Corpus Hermeticum

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Deckblatt Corpus Hermeticum 1643 (Ausg. F. Patricius)

Das Corpus Hermeticum, nach dem Titel des ersten Textes auch Poimandres (griech. Ποιμάνδρης „Menschenhirte“, von ποιμήν poimén „Hirte, Schäfer“ und ἀνήρ anēr „Mann, Mensch“; altägypt. Peime-nte-rê „Weisheit des Re“) genannt, ist eine Sammlung von griechischen Traktaten in Brief-, Dialog- und Predigtform über die Entstehung der Welt, die Gestalt des Kosmos sowie menschliche und göttliche Weisheit. Als Verfasser galt schon in der Antike Hermes Trismegistos, dem eine Vielzahl von religiösen, astrologischen und magischen Schriften zugeschrieben wurde.

Entstehung

Das Corpus Hermeticum entstand zwischen 100 und 300 n. Chr., die Autoren dürften Griechen gewesen sein, die populäres philosophisches Gedankengut der Epoche verarbeiteten, „eine Mixtur aus Platonismus und Stoizismus, kombiniert mit jüdischen und möglicherweise einigen persischen Elementen“.[1] Umstritten ist, ob die eingeflochtenen Elemente ägyptischer Mysterien auf die Beteiligung ägyptischer Neuplatoniker hinweisen, oder ob es sich um reine Fiktion handelt, die auf die zeittypische Begeisterung für orientalische Kulte abzielte.

Weitere erhaltene Hermetica sind der Asclepius, der zusammen mit den Werken des Apuleius von Madaura überliefert wurde, da man diesen für den Übersetzer der verlorengegangenen griechischen Vorlage hielt (koptische Fragmente hiervon fanden sich auch in der Nag Hammadi Bibliothek, Kodex VI,8) und eine sehr populäre astrologische Aphorismensammlung mit dem Titel Centiloquium Hermetis, von der über 80 Manuskripte sowie mehrere Drucke aus dem Zeitraum zwischen 1484 und 1533 erhalten sind. Hinzu kamen die Tabula Smaragdina Hermetis, die großen Einfluss auf die Alchemie hatte, und das astralmagische Handbuch Picatrix; zwei hellenistische Schriften, die im islamischen Kulturkreis tradiert und im Mittelalter aus dem Arabischen übersetzt wurden.

Inhalt

Das Corpus Hermeticum enthält Traktate in Brief-, Dialog- und Predigtform. Sie beinhalten Einflüsse der ägyptischen und orphischen Mysterien, neuplatonische Gedanken von Reinkarnation, Ekstase, Reinigung, Opfer und mystische Vereinigung mit Gott. Es gliedert sich traditionell in 18[2] Traktate:

Nr. Titel (deutsch) Titel (Ficino)
I. Der Menschenhirte des Dreimal-Großen Hermes Pimander
II. Das Allgemeine Gespräch Mercurii ad Aesculapium sermo universalis
III. Die Heilige Rede Mercurii sermo sacer
IV. Der Mischkrug oder die Eins Mercurii ad Tatium crater sive monas
V. Der verborgene Gott ist völlig offenbar Mercurii Ad tatium Filium suum. Quod deus Latens simul ac patens est.
VI. Das Gute ist Gott allein und nirgends Anderswo Quod in solo deo bonum est alibi vero nequaquam
VII. Das Größte Übel für die Menschen ist die Unwissenheit in Göttlichen Dingen Quod summum malum hominibus ignorare deum
VIII. Nichts geht verloren von Allem, was ist: die Menschen irren, wenn sie Umwandlung Untergang und Tod nennen Nihil eorum Quae sunt interitus sed mutationes: Decepti Homines interitum nominant
IX. Vom Denken und Wahrnehmen
X. Der Schlüssel Mercurii Trismegisti clavis ad Tatium
XI. Der Geist an Hermes Mens ad mercurium
XII. Hermes der Dreimal-Große an Tat Mercurii ad Tatium de communi
XIII. Über die Wiedergeburt und das Gebot des Schweigens Mercurii ad tatium Filium suum de generatione & impositione silentii
XIV. Hermes der Dreimal-Große an Asklepius Mercurii ad Aesculapium
XV. Brief des Hermes an Asklepius
XVI. Rede des Asklepius an König Ammon
XVII. Bruchstück einer Rede von Asklepius an den König
XVIII. Preis der Könige

Die rechte Spalte enthält die von Marsilio Ficino in seiner lateinischen Übersetzung für die einzelnen Traktate verwendeten Titel. Die lateinischen Titel für die Traktate XV bis XVIII fehlen, da in dem Ficino vorliegenden Texte nur die Traktate I bis XIV enthalten waren.

Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte

Das besondere Ansehen des Corpus Hermeticum beruhte auf dem Glauben, dass es sich um Zeugnisse uralten Wissens handle, da man den sagenhaften Verfasser zumindest für einen Zeitgenossen des Moses hielt, womöglich sogar für einen Vorgänger. Diese Ansicht wurde gestützt durch Cicero, der in De natura deorum einen ägyptischen Merkur mit dem Gott Thot identifizierte, der den Ägyptern lange vor den Griechen und Römern die Schrift und Gesetze gebracht hätte:

Der fünfte Merkur wird von den Einwohner Pheneums verehrt. Man sagt, er habe Argus erschlagen und sei deshalb nach Ägypten geflohen und habe den Ägyptern Gesetze und die Schrift gebracht. Diesen nennen die Ägypter Thot und mit demselben Namen bezeichnen sie den ersten Monat des Jahres. (Cicero, De natura deorum III, 22, 56) [3]

In seinem apologetischen Werk Divinarum institutionum libri VII (304-311/326) versucht Lactantius, die Wahrheit des Christentums anhand der Schriften heidnischer Dichter, Philosophen und „göttlicher Zeugen“ zu untermauern. Hierbei nimmt Hermes Trismegistos noch vor den Sibyllen und den apollinischen Orakeln eine prominente Rolle ein. Lactantius zitiert Ciceros Textpassage über den ägyptischen Mercurius und führt diesen daraufhin als Zeugen für die Existenz des einen höchsten Gottes an, womit nicht nur Autorität und Alter der hermetischen Schriften für die kommenden Jahrhunderte beglaubigt wird, sondern auch der Weg für eine christliche Interpretation des C.H. gebahnt ist:

Nun gehen wir zu den Zeugnissen göttlichen Ursprungs über. Aber zuerst führe ich eines an, das den göttlichen gleich ist, sowohl aufgrund seines großen Alters, als auch weil der, den ich nennen werde, von den Menschen zu den Göttern erhoben wurde. [...] Dieser war, obwohl ein Mensch, von hohem Alter und in allen Wissensgebieten höchst beschlagen, so dass er sich aufgrund seiner Vortrefflichkeit und Bewandertheit in vielen Künsten den Beinamen der „Dreimalgrößte“ erworben hat. Er schrieb Bücher, und zwar in großer Zahl, die sich der Erkenntnis göttlicher Dinge widmen. In diesen erklärt er die Herrlichkeit eines höchsten und einzigen Gottes und benennt ihn mit denselben Namen wie wir: Herr und Vater. (Lactantius, Div. inst. I, 6, 1 und 3-5) [4]

Im Mittelalter war das Corpus Hermeticum vor allem durch die Kirchenväter Laktanz (Div. inst. I, 6, 1-5; De ira Dei XI), Augustinus (De civ. Dei VIII, 23-26) und Clemens von Alexandria (Stromata VI, 4, 35-38) in Auszügen bekannt, der vollständige Text wurde allerdings erst greifbar, als gegen 1460 ein Mönch im Dienst des Cosimo de Medici ein griechisches Manuskript nach Florenz brachte (Laurentianus LXXI 33 (A)). Mit der Übersetzung wurde Marsilio Ficino im Jahr 1463 beauftragt, sie wurde im Folgejahr fertiggestellt und 1471 erstmals als Pimander (eigentlich der Titel des ersten Traktats) gedruckt. In seiner Vorrede an den Auftraggeber Cosimo de Medici fasst Ficino die antiken und patristischen Quellen zu Hermes noch einmal zusammen und konstruiert eine Tradition ursprünglicher und ungeteilter Weisheit, die auch bereits alle wesentlichen Elemente des Christentums einschloss und erst später verunklart wurde und in verschiedene Disziplinen zersplitterte (insofern könnte Ficinos Werk mit seinen medizinischen, magischen und theologischen Schriften als Versuch angesehen werden, die alte Einheit wiederherzustellen):

Dieser stand nämlich in Scharfsinn und Gelehrsamkeit allen Philosophen voran. Als Priester hat er zudem die Grundlagen für ein heiligmäßiges Leben gelegt und übertraf in der Verehrung des Göttlichen sämtliche Priester. Schließlich übernahm er die Königswürde und verdunkelte durch seine Gesetzgebung und Taten den Ruhm der größten Könige. Daher wurde er zurecht der dreimal Größte genannt. Als erster unter den Philosophen wandte er sich von Naturkunde und Mathematik der Erkenntnis des Göttlichen zu. Als Erster diskutierte er voller Weisheit über die Herrlichkeit Gottes, die Ordnung der Dämonen und die Wandlungen der Seele. Daher nennt man ihn den ersten Theologen. Ihm folgte Orpheus, der in der ursprünglichen Theologie den zweiten Platz einnimmt. In die Mysterien des Orpheus wurde Aglaophemus eingeweiht. Aglaophemus folgte in der Theologie Pythagoras nach, diesem wiederum Philolaos, der Lehrer unseres göttlichen Platon. Daher gibt es eine in sich stimmige Lehre der ursprünglichen Theologie, die in wundersamer Ordnung aus diesen sechs Theologen erwachsen ist, ausgehend von Merkur und durch den göttlichen Platon vollendet. (Ficino 1493, fol. a verso) [5]

Dieser Auffassung, wie sie für den Renaissance-Neoplatonismus und die Hermetiker des 15.-17. Jahrhunderts charakteristisch ist, wurde durch die Exercitationes von Isaac Casaubons im Jahr 1614 der Boden entzogen, auch wenn es über ein Jahrhundert, dauern sollte, bis der Glaube an den ägyptischen Weisen weitgehend aufgegeben wurde; viele Esoteriker halten allerdings bis heute daran fest. Stil und Wortwahl lassen nach Casaubon keine Datierung auf die Zeit des Moses zu, sondern weisen auf hellenistische Verfasser hin. Darüber hinaus identifiziert er Zitate und Anspielungen aus griechischer und christlicher Literatur, die eine Entstehung vor dem 2. Jahrhundert ausschließen. Sein Urteil (das noch einmal zeigt, wie prägend die fast dreizehn Jahrhunderte währende christliche Sicht auf das Corpus Hermeticum ist) lautet schließlich: das Corpus Hermeticum hat nichts mit ägyptischen Altertümern zu tun sondern ist eine christliche Fälschung, die der Heidenmission dienen sollte.[6]

Ausgaben

  • A. D. Nock (Hrsg.) / André Marie-Jean Festugière (Übers.): Hermès trismégiste. 4 Bde. Paris 1945 u. 1954. ISBN 2251001352. Griechischer und lateinischer Text mit französischer Übersetzung. Bis heute maßgebliche Textausgabe.
  • Carsten Colpe / Jens Holzhausen: Das Corpus Hermeticum. Übersetzung, Darstellung und Kommentierung. 3 Bde. (2 erschienen) Frommann-Holzboog , Stuttgart-Bad Cannstatt 1997ff. ISBN 3772815308. Deutsche Übersetzung.
  • Folker Siegert (Hrsg.) / Karl-Gottfried Eckart (Übers.): Das Corpus Hermeticum einschließlich der Fragmente des Stobaeus. LIT, Münster 1999. ISBN 3-8258-4199-5. Deutsche Übersetzung.
  • Maria Magdalena Miller: Die Traktate des Corpus Hermeticum. Novalis Media, Schaffhausen 2004. ISBN 3-907260-29-5. Deutsche Übersetzung der Traktate I bis XVII und des Asklepius.

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. F. Yates: Giordano Bruno and the hermetic tradition, S.3.
  2. Gliederung und Abschnittszählung nach G. R. S. Mead: Thrice-Greatest Hermes. London 1906. (andere Autoren fassen die Traktate XV und XVI zusammen)
  3. Mercurius ... quintus, quem colunt Pheneatae, qui Argum dicitur interemisse ob eamque causam in Aegyptum profugisse atque Aegyptiis leges et litteras tradidisse: hunc Aegyptii Theyt appellant eodemque nomine anni primus mensis apud eos vocatur.
  4. Nunc ad diuina testimonia transeamus. Sed prius unum proferam, quod est simile diuino et ob nimiam uetustatem et quod is quem nominabo ex hominibus in deos relatos est. [...] Qui tametsi homo fuit, antiquissimus tamen et instructissimus omni genere doctrinae adeo ut ei multarum rerum et artium scientia Trismegisto cognomen imponeret. Hic scripsit libros et quidem multos ad cognitionem diuinarum rerum pertinentes, in quibus maiestatem summi ac singularis Dei asserit, isdemque nominibus appellat quibus nos dominum ac patrem.
  5. Ille igitur quemadmodum acumine atque doctrina: philosophis omnibus antecesserat: sic sacerdos inde constitutus sanctimonia vita: diuinorumque cultu: universis sacerdotibus praestitit: ac demum adeptus regiam dignitatem: administratione legum rebusque gestis superiorum regum gloriam obscurauit: ut merito ter maximus fuerit nuncupatus. Hic inter philosophos primus: physicis ac mathematicis ad diuinorum contemplationem se contulit. Primus de maiestate dei: demonum ordine: animarum mutationibus sapientissime disputauit. Primus igitur theologiae appellatus est auctorum sequutus Orpheus secundas antiquae theologiae partes obtinuit. Orphei sacris initiatus est Aglaophemus. Aglaophemo successit in theologia Pytagoras quem philolaus sectatus est diui Platonis nostri praeceptor. Itaque una priscae theologiae undique sibi consona secta ex theologis sex. miro quodam ordine conflata est exordia sumens a Mercurio. a diuo Platone penitus absoluta.
  6. Isaac Casaubon: De rebus sacris et ecclesiasticis exercitationes XVI. Ad Cardinalis Baronii Prolegomena in Annales. London 1614. S. 70-87.
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