Sozialorganik

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Sozialorganik ist die Lehre vom sozialen Organismus, seinen Entstehungs- Lebens- und Entfaltungsbedingungen, in seinem Verhältnis zu den in ihm lebenden Menschen. Die Forschungsmethode solcher Sozialwissenschaft ist Goetheanismus, angewandt im sozialen Leben als die sozialorganische Lebenspraxis. (Vorläufige Definition)

„Es gibt keine soziale oder wirtschaftliche Maßnahme, die für sich selbst Bedeutung haben könnte. Alle haben nur insofern Bedeutung, als sie ihren Sinn erfüllen und dem höchsten Produktionsziel dienen, der Hervorbringung der freien Menschen“ (Lit.: Herbert Witzenmann, Sozialorganik)

Nähere Begriffsbestimmung

Für Herbert Witzenmann ist der Nationalökonomische Kurs Rudolf Steiners (GA 340 und zugehöriges Seminar GA 341) ein Kurs über Sozialorganik.[1] Rudolf Steiner selbst verwendet das Wort nicht. In dem Vortrag "Sozialästhetik" gibt Witzenmann im Zuge der Erörterung der Preisformel und des sozialen Hauptgesetzes zu verstehen, daß "sozialorganischer Prozeß" gleichbedeutend mit "volkswirtschaftlicher Prozeß" ist. (e.d., S. 103). Wobei aber Volkswirtschaft als Weltwirtschaft, nicht "national"-ökonomisch zu verstehen ist, wie Witzenmann andernorts betont, z.b. in "Der gerechte Preis", S. 21:

„Im inhaltlichen Sinne ist es völlig unmöglich, von einem Nationalökonomischen Kurs zu sprechen, weil es ein Kurs über Weltwirtschaft oder genauer gesagt, über Weltwirtschaft als Sozialorganik ist. So etwa müßte der Titel lauten nach dem Inhalt dieser Vorträge, die eben zeigen, daß das Soziale und Wirtschaftliche sich nur im Hinblick auf die Weltwirtschaft in unserer Zeit entwickeln können.“ (Lit.: Der gerechte Preis, S. 21)

Die Wendung "das Soziale und Wirtschaftliche" oder "im sozialen und Wirtschaftsleben" ist wegen ihrem häufigen Vorkommen eine nicht zu vernachlässigende Eigentümlichkeit von Witzenmanns Rede. Er meint offenbar, nur von dem Wirtschaftsleben zu sprechen, genüge nicht. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, daß eine Identität gemeint ist. Aber Sozialorganik bezieht sich immer auch auf das soziale Leben, in dem Sinne, daß dieses nicht ausschließlich nur Wirtschaftsleben ist. Gemeint sind vermutlich die Aspekte des Geisteslebens und Rechtsleben, wie sie sich in Witzenmanns Auffassung der Dreigliederung des Wirtschaftslebens, d.h. der Dreigliederung des sozialen und Wirtschaftslebens darstellen. Eine weitere Merkwürdigkeit ist seine Rede von einem "halbfreien" Geistesleben, eigentlich doch ein unmögliches Wort, dessen Verwendung durch Witzenmann verwundert, allerdings auch von Rudolf Steiner selbst im Nationalökonomischen Kurs gebraucht wurde:

„Nun aber, das Wichtige ist nämlich dieses, daß wir vor der Tatsache stehen, daß ja das freie Geistesleben mit einer gewissen Notwendigkeit herausentsteht aus dem Eintritt des Geistes überhaupt in das Wirtschaftsleben. Und dieses freie Geistesleben - ich habe es vorhin gesagt -, es führt dazu, daß reine Konsumenten da sind für die Vergangenheit. Aber wie steht es denn mit diesem freien Geistesleben mit Bezug auf die Zukunft? Da ist es nämlich in einem gewissen Sinn mittelbar produktiv, aber außerordentlich produktiv. Wenn Sie sich nämlich dieses freie Geistesleben auch wirklich befreit denken im sozialen Organismus, so daß tatsächlich immer die Fähigkeiten sich voll entwickeln können, dann wird gerade dieses freie Geistesleben in der Lage sein, einen außerordentlich befruchtenden Einfluß auszuüben auf das halbfreie Geistesleben, auf dasjenige Geistesleben, das in das materielle Schaffen hineingeht. Und da, wenn wir das betrachten, beginnt die Sache eine durchaus volkswirtschaftliche Seite zu bekommen. Wer das Leben unbefangen betrachten kann, der wird sich sagen: Es ist durchaus nicht gleichgültig, ob irgendwo auf einem Gebiet alle diejenigen, die sich im freien Geistesleben betätigen, nun ausgerottet sind - vielleicht dadurch, daß sie nichts mehr zum Konsumieren erhalten können und man das Recht, da zu sein, nur denjenigen zuspricht, die in den materiellen Prozeß eingreifen -, oder ob innerhalb des sozialen Organismus wirklich freie Geistesmenschen existieren können. Diese freien Geistesmenschen haben nämlich die Eigenschaft, daß sie den «Gritzi», die Geistigkeit, bei den anderen loslösen, daß sie ihr Denken beweglicher machen, und daß dadurch die anderen besser in die materiellen Prozesse einzugreifen vermögen.“ (Lit.:GA G, S. 340)

Andernorts, allerdings mit den Worten Götz Rehns, wird Sozialorganik mit Sozialwissenschaft gleichgesetzt. Vom Manuskript des Vortrags "Die soziale Grundidee unserer Zeit" (nicht zu verwechseln mit einem anderen Vortrag Witzenmanns mit gleichem Titel, aber anderem Inhalt), abgedruckt in Witzenmann: Sozialorganik, fehlt offenbar der Anfang, denn der Herausgeber Rehn ergänzte folgend:

„die Aufgabenstellung für meine Ausführungen besteht darin, die gemeinsame Grundidee von Erkenntniswissenschaft (Erkenntnistheorie), Sozialwissenschaft (Sozialorganik) und biologisch-dynamischer Landwirtschaft (menschengemäßer Erdenpflege oder umweltgemäßer Bedürfnisbefriedigung und Menschenpflege) zu entwickeln.“ (Lit.: Witzenmann: Sozialorganik, S. 48)

Witzenmann selbst formuliert auf Seite 54:

„Nun lassen Sie mich zur Sozialwissenschaft übergehen. Wir stimmen wohl alle darin überein, daß für das soziale Leben die Gerechtigkeit von grundlegender Bedeutung ist. für die heutigen Anschauungen über Gerechtigkeit ist zweierlei charakteristisch: 1. daß sie zu den Leistungen der Menschen hinzukommt als Gebot, Verbot, auch Erlaubnis, also selbst nichts leistet, sondern dafür sorgt, daß richtig geleistet wird und das Richtige soll eben das Gerechte sein. 2. Hierbei gilt die Gleichheit als Maßstab, Rechtsgleichheit, auch Chancengleichheit genannt. Hier muß der Grundbedarf (Sockelbedarf: Nahrung, Kleidung, Wohnung, Grundbildung) vom Individualbedarf unterschieden werden. Wie geschieht dies im Sinne von Rudolf Steiners Sozialorganik? Hier ist die Gerechtigkeit nicht eine äußere Regelung der menschlichen Leistungen, sondern ergibt sich aus der planmäßigen Abstimmung der menschlichen Leistungen aufeinander. Das Recht kommt also nicht von außen zu den menschlichen Leistungsprozessen hinzu, sondern wirkt in ihnen, ist also selbst ein leistendes, nicht nur regulatives, sondern produktives Recht.“ (Lit.: Witzenmann: Sozialorganik, S. 54 (In einer Fußnote wird bezügl. diesem Rechtsverständnis auf Witzenmann: Vom vierfachen Ursprung lebendigen Rechts verwiesen)

Aus diesen Verlautbarungen Witzenmanns für sich alleine läßt sich eine Gleichsetzung von Sozialwissenschaft und Sozialorganik nicht ablesen. Denn es heißt anfangs, daß Gerechtigkeit für das soziale Leben von grundlegender Bedeutung ist. Das kann sich so noch nicht auf das dann folgende beziehen, wo dann Gerechtigkeit als die "planmäßige Abstimmung der menschlichen Leistungen aufeinander" enggeführt wird, und es im weiteren auf die Herstellung von Gerechtigkeit durch gerechte Preise hinausläuft. Dies ist dann die Sozialorganik im Sinne von Wirtschaftswissenschaft.

Will mann Sozialorganik als Sozialwissenschaft verstehen, ist es dagegen eher angebracht, auf die besondere Methodik solcher Sozialwissenschaft zu verweisen, durch die die Bezeichnung "Organik" gerechtfertigt wäre. In dem genannten Text des Vortrages findet sich dazu nichts. In solchem Sinne kann man von Wirtschaftswissenschaft als Sozialorganik sprechen, aber auch allgemeiner von Sozialwissenschaft als Sozialorganik.

Abgrenzung zum Begriff der Sozialästhetik

„Auch im sozialen und Wirtschaftsleben entsteht durch die verschiedenen Ausgestaltungen des Gegenstromprinzips eine ästhetische Mitte, eine Mitte der Versittlichung in den Beratungsgremien. In diesen kann sich der Mensch einerseits so erleben, dass durch die einvernehmlich beratende Lenkung seiner Leistungsschenkungen die soziale Gemeinschaft entsteht. Und andererseits erlebt er sich durch die Gegenschenkung als ein aus der Gemeinschaft entstehendes Wesen. Dies ist möglich durch die Gestaltung des sozialen Kunstwerkes aus den beiden menschlichen ausdrucksschaffenden Grundkräften. Diese vereinigen sich in dem Bewußtsein, dass die neue echte Menschengemeinschaft eine neue vermenschlichte Welt gestaltet. Ähnlich wie Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung dem Suchen der Französischen Revolution nach einer Neugestaltung des sozialen Lebens und des individuellen menschlichen Bewußtseins die Antwort gibt, nach der die Revolution vergeblich verlangt, so gibt das Gegenstromprinzip dem heutigen Suchen nach Sozial- und Bewußtseinsgestaltung eine ästhetische Antwort.

Es ist eine ästhetische Antwort, weil es eine Gestaltung aus den menschlichen Ausdruckskräften und damit eine Ausdrucksgestaltung darstellt, welche das menschliche Sinnverlangen befriedigt.“ (Lit.: Witzenmann: Die Kunst als Muttersprache, 3. Vortrag "Sozialästhetik", S. 117)


„Jedes wahrhaft schöpferische Handeln, also jedes Handeln, welches den Titel des Handelns im vollen Sinne verdient, verfährt also ganz in der gleichen Weise wie der echte Künstler im Gestalten seines Kunstwerkes. Dieser geht von ganz ursprünglichen, sittlich-seelischen Bewegungsimpulsen aus, die ihre vorstellbare Gestalt erst allmählich in der Auseinandersetzung mit dem zu gestaltenden Stoff erhalten, Vorstellungen, also plastisch-gestalthafte Bewusstseinsimpulse, die nicht allmählich innerhalb dieses Prozesses entstehen, sondern in fertiger Form von aussen an ihn herangetragen werden, haben nur die Bedeutung von Orientierungshilfen. Ganz ebenso verfährt der schöpferisch Handelnde auf allen anderen Gebieten. Er geht von einer völlig originellen Uridee aus, deren bestimmte Gestalt sich ihm erst allmählich in der Auseinandersetzung mit dem Stoff seines Handelns unter Erkundung der in ihm liegenden Gestaltungsmöglichkeiten ergibt. Daher ist es nicht nur berechtigt, von Sozialorganik zu sprechen, womit auf die Lebendigkeit des echten sozialen Gestaltungsimpulses hingedeutet wird. Es ist aus dem soeben angedeuteten Grunde ebenso berechtigt, von Sozialästhetik zu sprechen. Der sozialästhetische Prozess hat in dieser Sicht nicht plastischen, sondern musikalischen Charakter. Zwar schöpft auch der wahrhaft künstlerische Plastiker nicht aus Vorstellungen, sondern aus unvorstellbaren ideellen Urimpulsen. Er gewinnt aber die Anregungen, welche den Fortschritt seiner gestaltenden Arbeit bedingen, durch den jeweils erreichten plastischen Erfolg. Der Musiker dagegen schöpft immer neu gerade aus dem nicht sinnlich Erklingenden, sondern aus seiner überklanglichen Bewegungsfülle, welche alles Erklingende immer wieder in sich auflöst. Auch beim Hören musikalischer Gebilde ist es nicht anders. Auch eine Melodie oder eine zu einer Ganzheit zusammengeschlossenen Tonfolge wird nicht durch das Aneinanderreihen einzelner Töne gehört. Vielmehr wird sie, wenn sie überhaupt musikalisch gehört wird, als ein Auflösen alles Tonalen in ein Übertonales gehört. Ebenso schöpft der opfernde Täter aus einem Übertätlichen, das erst sekundär in die plastische Gestaltung übergeht. Der Erkennende dagegen gewinnt ähnlich wie der Plastiker, aus jeweils Gestaltetem immer neue Gestaltungsimpulse, zu deren Verwirklichung er allerdings des inneren neuen Schöpfens aus dem Musikalisch-Übergestaltlichen bedarf. Dieses ist aber im Falle des Erkennens sekundär. Der allererste Ausgangspunkt des ehrfürchtigen Erkennens muss allerdings ebenfalls ein urbildlich-übergestalthafter sein. Die weiteren Gestaltungsimpulse gehen aber von jeweils Gestaltetem, nicht vom Gestaltlosen aus. Das opfernde Handeln dagegen empfängt seine ihm ureigenen Gestaltungsimpulse aus dem Gestaltlosen. Insoweit es auch aus dem Gestalteten Anregungen erhält, sind dies nicht Handlungsimpulse im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern Erkenntnisimpulse. Im vollen Menschenwesen durchdringen sich eben ständig beide Prozesse im Gegenstrom.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass echte Erkenntnis ehrfürchtige Andacht vor den Werken der Weltenplastik ist, dass echtes Handeln opfernder Weihedienst im Durchtönen der Weltenplastik mit Menschlichkeitsmusik ist. Echtes Erkennen ist Ehrfurcht vor der Weltenplastik. Echtes Handeln ist Opfer der Menschlichkeitsmusik.“ (Lit.: Witzenmann: Die 'Philosophie der Freiheit' als Grundlage sozialästhetischer Gestaltung, 1979)

Gegenstromprinzip und Assoziation

„Rudolf Steiner hat ja in seiner Sozialorganik zum ersten Male darauf hingewiesen, dass sich in den menschlichen Arbeitsverrichtungen, also im wirtschaftlichen und sozialen Leben, zwei Wertbildungsströme begegnen und durchdringen. Es gibt nämlich zwei Arten von Arbeitsleistungen und den ihnen entsprechenden Wertbildungen. Die eine Arbeitsart setzt an der Natur, an den Naturprodukten an. Dies beginnt schon in der Förderung und Lagerung der Rohstoffe und setzt sich fort in der Herstellung der aus ihnen gefertigten Gebilde. Man kann diese Arbeit Veredelungsarbeit und die durch sie entstehenden Werte Veredelungswerte nennen. Die andere Arbeitsart setzt nicht unmittelbar an der Naturgrundlage, sondern an der Arbeit selbst an. Dies geschieht dadurch, dass die Arbeitsvorgänge sinnvoll gegliedert und Vollzugsträgern zugewiesen werden, die für sie spezifisch zuständig sind. Dies ist im Zeitalter der Arbeitsteilung stets der Fall. Eine solche Fortbildung der Arbeitsvorgänge geschieht dadurch, dass menschliche Intelligenz auf sie angewendet wird. Dies kann in der mannigfaltigsten Weise geschehen. Überall dort, wo durch Anwendung menschlicher Intelligenz Arbeit auf irgend eine Weise organisiert wird, haben wir es mit dieser zweiten Arbeitsart zu tun und entstehen die von ihr hervorgebrachten Werte. Man kann diese Arbeitsart Organisationsarbeit, die von ihr geschaffenen Werte Organisationswerte nennen.

Es ist nun deutlich, dass in beiden Fällen, sowohl in der Veredelungsarbeit als auch in der Organisationsarbeit die beiden Strömungen zusammenwirken, auf die wir im Verfolgen eines Beobachtungsvorgangs aufmerksam geworden sind. Nur stellt sich dieses Zusammenwirken auf verschiedene Weise dar, es ist in jedem der beiden Fälle anders geartet. Es kann keine Veredelungsarbeit geben, ohne dass wir unsere beobachtende Empfänglichkeit der Natur mit der Vielfalt ihrer Stoffe und Prozesse zuwenden. Eine Veredelungsarbeit kann es aber auch nicht geben, ohne dass mit diesen Beobachtungen Begriffe verbunden werden. Denn erst durch dieses Anheften der allgemeinen Begriffe an den Beobachtungen treten an diesen die Merkmale ans Licht, an denen die Arbeit ansetzen und durch die eine Arbeitsmassnahme zweckmässig an die andere angefügt werden kann. Wir haben es also hier mit einem Gegenstrom-Prozess zu tun, welcher demjenigen im Beobachten und Erkennen entspricht. Aber es ist unverkennbar, dass hier Übergewicht dessen vorliegt, was der Natur angehört. Denn von dorther wird alles bestimmt, was durch die Veredelungsarbeit geschehen kann.

Was nun die Organisationsarbeit anlangt, so kann es keine solche geben, ohne dass die entsprechenden Beobachtungen an der Veredelungsarbeit gemacht werden. Und diese Beobachtungen enthalten ja auch die Beobachtungen, welche die natürlichen Stoffe betreffen. Es kann aber ferner auch keine Organisationsarbeit geben, ohne dass auf die Veredelungsarbeit die organisierenden Begriffe angewendet werden. Wir haben es also wiederum mit einem Gegenstrom- Prozess zu tun, welcher dem Gegenstrom im Beobachten und Erkennen entspricht. Diesmal aber mit einem solchen, bei dem ein Übergewicht dessen vorliegt, was der menschlichen Denktätigkeit angehört und damit aus der Entwicklung der geistigen, der eigentlich menschlichen Fähigkeiten des Menschen hervorgeht. Denn von dorther wird alles bestimmt, was durch die Organisationsarbeit geschehen kann.

Wir haben es also bei den beiden Arbeitsarten und Wertbildungen mit einem doppelten Gegenstrom zu tun, wobei das Übergewicht jeweils verschieden gelagert ist. Damit ergeben sich nun aber auch die Beurteilungsmassstäbe für diese beiden Arbeits- und Wertbildungsarten und damit für das ganze wirtschaftliche und soziale Leben.“ (Lit.: Witzenmann: Die 'Philosophie der Freiheit' als Grundlage sozialästhetischer Gestaltung, 1979, S. 19f.)


„Eine sachgemässe Ordnung und Fortbildung aller menschlichen Obliegenheiten und Massnahmen ist aber nur möglich, wenn dieser urbildliche Gegenstrom als Gestaltungsprinzip voll bewusst erkannt und im einzelnen Falle in der entsprechenden Modifikation planvoll durchgeführt wird.

Hieraus ergibt sich, dass sich zwischen den polaren Strömungen eine dritte mittlere Zone bildet und ihrer Aufgabe gemäss bewusst gestaltet und gepflegt werden muss. (...) [Es] muss gesagt werden, durch welche Massnahmen innerhalb des wirtschaftlichen Kräftespiels, des sozialorganischen Gegenstromgeschehens, diese Ehrfurcht als bewegende Kraft wirken kann. Offenbar kommt dem mittleren Bereich die Aufgabe zu, darüber zu wachen, dass die beiden Kräfteströme des sozialen Lebens ihrem Wesen gemäss zur Geltung kommen. Dies ist aber nur möglich durch die Beratung der sachverständigen Menschen, die in beiden Bereichen tätig sind. Diese Beratung muss ja der Ehrfurcht vor dem Menschen und der Menschen untereinander gelten. Sie muss also einerseits der Einleitung der Massnahmen gelten, durch welche dem freien Bildungswesen die nötigen Existenzmittel aus den Arbeitserträgen zugeleitet werden können. Sie muss anderseits alle Hindernisse beseitigen helfen, welche die Entfaltung freier Persönlichkeiten und die Ausbreitung ihrer Wirksamkeit hemmen. Ihre leitenden Gesichtspunkte müssen daher die Prinzipien sein, welche für die Veredelungs- und die Organisationsarbeit gelten: einerseits die Entfaltung freier Fähigkeiten, welche nicht den Bedürfnissen dienen, sondern diese im Sinne der Menschenwürde in ihren Dienst stellen, anderseits die Entwicklung solcher Erzeugnisse und Herstellungsprozesse, die geeignet sind, eine Zivilisation entstehen zu lassen, die nicht zwingenden, sondern freilassenden Bedürfnissen Raum gibt.

Dieser mittlere Bereich des sozialen Lebens im allgemeinen wie auch jedes einzelne Gebilde dieses Bereiches hat also die Aufgabe, auf dem Wege assoziativer Beratung das ausgeglichene Ineinandergreifen der beiden Ströme des Gegenstromgeschehens zu überwachen und zu fördern.“ (Lit.: Witzenmann, e.d., S. 21f.)

„Dieser ständige Gegenstrom zweier Ströme, die ineinander übergeführt werden, deren Gegenläufigkeit, macht den ganzen sozialorganischen Prozeß aus, und der Ausgleich der Strömungen, die beim Zusammen- und Gegeneinanderwirken der beiden polaren Prozesse entstehen, ist eine der wichtigsten sozialorganischen Aufgaben. Diese Aufgaben haben die Assoziationen zu erfüllen, indem sie die Wertbildungen abstimmen, indem sie den Anteil der beiden Ströme im sozialorganischen Prozess im Gleichgewicht haben durch entsprechende Kapitallenkung, aber auch durch Lenkung von Arbeitskräften. Dadurch, dass in der rechten Weise in diesem ganzen Strom die Kapitalströme gelenkt werden, entstehen die gerechten, richtigen Preise.“ (Lit.: Witzenmann, Der gerechte Preis, S. 65)

Zivilisationsprinzip

„In Rudolf Steiners 'Theosophie' lesen wir den Satz: 'Der Mensch ist ein Gedankenwesen'. Er ist also nicht ein Wesen, das wie Mineralien, Pflanzen und Tiere aus Naturprozessen entsteht, wenigstens nicht im eigentlich menschlichen Teil seines Wesens. Er ist nicht wie die Naturwesen ein Wesen, dem sein Wesensgehalt durch die allgemeinen Prozesse des Bereiches, dem es angehört, verliehen wird. Er ist ein Gedankenwesen, also ein Wesen, welches sich sein Wesen selbst in individueller Weise geben muß und kann. Denn seine Gedanken muß und kann der Mensch selbst hervorbringen. Sein Wesen ist also seine Aufgabe. Er ist Selbstproduzent. Diese Selbstproduktion hängt aber mit einer anderen Produktion zusammen, der Wirklichkeitsproduktion. Diese ist zugleich Selbstproduktion. Er geht als Selbst aus seinem Produzieren der Welt hervor. Dies wird durch die Art seiner Organisation bedingt und ermöglicht.

Hieraus geht eine andere Kultform hervor als die heute dominierende des Leibeskultes. Dieser ist ein Unmenschlichkeitskult, dem jetzt der Kult entgegentritt, in welchem sich der Mensch als Gedankenwesen ergreift und erlebt, - der eigentliche Menschlichkeitskult. Dieser ist ein Produktionskult, während der Leibeskult ein Konsumtionskult ist.

Was ich als Kult und zwar als Produktionskult bezeichne, ist nichts anderes als die Entwickelung eines neuen Zivilisationsprinzips.“ (Lit.: Witzenmann, Geldordnung als Bewußtseinsfrage, S. 14f.)

„Die Kunst kann den Menschen zu dem Begriff seines geistigen Wesens zurückführen. (...) Kunst ist ... Ausdruck. (...) Da die Kunst ihrem Wesen nach ausdruckgeschöpfte Menschheitssubstanz ist, ist sie berufen, die große Heilerin unserer kranken Zivilisation zu sein.“ (Lit.: Witzenmann, Vom vierfachen Quell lebendigen Rechts, S. 42)

Nachweise, Anmerkungen

  1. Die Kunst als Muttersprache der Menschheit, Gideon-Spicker-Verlag, 2008, 3. Vortrag "Sozialästhetik" (1977) , S. 99, Fußnote 14. (es ist unklar, ob die Fußnote von Witzenmann selbst stammt oder vom Herausgeber "Herbert Witzenmann Stiftung" stammt. Es handelt sich um von Witzenmann nicht durchgesehene Vortragsmanuskripte. Der Herausgeber schweigt auch über die Herkunft dieser "Vortragsmanuskripte", und ob sie bearbeitet worden sind.)

Siehe auch

Weblinks

  • Interview mit Götz Rehn, Herausgeber einiger Schriften Witzenmanns zur Sozialorganik (forum-dreigliederung.de/Werner Breimhorst)

Literatur

  • Herbert Witzenmann: Sozialorganik, Ideen zu einer Neugestaltung der Wirtschaft, Gideon Spicker Verlag 1998 (zwei Vorträge und zwei Texte aus den Jahren 1976 bis 1982)
  • Herbert Witzenmann: Der Gerechte Preis, Eine Grundfrage des sozialen Lebens, drei Vorträge 14. - 15. Dezember 1974, Gideon Spicker Verlag 1993, (2. Aufl. 2005), ISBN 3857041641
  • Herbert Witzenmann: Die 'Philosophie der Freiheit' als Grundlage sozialästhetischer Gestaltung, Arlesheim 1979, (Tagungsbericht, Tagungsvorträge)
  • Herbert Witzenmann: Geldordnung als Bewusstseinsfrage, Gideon Spicker Verlag, 1995, ISBN 3857042273, (Vorträge/Texte aus den Jahren 1984 und 1985: Dynamische Geldfunktion. Ein sinnhaltiges Organissationskriterium zur Unterscheidung positiver und negativer Geldwirkungen - Geldordnung als Bewußtseinsfrage - Die monetäre Dreigliederung - Dreigliedrige Assoziationsgestaltung und dynamische Geldordnung)
  • Herbert Witzenmann: Vom vierfachen Quell lebendigen Rechts, Gideon Spicker Verlag, 3. völlig umgearbeitete und ergänzte Aufl. 1984, ISBN 978-3-85704-195-2, Verlagsauskunft
  • Herbert Witzenmann: Gestalten oder Verwalten. Rudolf Steiners Sozialorganik - ein neues Zivilisationsprinzip, Gideon Spicker Verlag, 2. umgearb. u. erw. Aufl. 1986
  • Herbert Witzenmann: Die Kunst als Muttersprache der Menschheit, Gideon-Spicker-Verlag, 2008, ISBN 3857042044, (3 Vorträge aus dem Jahr 1977), herausgegeben von der Herbert Witzenmann Stiftung, Pforzheim, mit einem Vorwort von Rosemarie Rist
  • Rudolf Steiner: Nationalökonomischer Kurs, GA 340 (2002), ISBN 3-7274-3400-7 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
  • Rudolf Steiner: Nationalökonomisches Seminar, GA 341 (1986), ISBN 3-7274-3410-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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