Metallfühlerin

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Die Metallfühlerin ist eine Gestalt aus Goethes Roman «Wilhelm Meisters Wanderjahre». Sie begleitet Montan bei seinen geologischen Untersuchungen. Ihr geistiger Blick ist für die Tiefen der Erde geöffnet und spricht von den Geheimnissen der Metalle. Sie bildet damit den Gegenpol zu Makarie, für deren Bewusstsein der ganze Kosmos gegenwärtig ist.

„Da tritt diese merkwürdige Gestalt in Goethes «Wilhelm Meister» auf, Makarie, eine gereifte weibliche Persönlichkeit, die durch ihr kränkliches, krankhaftes Sein wenig mehr zusammenhängt mit dem irdischen Leben, die sozusagen sich ganz herausgehoben hat aus dem irdischen Leben, die kaum mehr viel sich bewegt innerhalb der irdischen Räumlichkeiten, die verehrt wird von allen, die um sie herum sind, von allen Familiengliedern im engeren, aber auch im weiteren Sinne, und die dadurch, daß sie unabhängig geworden ist von dem Irdischen, ein merkwürdiges kosmisches Leben entwickelt. Und dieses kosmische Leben, das Goethe so schildert, wie wenn Makarie mitlebte mit den Eigentümlichkeiten der Sterne, nicht mit den Eigentümlichkeiten der Erde, das führt dazu, daß sozusagen alle physische Weltenbetrachtung aus dem Geiste, aus der Seele Makariens verschwindet und sie ganz den kosmischen Gesetzmäßigkeiten hingegeben ist. Aber je mehr sie sich den kosmischen Gesetzmäßigkeiten hingibt, desto mehr hören die irdischen Naturgesetze auf, für sie eine Bedeutung zu haben, desto mehr verwandeln sich die Naturgesetze in kosmische Moralgesetze. Sie wird zur moralischen Autorität für alle, die sie kennenlernen. Und sie vertritt nicht eine Moralität, die auf Geboten beruht, nicht irgendeine Moralität, die von der oder jener Seite entlehnt ist, sondern sie vertritt eine Moralität, die dem Menschen, wenn er sich vom Irdischen frei macht, aber es noch hat, so erscheint, als ob sie von den Sternen selber in ihrem Gange geoffenbart würde. Und was auf diese Weise Makarie mit ihrer Sternenschau für ihre Umgebung verkündet, das interpretiert ihr Freund, der Astronom, der aber jetzt der Schüler der Seherin in den kosmischen Welten wird.

Goethe hat nur in einer fein sublimierten Weise dasjenige, was Sie sich noch für das erste Drittel des 19. Jahrhunderts überall lebend vorzustellen haben, in einer höheren Gesellschaftsklasse dargestellt. Man muß sich zum Beispiel vorstellen, daß es in dieser Zeit immerhin noch, zerstreut allerdings, Familien gab, welche Familienmitglieder hatten, weibliche Familienmitglieder, die von einem bestimmten Alter an einfach nicht mehr fähig waren, sich auf der Erde zu bewegen, die bettlägerig wurden, deren Haut weiß und durchsichtig wurde, die durch die weiße, durchsichtig gewordene Haut interessant verlaufendes blaues Geäder bis an die Oberfläche ihres Leibes zeigten, die selten sprachen. Wenn sie aber sprachen, dann horchten alle, die in der Umgebung waren, sorgfältig auf das, was gesprochen wurde, denn dann erwiesen sich diese weiblichen Persönlichkeiten als solche Seherinnen, wie Goethe sie nur typisiert herausgehoben hat in seiner Makarie. Und man findet immerhin in dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa überall Sagenkreise. Da wird erzählt: Dort und dort, in jenem Orte liegt eine solche Seherin; sie hat dieses oder jenes aus ihrer prophetischen Gabe heraus gesprochen. - Und solche Dinge wurden weit in den Gegenden herumgetragen. Und sie wurden mit jener Poesie herumgetragen, die möglich war in der menschheitlichen gesellschaftlichen Ordnung, als es noch keine Zeitungen gab, denn die Zeitungen haben ja im wesentlichen zur Vernichtung des Geisteslebens ein Ungeheures beigetragen. So läßt also Goethe in seiner Makarie eine solche Gestalt auftreten. Und nun steht an einer bestimmten Stelle der «Wanderjahre» dieser Makarie entgegen die Metallfühlerin. Ihr Freund ist Montanus. Die Metallfühlerin fühlt ebenso, was im Innern der Erde vorgeht, also, ich möchte sagen, ganz und gar das Geistige der irdischen Natur. Sie weiß von den Geheimnissen der Metalle der Erde zu sprechen, sie weiß davon zu sprechen, wie die einzelnen Metalle auf den Menschen wirken. Und Montanus interpretiert dieses, was bei der Metallfühlerin geschieht, ebenso, wie der Astronom dasjenige interpretiert, was durch Makarie geoffenbart wird.

So hat Goethe in einer außerordentlich interessanten Weise der kosmischen Seherin gegenübergestellt diese Metallfühlerin, welche die Geheimnisse der Erde durch ihre besondere Organisation - wiederum eine etwas krankhafte Organisation - enthüllt. Goethe zeigt, daß er dasjenige, wodurch der Mensch tüchtig ist, wodurch der Mensch vor allen Dingen seine Taten auf der Erde ausführen kann, weder bei denen sucht, die nach der einen Seite im Kosmos leben, noch bei den anderen, die nach der andern Seite im Innern der Erde leben. Er sucht das, was den Menschen für das Erdenleben tüchtig macht, da, wo der Mensch von beiden Fähigkeiten in seinem Bewußtseinszustand nichts weiß, wo sie unbewußt hereinwirken, diese beiden Fähigkeiten, wo aber, wie im Waagebalken, ein Ausgleich zwischen beiden ist.

Goethe weiß nicht, was da zugrunde liegt. Aber er fühlt selber - aus dem Festhalten einer alten Bildung fühlt er es -, wie diese beiden Lebensextreme, Geistesextreme, aufeinander wirken und eigentlich den Menschen zum rechten Menschen machen, wenn sie nicht einseitig eines oder das andere wirken, sondern wenn sie beide mit ihrer Eigenart verschwinden, aber zusammenwirken und ein Gleichgewicht in der menschlichen Natur bewirken.

Heute, wo wir vom Standpunkte der Anthroposophie aus sprechen können, können wir sagen: Da haben wir zunächst im Menschen den oberen Menschen, den Nerven-Sinnes-Menschen; da haben wir den mittleren Menschen, den rhythmischen Menschen, und da haben wir den unteren Menschen, den Stoffwechsel-Gliedmaßen-Menschen. Überwiegt beim Menschen der obere Mensch, gleicht er sich nicht mit dem unteren Menschen aus, dadurch daß gewissermaßen durch eine krankhafte Entwickelung, wie bei Makarie, der ganze Stoffwechsel-Gliedmaßen-Mensch in eine Art Erstarrung verfallen ist, in eine solche Erstarrung, die noch nicht das Leben nimmt, die aber den Menschen unfähig macht, in der irdischen Räumlichkeit sich zu bewegen, überwiegt also in einer solchen Persönlichkeit das Geschehen im Kopfe, dann wird der Mensch zum kosmischen Schauer, zum kosmischen Seher. Tritt wie bei der Metallfühlerin die Nerven-Sinnes-Organisation zurück und bildet sich besonders bedeutsam das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System aus, dann lebt der Mensch vorzugsweise mit dem Irdischen, dann lebt er mit den Kräften, mit den Wirksamkeiten der Metalle der Erde, der Mineralien der Erde. Und im mittleren Menschen ist der Ausgleich.

So wollte Goethe eigentlich an dieser Stelle seines sozialen Romanes «Wilhelm Meisters Wanderjahre» andeuten, wie nach dem Menschlichen gesucht wurde in Mitteleuropa, wie der Mensch auf der einen Seite nach dem Kosmos, auf der andern Seite nach dem Irdischen gegliedert wurde und wie das rechte Menschentum in dem Ausgleich zwischen beiden besteht.

Über diesen Ausgleich zwischen Astrologie nach oben, Alchimie nach unten wurde viel, viel gesonnen. Und wenn einzelne solche Gestalten herausragen, wie der Paracelsus, wie der Faust, die von Ort zu Ort gezogen sind, um die Leute zu überraschen mit dem, was sie als Sinnierer wußten von diesen Geheimnissen, so daß die Leute aufhorchten auf das, was der Mensch über den Menschen wissen kann, wenn einzelne solche bedeutsame Persönlichkeiten heraustraten, so waren diese aber nicht die einzigen. Kleine Paracelsusse, kleine Fauste gab es überall, die nur nicht so weit wanderten, die ein kleineres Territorium hatten. Und was heute wiederum in den Geheimnissen der Wünschelrute erkundet wird, das war etwas, was dazumal durchaus gang und gäbe war.“ (Lit.:GA 225, S. 88ff)

Goethe charakterisiert die Metallfühlerin im 14. Kapitel des 3. Buches so:

„Was jedoch weniger allgemein, obgleich unbegreiflich und wunderseltsam, zur Sprache kam, war die gelegentliche Eröffnung Montans, daß ihm bei seinen gebirgischen und bergmännischen Untersuchungen eine Person zur Seite gehe, welche ganz wundersame Eigenschaften und einen ganz eigenen Bezug auf alles habe, was man Gestein, Mineral, ja sogar was man überhaupt Element nennen könne. Sie fühle nicht bloß eine gewisse Einwirkung der unterirdisch fließenden Wasser, metallischer Lager und Gänge, sowie der Steinkohlen und was dergleichen in Massen beisammen sein möchte, sondern, was wunderbarer sei, sie befinde sich anders und wieder anders, sobald sie nur den Boden wechsele. Die verschiedenen Gebirgsarten übten auf sie einen besondern Einfluß, worüber er sich mit ihr, seitdem er eine zwar wunderliche, aber doch auslangende Sprache einzuleiten gewußt, recht gut verständigen und sie im einzelnen prüfen könne, da sie denn auf eine merkwürdige Weise die Probe bestehe, indem sie sowohl chemische als physische Elemente durchs Gefühl gar wohl zu unterscheiden wisse, ja sogar schon durch den Anblick das Schwerere von dem Leichtern unterscheide. Diese Person, über deren Geschlecht er sich nicht näher erklären wollte, habe er mit den abreisenden Freunden vorausgeschickt und hoffe zu seinen Zwecken in den ununtersuchten Gegenden sehr viel von ihr.“

Johann Wolfgang Goethe: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 8, Hamburg 1948 ff, S. 443 [1]

Literatur

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