diesem freien Religionsunterricht überall dem Lebensalter des Kindes in ausgiebigstem Maße Rechnung getragen wird. Wir können nichts dafür, daß dieser freie Religionsunterricht in der Waldorfschule von den meisten Kindern besucht wird, trotzdem wir es uns zur strengen Regel machen, nur auf Wunsch der Eltern das Kind zu diesem freien Religionsunterricht zuzulassen. Allein es spielt ja dabei doch das pädagogisch- didaktische Element eine außerordentliche Rolle, und da unser freier Religionsunterricht wiederum im strengsten Sinne ein christlicher ist, so schicken diejenigen Eltern, die ihre Kinder christlich erzogen, aber nach dem Schulprinzip, nach der Pädagogik und Didaktik der Waldorfschule unterrichtet und erzogen wissen wollen, uns eben ihre Kinder in den freien Religionsunterricht, der ein durch und durch christlicher ist, der sogar so christlich wirkt, daß die ganze Schule in eine Atmosphäre von Christlichkeit getaucht ist. Feste, Weihnachtsfest, Osterfest, werden bei uns von den Kindern aus dem freien christlichen Religionsunterricht heraus mit einer ganz anderen Innigkeit empfunden, als das sonst bei diesen Festen heute der Fall ist. Nun handelt es sich darum, daß gerade im Religionsunterricht das Lebensalter des Kindes berücksichtigt werden muß. Gerade da ist es von großem Schaden, wenn irgend etwas zu früh an das Kind herangetragen wird. Deshalb ist unser freier Religionsunterricht so eingerichtet, daß das Kind zunächst zur Erfassung des Allgemein-Göttlichen in der Welt kommt.

Sie erinnern sich, wir unterrichten das Kind zunächst, wenn es in die Schule hereinkommt zwischen dem siebenten und neunten oder zehnten Jahre so, daß wir die Pflanzen sprechen lassen, die Wolken sprechen lassen, die Quellen sprechen lassen. Die ganze Umgebung des Menschenkindes ist belebt. Da läßt sich nun leicht der Unterricht hinführen zu dem die Welt durchlebenden, allgemeinen göttlichen Vaterprinzip. Daß alles seinen Ursprung in einem Göttlichen hat, das läßt sich für das Kind, gerade wenn man den übrigen Unterricht so führt, wie ich es geschildert habe, in einer vorzüglichen Weise hinstellen. Und so knüpfen wir an dasjenige an, was das Kind weiß, wissen lernt auf märchenhafte Weise, auf phantasiemäßige Weise über die Natur. An das knüpfen wir an, um das Kind zunächst gegenüber allem, was in der Welt geschieht, zu einer gewissen Dankbarkeit zu führen. Dankbarkeit gegenüber allem, was Menschen uns tun, aber gegenüber allem auch, was uns die Natur gewährt, das ist dasjenige, was das religiöse Empfinden auf den richtigen Weg bringt. Überhaupt ist die Erziehung zur Dankbarkeit etwas unendlich Wichtiges und Bedeutungsvolles. Der Mensch sollte sich dazu entwickeln, wirklich auch ein gewisses Dankesgefühl zu haben, wenn - vielleicht klingt das sogar paradox, und dennoch ist es tief wahr - zur rechten Zeit, wo er dies oder jenes zu tun hat, ihm das geeignete Wetter zuteil wird. Gegenüber dem All, dem Kosmos Dankbarkeit entwickeln zu können, wenn das auch, ich möchte sagen, in einem imaginativen Welterleben nur geschehen kann, das ist dasjenige, was unsere ganze Weltempfindung religiös vertiefen kann.

Zu dieser Dankbarkeit brauchen wir dann die Liebe gegenüber allem. Und wir können wiederum leicht, wenn wir das Kind also bis gegen das neunte, zehnte Jahr hinführen, wie es angedeutet worden ist, in all dem Belebten, das wir dem Kind hinstellen, zugleich etwas für das Kind offenbaren, was das Kind liebgewinnen muß. Liebe zu jeder Blume, Liebe zu jedem Baum, Liebe zu Sonnenschein und Regen, das ist dasjenige, was das Weltempfinden wiederum religiös vertiefen kann. Wenn wir Dankbarkeit und Liebe in dem Kinde vor dem zehnten Jahre entwickeln, dann können wir auch in der richtigen Weise dasjenige entwickeln, was wir die Pflicht nennen. Die Pflicht durch Gebote zu früh entwickeln, führt zu keiner religiösen Innigkeit. Wir müssen vor allen Dingen in dem Kinde Dankbarkeit und Liebe entwickeln, dann entfalten wir das Kind sowohl ethisch-moralisch in der richtigen Weise wie auch religiös.

Wer im tiefsten Sinne des Wortes das Kind im christlichen Sinne erziehen will, der hat nötig, darauf zu sehen, daß dasjenige, was sich vor die Welt in dem Mysterium von Golgatha hinstellt, in alledem, was an die Persönlichkeit und Gotteswesenhaftigkeit des Christus Jesus geknüpft ist, sich vor dem neunten und zehnten Jahre nicht in der richtigen Weise vor die kindliche Seele hinstellen läßt. Großen Gefahren setzt man das Kind aus, wenn man es nicht vor diesem Lebensmomente in das allgemein Göttliche einführt, ich möchte sagen: in das göttliche Vaterprinzip; ihm zeigt, wie in allem in der Natur das Göttliche lebt, wie in aller Menschenentwickelung das Göttliche lebt, wie überall, wo wir hinschauen, in den Steinen, aber auch in dem Herzen des anderen Menschen, in jeder Tat, die der andere Mensch dem Kinde tut, überall das Göttliche lebt. Dieses allgemein Göttliche, das müssen wir in Dankbarkeit empfinden, in Liebe das Kind fühlen lehren durch die selbstverständliche Autorität des Lehrers. Dann bereiten wir uns vor, zu diesem Mysterium von Golgatha gerade zwischen dem neunten und zehnten Jahre die richtige Stellung bekommen zu können.

Da ist es so unendlich wichtig, das Menschenwesen auch hinsichtlich seiner zeitlichen Entwickelung verstehen zu lernen. Versuchen Sie es nur einmal, sich den Unterschied klarzumachen, der besteht, wenn man dem Kinde irgend etwas vom Neuen Testament beibringen will im siebenten und achten Lebensjahre, oder - nachdem man zunächst aus jedem Naturwesen das Gottesbewußtsein im allgemeinen hat anregen wollen - mit diesem Neuen Testament kommt zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahre, um es nachher erst als solches dem Kinde zu entwickeln. Da ist es in der richtigen Weise vorbereitet, da lebt es sich in das ganz überweltlich Große hinein, das im Evangelium enthalten ist. Bringen Sie es ihm vorher bei, dann bleibt es Wort, dann bleibt es starrer nüchterner Begriff, dann ergreift es nicht den ganzen Menschen, dann laufen Sie Gefahr, daß das Religiöse im Kinde verhärtet, und der Mensch es als verhärtetes Element durch das Leben trägt, nicht in Lebendigkeit als etwas sein ganzes Weltempfinden Durchsetzendes. Man bereitet das Kind im schönsten Maße vor, die Glorie des Christus Jesus in sich aufzunehmen vom neunten, zehnten Jahre an, wenn man es vorher in die allgemeine Göttlichkeit der ganzen Welt hineinführt.

Und das strebt gerade der nun auch auf das rein Menschliche gebaute Religionsunterricht an, den wir als freien christlichen Religionsunterricht in der Waldorfschule erteilen für diejenigen Kinder, deren Eltern dies wünschen, die eigentlich immer mehr werden gegenüber den anderen, und den wir auch in einen gewissen Kultus gekleidet haben. Sonntäglich findet für diese Kinder, die diesem freien Religionsunterricht beiwohnen, eine Kultushandlung statt. Wenn diese Kinder aus der Schule entlassen werden, wird diese Kultushandlung metamorphosiert. Auch eine Kultushandlung, die sogar dem Meßopfer sehr ähnlich ist, aber durchaus dem entsprechenden Lebensalter angemessen ist, ist verbunden mit diesem auf den freien Religionsunterricht gestützten religiösen Leben in der Waldorfschule.

Es war besonders schwierig, dasjenige in das religiöse Element hineinzubringen, was wir in der Waldorfschule ausbilden wollen: das rein menschliche Entwickelungsprinzip. Denn in bezug auf das Religiöse sind ja heute die Menschen noch am wenigsten geneigt, von ihrem Speziellen abzugehen. Man redet vielfach von einem allgemeinmenschlich Religiösen. Das aber ist doch bei dem einzelnen Menschen so gefärbt, wie seine Spezial-Religionsgemeinschaft es ihm färbt. Wenn wir die Aufgabe der Menschheit in die Zukunft hinein richtig verstehen, so wird dieser Aufgabe schon auch im rechten Maße gedient durch diesen freien religiösen Unterricht, mit dem wir in der Waldorfschule eigentlich erst begonnen haben.

Anthroposophie, so wie diese für Erwachsene heute vorgetragen wird, wird ganz gewiß nicht in die Waldorfschule hineingetragen; dagegen dasjenige, wonach der Mensch lechzt: das Ergreifen des Göttlichen - des Göttlichen in der Natur, des Göttlichen in der Menschheitsgeschichte - durch das richtige Einstellen auf das Mysterium von Golgatha. Das ist es, was im rechten Sinne hineinzutragen auch in den Unterricht wir als unsere Aufgabe betrachten.

Damit erreichen wir es aber auch, daß wir dem ganzen Unterricht dasjenige Kolorit geben können, das er braucht. Ich habe schon gesagt, der Lehrer muß eigentlich dazu kommen, daß alles Unterrichten für ihn eine sittliche, eine religiöse Tat werde, daß er sozusagen in dem Unterrichten selber eine Art Gottesdienst sehe.“ (Lit.: GA 307, S. 203ff)

Literatur

  1. Rudolf Steiner: Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung, GA 307 (1986), ISBN 3-7274-3070-2 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks