Perspektivenübernahme

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Als Perspektivenübernahme wird in der Psychologie die Fähigkeit bezeichnet, sich in das seelische Innenleben anderer Menschen hineinzuversetzen und die Welt von deren Standpunkt aus zu betrachten.

Ein mehr oder weniger bewusstes gefühlsmäßigen Verständnis anderer Menschen konnte sich erst in der griechisch-lateinischen Zeit entwickeln, nachdem die sich Verstandes- und Gemütsseele auszubilden begonnen hatte. Dabei trennte sich zunächst der Wille als eigenständige Seelenkraft von dem noch eng miteinander verwobenen Denken und Fühlen ab.

Heute, im Zeitalter der Bewusstseinsseele, haben sich bereits auch Denken und Fühlen stark voneinander geschieden. Daher kann heute zwischen einer mehr kognitiven und einer mehr gefühlsmäßigen bzw. emotionalen Perspektivenübernahme differenziert werden. Erstere ermöglicht es die Gedanken und Motive anderer Menschen mehr oder weniger nüchtern und emotionslos zu verstehen, letztere bildet die Grundlage des Mitgefühls. Für ein gesundes soziales Leben ist es unabdingbar, das diese beiden Teilfähigkeiten im ausgewogenen Gleichgewicht miteinander stehen.

Wie alle bewussten Seelenfähigkeiten hat auch die Perspektivenübernahme eine physische Grundlage, da der physische Leib gleichsam als Spiegelungsapparat wirkt, um das Seelenleben ins Bewusstsein zu heben. Diese Grundlage wird heute allerdings zumeist nur einseitig im Nerven-Sinnes-System gesucht, das aber nur nur die physische Basis für die bewusste Denk- und Vorstellungstätigkeit zuständig ist. Das Fühlen stützt sich hingegen auf das rhythmische System, also vornehmlich auf Atmung und Blutkreislauf. Die Erkenntnis der Dreigliederung des menschlichen Organismus und deren Bedeutung für das Seelenleben des Menschen wurde von Rudolf Steiner erstmals 1917 in seiner Schrift «Von Seelenrätseln» (GA 21) dargestellt.

In den Neurowissenschaften wird seit der Entdeckung der Spiegelneuronen durch Giacomo Rizzolatti und seinen Mitarbeitern 1992[1] im prämotorischen Cortex (Areal F5) und später auch im unteren Parietallappen (Scheitellappen) von Makaken diskutiert, welche Bedeutung die Spiegelneuronen für das Lernen durch Nachahmung, die Kommunikation und sogar für die Fähigkeit der Empathie bei Primaten und insbesondere auch beim Menschen haben[2].

„Etliche empirische Belege aus einer Vielzahl verschiedener bildgebender Verfahren zeigen, dass das System der Spiegelneuronen nicht nur bei Affen existiert, sondern auch beim Menschen. Das System scheint beim Menschen jedoch wesentlich stärker generalisiert zu sein und nicht von konkreten Wechselwirkungen zwischen Gegenständen und Handlungsorganen abzuhängen. Infolgedessen kann es eine deutlich größere Bandbreite an Handlungen darstellen, als das bei Affen der Fall ist. Insbesondere hat die Forschung mittlerweile Spiegelneuronensysteme entdeckt, die ganz ähnliche Effekte für Gefühle, für die Schmerzwahrnehmung und andere körperliche Empfindungen erzeugen können. Wenn man Testpersonen beispielsweise Bilder von traurigen Gesichtern zeigt, schätzen sie sich hinterher häufig trauriger ein als vorher – und zeigt man ihnen glückliche Gesichter, schätzen sie sich selbst in der Regel als glücklicher ein. Viele empirische Daten zeigen übereinstimmend, dass wir, wenn wir andere Menschen dabei beobachten, wie sie Gefühlszustände ausdrücken, diese Zustände mit Hilfe derselben neuronalen Netze in unserem Gehirn simulieren, die auch aktiv sind, wenn wir diese Gefühle gerade selbst empfinden oder ihnen Ausdruck verleihen.[3]“ (Lit.: Metzinger, S. 232)

Grundsätzlich kritisiert wurde das Spiegelneuronenkonzept von Patricia Churchland. So komplexe Dinge wie die Absichten anderer könnten nur durch mindestens ebenso komplexe neuronale Netzwerken repräsentiert werden, nicht jedoch durch einzelne Neuronen[4].

Siehe auch

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Einzelnachweise

  1. G. di Pellegrino, L. Fadiga, L. Fogassi, V. Gallese, G. Rizzolatti: Understanding motor events: a neurophysiological study, in: Experimental brain research. Band 91, Nummer 1, 1992, ISSN 0014-4819, S. 176–180, PMID 1301372.
  2. F. de Vignemont, T. Singer, The Empathic Brain: How, When, and Why?, in: Trends Cog. Sci. 10 (2006), S. 435 – 441.
  3. V. Gallese: Intentional Attunement: A Neurophysiological Perspective on Social Cognition and Its Disruption in Autism, in: Brain Res. 1079 (2006), S. 15 – 24
  4. Patricia S. Churchland: Braintrust: What Neuroscience Tells Us about Morality. Princeton University Press 2011, 288 S. ISBN 978-0691137032, S. 142