Linguistischer Idealismus

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Linguistischer Idealismus ist weniger die Selbstbeschreibung einer philosophischen Position, sondern eher Titel von kritischen Vorhaltungen, daß ein mit einer bestimmten Position verbundener Anspruch (oder ein nur generell erhobener Anspruch, daß jede Philosophie solchem Anspruch genügen solle), Wissen von Realem realistisch, d.h. empirisch bewährt, (mit) zu begründen, nicht eingelöst sei.

Folgt man Michael Dummett, war die linguistische Wende (linguistic turn) in der Philosophie eine Antwort auf die Psychologismuskritik Freges und Husserls[1]. Diese Kritik wies die psychologistische Auffassung des menschlichen Denkens u.a. deshalb zurück, weil aus ihr ein selbstwidersprüchlicher Relativismus folge, der keine allgemeingültigen Wahrheiten (wie z.B. logische Gesetze) mehr zuläßt. Da man aber an einer idealistischen Auffassung des Denkens und der Wirklichkeit im Sinne eines Platonismus, des klassischen deutschen Idealismus oder des Neukantianismus u.ä. nicht festhalten konnte oder wollte, verlegte man sich auf die Sprache als den Garant für allgemeingültige Erkenntnis, die von psychologischen Prozessen unabhängig ist.

„Eine weitere Verschärfung des linguistic turn stellte der linguistische Idealismus dar. Demnach ist die sprachunabhängige Welt vollkommen strukturlos. Die Sprache mit ihrer logisch-propositionalen Struktur bringt erst die Form der Tatsachen und eine Struktur in diese Welt hinein. Diese These wurde vom späten Wittgenstein, Nelson Goodman, Richard Rorty, Ernst Tugendhat und den Transzendentalpragmatikern um Karl-Otto Apel vertreten, aber sie war nicht auf die analytische Philosophie beschränkt, sondern wurde auch vom späten Heidegger, Gadamer sowie den französischen Strukturalisten und Poststrukturalisten propagiert.“ (Lit.: Thomas Grundmann, zitiert aus: Information Philosophie, Heft 4/2016, S. 28-38: Das Ende des „linguistic turn“? (s. Weblink))

Die Bezeichnung "linguistischer Idealismus"

„ist unter der Bedingung zutreffend, dass man unter "Idealismus" (wie weithin üblich) eine Position versteht, die aus Hegels Sicht bloß einen "subjektiven Idealismus" darstellt. Das markiert zugleich den wunden Punkt der Konzeption.

Zwar handelt es sich bei der linguistischen Position gewiss nicht in jeder Hinsicht um einen Idealismus der alten Art. Davor ist sie durch ihren Ausgang von der Sprache bewahrt, der in bewusster Oppostion zum idealistisch üblichen Ausgang vom Denken gewählt wurde. Dennoch sind die Folgen des neuen Ansatzes denen des alten auffallend gleich. Wie der traditionelle Idealismus alles Sein an Denkbedingungen gekoppelt und für ein Phänomen im Horizont des Denkens erklärt hatte, so bindet der linguistische Idealismus alles an Sprachbedingungen und erklärt es für ein sprachlichen Bedingungen unterliegendes Phänomen. Wie ehedem das Denken den transzendentalen Rahmen gebildet hatte, so nun die Sprache. Die Gegenstände geraten jetzt mit gleicher Konsequenz unter das Diktat von Sprachbedingungen, wie sie zuvor unter dem von Denkbedingungen gestanden hatten. Aber nicht nur diese Konsequenz, sondern auch das dafür verantwortliche Verfahren ist dem traditionellen subjektiven Idealismus analog: das Wirkliche wird nach Maßgabe von Bedingungen verstanden, die in unserer Verfassung ihren Anhalt und von uns ihren Ausgang haben, nur dass dies im älteren Fall noetische Bedingungen sein sollten und nunmehr sprachliche Bedingungen sind. Diese beiden Aspekte rechtfertigen die Bezeichnung der linguistischen Position als "linguistischer Idealismus".“ (Lit.: Wolfgang Welsch: Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie, S. 117)

Siehe auch

Sprachlicher Idealismus - Artikel in der deutschen Wikipedia

Einzelnachweise

  1. „Die Bedeutung der von Bolzano, Frege, Meinong und Husserl gleichermaßen vertretenen These, daß Gedanken nichts Psychisches sind, liegt nicht in der philosophischen Mythologie, die sich dann daraus entwickelt hat, etwa in Freges Mythos vom "dritten Reich" oder in Husserls Mythos des "idealen Seins". Die Bedeutung dieser These liegt vielmehr darin, daß die Analyse von Begriffen und Propositionen dadurch in eine nicht psychologische Richtung gelenkt wird. Es ist allerdings auch ganz klar, wieso sie zur Entstehung der analytischen Philosophie führt, zur Analyse des Gedankens mittels einer Analyse der Sprache. Denn wenn man den ersten Schritt - die Verstoßung der Gedanken und ihrer Bestandteile aus dem Bewußtsein - akzeptiert, kann es dennoch sein, daß einem nicht wohl ist angesichts der ontologischen Mythologie, die, wie wir gesehen haben, schon bei Frege in einem gewissen Spannungsverhältnis steht zu seinen detaillierten und spezifischen Sinnerklärungen. Wer sich in dieser Verlegenheit befindet, muß sich daher umsehen, um etwas ausfindig zu machen, was zwar nicht mythologisch, aber objektiv und dem Einzelbewußtsein äußerlich ist und die Gedanken enthält, die das jeweilige Subjekt faßt oder bejahen oder ablehnen kann. Welchen besseren Fundort soll es schon geben als die Institution einer gemeinsamen Sprache? Die Zugänglichkeit der Gedanken wird dann in der Möglichkeit ihres sprachlichen Ausdrucks liegen, ihre Objektivität und Unabhängigkeit von inneren Bewußtseinsvorgängen in der gemeinsamen Praktik des Sprechens der Sprache, die geregelt wird durch die in der Sprachgemeinschaft bestehende Übereinstimmung in Bezug auf Maßstäbe der richtigen Verwendung und durch Kriterien für die Wahrheit der Aussagen. Ist der von Bolzano und anschließend von Frege, Meinong und Husserl vollzogene Anfangsschritt, durch den die Gedanken aus der Innenwelt der Bewußtseinserlebnisse verstoßen werden, erst einmal getan, ist der zweite Schritt - die Auffasssung, wonach die Gedanken durch die Sprache nicht nur übertragen, sondern erzeugt werden - praktisch kaum zu vermeiden.“ (Lit.: Michael Dummet, Ursprünge der analytischen Philosophie, S. 36f.)

Literatur

  • Wolfgang Welsch: Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie, Akademie Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-05-005269-4
  • Michael Dummett: Ursprünge der analytischen Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997

Weblinks